Buchkritik „Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf“ von Jean-Philippe Kindler

Inzwischen ist Jean-Philippe Kindler in der linken Szene und darüber hinaus eine bekannte Figur. Auf ihn gestoßen bin ich durch die Podcast-Empfehlung für „Nymphe & Söhne“, einen kurzweiligen Labber-Podcast, der auch davon lebt, dass Kritik und Unwohlsein mit Alltag, Geschlechter-Rollen aber auch eben Kritik an der linken Szene von allen drei Podcast-Beteiligten offen formuliert wird. Kindler hat aus seinen verschiedenen Kritikpunkten und einer allgemeinen Gesellschaftskritik das Buch „Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf“ geformt.
Auf über 150 Seiten formuliert der Marxist in einer Art Essay diese Kritik. Für ihn besteht der zentrale Antagonismus in unserer Gesellschaft zwischen Ausbeutenden und Ausgebeuteten. Dass das nicht erkannt wird, führt er auf fehlendes Klassenbewusstsein zurück.
Er selber schreibt: „Dieses Buch aber möchte den Kapitalismus aus dem Unbewusstsein ins Bewusstsein bringen und deutlich machen, dass es dieses gemeinsames Schicksal, welches sich ‚Ausbeutung‘ nennt, auch heute noch gibt.“ (Seite 23)

In seinem Buch formuliert Kindler immer wieder eine weitgehend solidarische Kritik an linken Positionen wie der Identitätspolitik. Damit hebt er sich wohltuend ab von der zynischen Kritik an dieser Politik oder der unkritischen Affirmation.
Interessant ist sein Begriff der „Antipolitik“, womit der die vermeintliche Alternativlosigkeit bezeichnet, die allenthalben behauptet wird.
Außerdem schreibt er von einer „Gesellschaft der Gesellschaftslosen“, also Menschen, die zwar in einer Gesellschaft leben, das aber ignorieren und stattdessen nur ihre individuelle Freiheiten ausleben.

Forderung nach einer Repolitisierung
Kindler möchte „Armut repolitisieren!“. Deswegen wendet er sich gegen eine „Ideologie der Leistung“ und „verheiligte Gewissheiten“ wie das eine Schuldenbremse ökonomisch sinnvoll sei. Um die reaktionäre Kritik an Bürgergeld-Anhebungen zu dekonstruieren vergleicht er sie mit Erbschaften, die er zu Recht als leistungsloses Einkommen sieht.
Kritisch sieht er auch den ideologischer Charakter des Ehrenamts, mit dem oft z.B. Armut abfedert wird. Es geht dabei nicht um eine Kritik an Ehrenamtlichen, sondern an der Funktion des Ehrenamtes. De facto werden nämlich sozialpolitische Leistungen in die Zivilgesellschaft ausgelagert.
Nach seiner Beobachtung stehen Inflation und Schuldenmachen in keinem kausalen Verhältnis zueinander und das führt er überzeugend aus.

Der Autor will auch „Glück repolitisieren!“. In diesem Abschnitt kritisiert die ganzen mal, mehr mal weniger, esoterischen Selbstverbesserungs-Maßnahmen. So genanntes Glückscoaching ist für ihn nur Klassenkampf von oben, da es um eine Veränderung der Seele statt Veränderung der Umstände, die einen krank machen, geht.
Auch das Gerede vom Bruttoinlandsglück analysiert er in diesem Zusammenhang als reaktionär. Denn Glück kann nicht definiert werden, da es ein situatives Gefühl ist.
Kleine Anmerkung des Rezensenten: Das Fürstentum Bhutan gilt als Bruttoinlandsglück-Weltmeister. Bei de Artikeln darüber wird aber nie erwähnt dass die nepalesische Minderheit aus dem autokratisch regierten Land vertrieben wurde, und somit nicht befragt werden konnte. Möglicherweise ist das Glück im Bhutan nicht allen vorbehalten gewesen.
Schlussendlich ist das Streben nach dem individuellen Glück laut Kindler vor allem ein Instrument der neoliberalen Ideologie der Eigenverantwortung.
Kindler hinterfragt in diesem Zusammenhang ideologiekritisch die „groteske Verherrlichung von Achtsamkeit, Meditation und Yoga“.
Ebenso entlarvt er, dass die neue Beschäftigung mit den eigenen Gefühlen und psychischen Dispositionen keineswegs zwingend eine Verbesserung gegenüber der überrationalen älteren Generation darstellen muss, sondern „auf eine bestimmte Weise kulturell fabriziert“ und „für den Kapitalismus nutzbar gemacht“ werden.
Was Kindler allerdings bei seiner Kritik von Menschen mit ihren individuellen Bewältigungsstrategien nicht sieht ist, dass es durchaus Menschen gibt, die sehen und verstehen dass der Kapitalismus – oder das Patriarchat – an vielem Schuld ist, aber es trotzdem als aussichtsvoller ansehen, sich individuell zu helfen als das Glück in einer fernen, utopischen Gesellschaft abzuwarten. Das Ende des Kapitalismus oder des Patriarchats scheint so weit in der Ferne zu liegen, dass es unerreichbar aussieht. Das mag eine Kapitulation vor den Verhältnissen darstellen, ist aber menschlich verständlich. Jemand, die nach schlechten Erfahrungen mit Arbeit und mit Männern durch Meditation zur Ruhe findet, mag Kindler reaktionär vorkommen. Aber das abstrakte „irgendwann ist die Scheiße zu Ende“ scheint vielen als die unwahrscheinlichere Alternative. Bei manchen ist es somit nicht das fehlende Klassenbewusstsein, sondern ein Realismus, der zu individuellen Bewältigungsstrategien führt. Meditation, Yoga, Landkommune, Eigenheim etc. sind einfacher umzusetzen als Kapitalismus oder Patriarchat zu stürzen.
Auch das Thema „bodypositivity“ hinterfragt er, weil er hier den spiegelbildlich verkehrten Schönheits-Wettbewerb in den sozialen Medien erkennt. Statt dem Wettbewerb um den schönsten Körper gibt es einen Wettbewerb darum, wer sich am besten mit seinem normalen Körper arrangiert. Der Körper bleibt dabei aber im Mittelpunkt des Interesses. Stattdessen empfiehlt Kindler weniger über Körper nachzudenken.
Hier mag man aber einwenden dass die meisten Menschen über sexuelles Begehren und romantische Sehnsüchte verfügen und das die Erfüllung von beidem auch in Zusammenhang mit Attraktivität steht. Seinen Körper zu ignorieren bzw. nicht zu optimieren, kann also mit dazu führen dass man am Ende leer ausgeht. Natürlich gibt es noch viele andere Faktoren bei der Partnerin-Suche wie Humor, Charaktereigenschaften etc., aber es spielt eine Rolle. Den Faktor Aussehen oder Körper bei der Partnerin-Wahl kann man weder durch ignorieren noch durch bodypositivity einfach zum Verschwinden bringen. Allerdings reichen schöne Körper alleine nur in asymmetrischen, oberflächlichen oder kurzen Beziehungen aus.

Weiter fordert er die „Klimakrise [zu] repolitisieren!“. In diesem Zusammenhang plädiert er für eine „wohlüberlegte Verbotspolitik“ und kritisiert die Verteidigung des Diesels sei nicht Freiheitskampf sondern Quengeligkeit.

Auch die „Demokratie [will er] repolitisieren!“. Derzeit gelte: „Liberale Demokratie ist Kapitalismus plus Wahlen, mehr nicht!“ (Seite 99)
Er verweist u.a. auf Statistiken, nach denen Arme weniger wählen. Damit seien demokratische Wahlen gar nicht so demokratisch wie oft behauptet.

Außerdem will er noch das „Linkssein repolitisieren!“. Er äußert sich in diesem Zusammenhang auch zu dem Thema Identitätspolitik. Diese lehnt er nicht grundsätzlich ab, kritisiert aber das durch Betroffenheit eine absolute politische Deutungshoheit eingefordert wird bzw. Widerspruch damit nicht geduldet wird: „Allzu häufig passiert es mittlerweile in linken Diskussionen, dass Betroffenheit von Diskriminierung gleichgesetzt wird mit einer absoluten Deutungshoheit über politisch zu verhandelnde Sachfragen.“ (Seite 123)
Er führt aus: „Und an dieser Stelle werden Diskurse dann aus meiner Sicht recht eindeutig autoritär. Es geht häufig nicht mehr um den Austausch von Argumenten auf Augenhöhe, sondern um die Forderung politischer Bußfertigkeit in einem quasireligiösen Sinne. Der weiße Cis-Mann gilt als Bevorzugter eines patriarchal-rassistischen Systems per se als Mittäter und hat jene Täterschaft durch bedingungslose inhaltliche Unterstützung langsam abzutragen. Dass der weiße Cis-Mann bevorzugt, leugnet niemand mit Verstand. Dass bedingungslose Solidarität mit denen, die tagtäglich innerhalb des Systems unterdrückt werden, unabdingbar ist, leugnet niemand mit Empathie. Aber die in der Critical-Whiteness-Theorie oft mitschwingende Forderung nach antirassistischer Selbstbereinigung der Annahme folgend, dass Menschen sich ihr internalisiertes Weißsein erst einmal abtrainieren müssten, ist kein Naturgesetz oder unumstößlicher Fakt, sondern eine politische Auffassung, die man kritisieren darf. Wird die Kritik an jenem Menschenbild aber gleichgesetzt mit dem Entzug von Solidarität mit von von Diskriminierung betroffenen Menschen ist die Forderung eben nicht ‚Verbündetenschaft‘, sondern ganz eindeutig ‚Gefolgschaft‘. Solidarität ist hier nicht hierarchiefrei, sondern als Treueverhältnis konzipiert: Ich bin erst solidarisch, wenn ich den Argumenten meines Gegenübers nicht auf eine solche Weise infantilisieren und mute ihm dementsprechend Widerspruch zu.“ (Mitte, 125-126)
Polemisch wie treffend resümiert er über den Zustand der Linken in Deutschland: „Von dieser deutschen Linken ist nun wirklich keinerlei revolutionäres Potenzial zu erwarten, da man im alternativen Zentrum verlässlich an der eigenen politischen Verlotterung arbeitet.“ (Seite 134)

Er endet in seinem Buch damit „Das gute Leben [zu] repolitisieren!“. In diesem Abschnitt bewertet er auch die HookUp-Kultur kritisch, die versucht jenseits von Verpflichtungen, durch Spaß „Erlebnistrophäen“, wie er es nennt, zu sammeln.
Er fordert am Ende seiner Betrachtungen: „politische Gefühle gehören weder unterdrückt noch verheiligt“. (Seite 127)

In seiner Kritik ist Kindler radikal, aber in den Handlungsvorschlägen eher realpolitisch, etwa wenn er eine Aussetzung der Schuldenbremse vorschlägt. Hier ist deutlich der Staat sein angesteuertes Instrument. Trotz einiger staatskritischer Töne im Buch scheint die Staatskritik eher ein blinder Fleck im Buch zu sein. Indirekt liest man aus dem Buch, dass für Kindler der Staat eine Verteilungsmaschine darstellen sollte. Das der Staat Nationalismus, Hierarchien und institutionelle Gewalt beständig produziert geht so unter.
Außerdem scheint auch er zu einer Kapitalismus-ist-der-Hauptwiderspruch-Analyse zu neigen. So warnt er etwa vor einem diversen Kapitalismus, aber nicht vor einem antikapitalistischen Sexismus.
Am Buchende gibt es noch einen Handlungsvorschlag, wenn er von einem „Generalbestreikung gesellschaftlich wichtiger Branchen und Lebensbereiche“ (Seite 145) schreibt.

Das Buch ist ein erfrischender Zuruf an Linke mehr zu tun und eine gute Kritik an den herrschenden Zuständen.
Ich werde es in Zukunft in meinem Freundeskreis verleihen und verschenken.

Jean-Philipp Kindler: Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf. Eine neue Kapitalismuskritik. Rowohlt, 2023.

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