Buchkritik: „Der Abtrünnige“ von Erol Ünal

Die Literatur von Aussteiger*innen aus der extrem rechten Szene dürfte inzwischen einige Regalmeter füllen. Aber das 2021 erschienene Buch „Der Abtrünnige“ von Erol Ünal ist etwas anders. Darin schaut der 22-jährige Autor zwar auch kritisch auf das Aufwachsen in einer extrem rechten Szene in Deutschland zurück, aber es ist nicht eine deutschnationale, sondern eine türkischnationale. Im Untertitel heiß das Buch nämlich „15 Jahre in Moscheegemeinden. Meine Einblicke in eine Welt von Fundamentalisten und Rechtsextremen über Radikale bis Sufis“.

Als Junge bei den „Grauen Wölfen“
Ünal ist in der Stadt Esslingen in einer Familie aufgewachsen, die zu der türkisch-ultranationalistischen Bewegung der „Grauen Wölfe“ („Bokurtlar“) gehört, die sich auch „Idealisten“ („Ülkülcer“) nennen. Deswegen besuchte er schon als kleines Kind einen Verein bzw. die zugehörige Moschee der Bewegung.
Er berichtet wie die „Grauen Wölfe“ Jugendliche aus der türkischen community in Deutschland rekrutieren:
„Die Jugendarbeit ist keinesfalls zu unterschätzen. Mit den bereits genannten Ausflügen, der Fußballmannschaft und weiteren Aktivitäten werden Kinder und Jugendliche in den Idealistenverein hineingezogen.“ (Seite 43)
Eine wichtige Basis ist dabei ein Minderwertigkeitsgefühl, welches auch durch den Rassismus der Mehrheitsgesellschaft verursacht wird:
„Ob in der Türkei oder in Deutschland, das Minderwertigkeitsgefühl bildet das Fundament der Grauen Wölfe und der Erdoğan-Anhänger.“ (Seite 21)
Als Reaktion darauf kommt es zu einer nationalistischen oder Selbstüberhöhung bzw. „religiöse[n] Selbstbeweihräucherung“.
Die deutsche Mehrheitsgesellschaft weiß allgemein recht wenig über die „Grauen Wölfe“, z.B. über die Größe ihrer wichtigsten Organisation, der „Türk Federasyon“:
„Der „Türk Federasyon“ unterstehen heute cirka 160 Moscheevereine mit 7000 Mitgliedern. Für den Vergleich: Das sind ungefähr so viele Mitgleder wie die NPD sie Stand 2019 hat.“ (Seite 41)

Als Jugendlicher bei islamistischen Sekten
Später wurden Ünal und sein junger Bruder für Korankurse zu einer islamistischen Sekte geschickt. Dabei sind türkische Ultranationalisten und Islamisten trotz Gemeinsamkeiten konkurrierende Bewegungen:
„Die Islamisten und türkischen Nationalisten haben viele Gemeinsamkeiten, die gegen den gemeinsamen Feind oftmals kooperierten. Dennoch existiert ein Spalt zwischen beiden Lagern; während die Islamisten die Nationalisten beschuldigen, Papiermuslime zu sein, werfen die Nationalisten den Islamisten die Leugnung der türkischen Identität vor und behaupten, sie seien arabischer als die Araber.“ (Seite 56)
Ünal verinnerlichte das islamistische Identitäts-Angebot und wird ein ultrakonservativer Muslim. Dreh- und Angelpunkt ist dabei die Moschee:
„Eine Hinterhofmoschee in Deutschland ist daher nicht einfach nur eine Moschee, in der gebetet wird. Sie ist eine eigene Welt. Hat man sich einmal an die Welt der Hinterhofmoschee angepasst, geht man zum Haareschneiden, zum Essen, zum Einkaufen und auch zur Unterhaltung in die Moschee. Eine Parallelgesellschaft, die das Notwendige eines Zusammenlebens abdeckt.“ (Seite 43)
Die Hinwendung zum Islamismus stört nachhaltig sein Frauenbild, wie Ünal rückblickend fest stellt:
„Die jahrelangen Eintrichterungen bringen streng konservative Menschen zu der Auffassung, dass ein Mann eine Frau letztendlich nur als Sexobjekt betrachten könne und umgekehrt. Die Individualität hat in dieser frommen Welt keinen Platz.“ (Seite 86)
Die Angst vor Frauen führt auch zu einer rigiden Geschlechtertrennung, nur bei DITIB und den „Grauen Wölfe“ gibt es keine Geschlechtertrennung.

Im Grunde handelt es sich bei den im Buch beschriebenen islamistischen Gruppen um autoritäre Sekten.
Ünal ‚durchwandert‘ mehrere Gruppen. Diese sind dem deutschen Leser / der Leserin ohne Sprach- und Kulturkenntnisse zum Teil unbekannt, genauso wie die zugehörigen Netzwerke. Einige gehen auf alte Sufi-Orden zurück, wie auf den im 14. Jahrhundert gegründeten Sufi-Orden der Nakschibandi. Zum Teil tarnten sich diese Orden in Reaktion auf Atatürks Zwangssäkularisation Anfang der 1920er Jahre. Dem Nakschibandi-Orden entstammt zum Beispiel die Gruppe der Süleymanci, die auch im Buch beschrieben wird, genauso wie die Menzilci, die eng mit der autoritären Regierungspartei AKP verwoben sind. Auch die Kaplanis bzw. die Gruppe „Kalifatsstaat“ und die „Islamische Gemeinschaft Millî Görüş“ (IGMG) werden im Buch kritisch beschrieben, ebenso wie die Gülen-Bewegung bzw. Gülenci. Zu der Gülen-Bewegung schreibt der Autor:
„Nach meinen Einschätzungen ist die Gülen-Gemeinde eine gefährliche Sekte, die in der Öffentlichkeit ein friedliches Bild präsentiert, insgeheim jedoch eine Agenda vorantreibt, die weder etwas mit freiheitlichen noch demokratischen Werten gemein hat.“ (Seite 195)
In der Türkei unterwanderten AnhängerInnen der Gülen-Bewegung die Polizei und verbündeten sich mit der AKP gegen die KemalistInnen. Zeitweise stellten Gülencis 1/5 aller AKP-Abgeordneten. Nach dem Putschversuch von 2016 kam es jedoch zum Bruch zwischen AKP und Gülen-Bewegung.
Ünal beschreibt auch die 1924 gegründete Religions-Behörde Diyanet bzw. deren Ableger DITIB in Deutschland. Dieser vertritt 900 türkisch-muslimischen Gemeinden in Deutschland.
Unter Erdogan wurde die ursprünglich kemalistisch kontrollierte Institution immer mehr islamisiert.

Fazit: eine unbekannte Welt wird geschildert
Gerade die Darstellung der islamistischen Sekten ist die Darstellung einer unbekannten Welt. Ünal erläutert z.B. wie er die Gruppen auch an Hand äußerer Merkmale der Männer identifizieren kann. So liegt der Unterschied manchmal sogar im Schnauzer. Die Männer der einen Gruppe tragen einen mondsichelförmigen Schnurrbart und die anderen einen mandelförmigen Schnauzer.
Das alle Gruppen unterschiedliche Halal-Lebensmittelmarken haben, ist für Uneingeweihte ebenso wenig nicht bekannt.

Doch wie wird aus dem jungen Islamisten aus einer Bozkurtlar-Familie eigentlich ein linker Agnostiker? Die Gezi-Proteste 2013 in Istanbul brachten ihn zum Zweifeln ebenso wie die Schwierigkeiten als pubertierender junger Mann die sexualfeindlichen Regeln ein- bzw. durchzuhalten. Sein schlechtes Gewissen darüber quälte den Autoren.
Manche spirituellen Lehrer bzw. Lehren hatten ihn auch bereits in seiner ultra-religiösen Phase nicht überzeugt. Außerdem berichtet er auch von Misshandlungen durch die Lehrer.

Das Buch ist sehr spannend, weil es eine Parallelgesellschaft schildert, über die man ohne kulturellen und Sprach-Zugang kaum etwas erfährt. Der Begriff der Parallelgesellschaft scheint einem nach der Buch-Lektüre treffend zu sein, auch wenn der Begriff gerne rassistisch instrumentalisiert wird. Dabei geht es im Buch aber gar nicht um „die Türken“, sondern um bestimmte Bereiche der deutsch-türkischen community, außerdem wird der Rassismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft durchaus erwähnt.
Etwas irritierend ist, dass das Thema Queerfeindlichkeit fehlt, möglicherweise weil es komplett tabuisiert ist.
Das Buch sollte unbedingt von vielen Nicht-Informierten zu dem Thema gelesen werde.

Erol Ünal: Der Abtrünnige. 15 Jahre in Moscheegemeinden. Meine Einblicke in eine Welt von Fundamentalisten und Rechtsextremen über Radikale bis Sufis“, Frankfurt/Main 2. Auflage 2021.

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Buchkritik: „bis wir Wald werden“ von Birgit Mattausch

Der dieses Jahr erschienene Roman „Bis wir Wald werden“ von Birgit Mattausch ist ein Familien-Roman, der von einer Großfamilie aus Verwandten und Nicht-Verwandten erzählt, die alle im selben Hochhaus am Rande einer unbenannten Stadt in Deutschland wohnen. Das Hochhaus stammt aus den 1960er Jahren, hat 16 Stockwerke und wird vor allem von Spätaussiedler*innen bewohnt.
Erzählerin ist Nanusha, die an der Kasse bei Real sitzt, obwohl sie gute Noten hatte. Sie kam mit ihrer Urgroßmutter Babulya als Kind aus Sibirien hierher, während ihre Großmutter verschollen ist und ihre Mutter („Mome“) nicht mit gekommen ist.
Babulya spricht nur ein altertümliches Deutsch und trotzdem eben ein Deutsch. So verstand sie bei der Übersiedlung nach Deutschland nur die neuen Wörter nicht: „Na, die elektrisierten Wörter. Und die grauen Wörter. Die auf den Formularen. Ein-bürger-ungs-nach-weis. Familien-nach-zug.“
(Seite 22-23)
Elsa, die Oma von allen im Haus, hat sich sogar in Sibirien geweigert Russisch zu lernen. Das altertümliche Deutsch der Alten wird im Buch auch so wiedergegeben.
In Deutschland treffen sie auf eine Moderne und Überfülle. Hier muss niemand mehr persönlich schlachten: „Noch viele Hühner würde sie so schlachten, später auch Gänse und Hasen.
Am Tisch Tisch unter Kristallleuchter und Plastikstuck zeigt sie mir die Handbewegung. Sie kann es noch. Auch in dieser Welt, in der wir fertig abgepackte, eingeschweißte Hühnerbrüste bei Real kaufen oder gleich Chickennuggets bei McDonalds holen.“

(Seite 70)

Der Roman ist auch eine Geschichte dieser Bevölkerungs-Gruppe, die der Spielball der Mächtigen war: „Sie haben uns angesiedelt, umgesiedelt, ausgesiedelt, spätausgesiedelt. Nein, das Letztere haben wir selbst getan. Nachdem wir Anträge und Anträge zu Anträgen stellten. […] Spätausgesiedelt haben wir uns. Nachdem wir sehr leise waren. Immer leise. Nachdem wir uns nur auf uns verließen.“
(Seite 52)
Doch die Ankunft in Deutschland ist schwer. Es gibt viele Unterschiede zwischen den „Unseren“ und den „Hiesigen“. Manches sind kleine Dinge, wie die Begeisterung für die russlanddeutsche Sängerin Helene Fischer: „Ja, wir lieben Helene, und wir scheren uns nicht darum, dass die Hiesigen sie verachten. Dass sie ihnen zu glatt ist, zu glänzend, zu verschlossen. Unmerklich (aber ich merke es doch) pressen sie die Lippen zusammen und atmen durch die Nase aus, wenn vor ihnen jemand eine CD von ihr auf das Kassenband legt.“
(Seite 116)
In Deutschland gilt die Gruppe als ‚die Russen‘, während sie in der Sowjetunion als Deutsche diskriminiert wurden: „Die Hiesigen denken, wir seien nur hier, weil wir einen deutschen Schäferhund gehabt haben. Hahahahaha. Ich bin zu müde, ihnen zu erklären, dass wir hier sind, weil Deutschland an uns etwas gut zu machen hatte. Zu müde, vom fünften Punkt im sowjetischen Pass zu erzählen und davon, was es bedeutete, wenn dort deutsch stand.“
(Seite 79-80)
Immer wieder brechen die Narben im Familien- und Gruppen-Gedächtnis auf. Neben der Deportation und der kollektiven Anfeindung als „Fascisti“ war das die Zwangsarbeit in der so genannten „Trudarmee“. Das war eine Arbeitsarmee, in der Minderheiten, darunter sehr viele Russlanddeutsche, 1942 bis 1946 erzwungene Arbeit leisten mussten, darunter auch viele Frauen.

Doch die Gruppe besteht aus Individuen wie etwa Vitali, der auf die Ausgrenzung mit Muskeln-Aufbau und einem Kampfhund reagiert hat, vor dem sich Nanusha fürchtet.
Sie entdeckt auch Gemeinsamkeiten mit der Kurdin Felek, der in ihrer türkischen Heimat auch verboten wurde ihre Muttersprache zu sprechen, und die auch in dem Hochhaus lebt.
Viele Russlanddeutsche in dem Buch sind religiös. Manche sind glaubensstrenge Baptisten. Andere haben seltsame, vermutlich heidnische Rituale aus Sibirien mitgebracht. Denn ein Teil der Spätaussiedler*innen scheint in Sibirien zu einem Waldvolk geworden zu sein. Der nahe Wald beim Hochhaus scheint ihnen vertrauter als die nahe gelegene Stadt.

Das Buch ist eine zarte Annäherung an eine große Bevölkerungsgruppe in Deutschland, die mit ihrer Geschichte häufig unsichtbar bleibt. Immer wieder werden auch Gedichte eingeschoben. Es werden auch Probleme wie Suchtkrankheiten, AfD- und Putin-Nähe oder autoritäre Erziehungsstile erwähnt.
Das Buch mit seinen knapp 180 Seiten lohnt sich sehr, ist aber mit 20 Euro verhältnismäßig teuer.

Birgit Mattausch: Bis wir Wald werden, Stuttgart 2023.

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Buchkritik: „Gefangen & Wohnungslos“ von Klaus Jünschke

Der Interview-Band „Gefangen und wohnungslos. Gespräche mit Obdachlosen in Haft“ ist dieses Jahr erschienen. Herausgeber und Organisator des Interview-Sammelbands ist Klaus Jünschke, ein Ex-RAF-Mitglied, welches sich später von der RAF distanzierte, und Sachbuchautor wurde. Seit 1993 leitet er Gesprächsgruppen in der JVA in Köln.
Jünschkes analytisches Vorwort ist besonders lesenswert. Darin geht er auch auf die lange Tradition der Verfolgung und Kriminalisierung von Wohnungslosen ein und „obwohl diese Gesetze abgeschafft wurden, sind die Wohnungslosen die am meisten kriminalisierte soziale Gruppe in Deutschland.“
(Seite 33)
Er definiert noch einmal, was überhaupt Wohnungslosigkeit ist: „Als wohnungslos gilt, wer über keinen mietvertraglich abgesicherten oder eigenen Wohnraum verfügt und bei Verwandten oder Bekannten oder in Einrichtungen der Gemeinden oder Freier Wohlfahrtsverbände untergekommen ist.“
(Seite 7)
Obdachlose sind dagegen eine Teilgruppe von Wohnungslosen, nämlich die Menschen, die direkt auf der Straße leben und in öffentlichen Räumen übernachten.
Insgesamt gab es laut dem im Dezember 2022 vorgestellten Wohnungslosenbericht der Bundesregierung 262.000 Wohnungslose und darunter noch einmal 38.500 Obdachlose.
Obwohl Wohnungslose gesamtgesellschaftlich also eine verhältnismäßig kleine Gruppe darstellen (0,3%), sind sie unter Gefangenen stark überrepräsentiert. So waren 14% aller Strafgefangenen und Sicherheitsverwahrten in der Bundesrepublik bei Haftantritt wohnungslos. Die allermeisten davon waren Männer, die vor allem eine marginalisierte Männlichkeit vertreten. Unter den 5.296 wohnungslosen Gefangenen im März 2022, waren nur 234 Frauen, also 4%. Aber ein Buch zur Erfahrung obdachloser Frauen komme noch, verspricht Jünschke.
Die im Buch wiedergegebenen Interviews entstammen einer Erzählwerkstatt in der JVA Köln und in der JVA Siegen. Die Gespräche dabei wurden in Kleingruppen von vier Männern vom Oktober 2022 bis Ende März 2023 geführt.
Insgesamt waren es 20 wohnungslose Männer. Alle davon waren suchtkrank und 18 waren deutsche Staatsbürger, davon wiederum zwei mit Migrationshintergrund. Alle saßen wegen Kleinkriminalität ein. Von den 20 Männern verbüßten acht eine Ersatzfreiheitsstrafe, d.h. sie saßen nur deswegen im Gefängnis, weil sie eine Strafe nicht zahlen konnten. Einer der Strafgefangenen erzählt z.B. dass er wegen seiner Notübernachtung in einer Sparkasse, um sich vor dem Erfrierungs-Tod zu schützen, beim zweiten Antreffen zu einer Geldstrafe verurteilt wurde.
Der Autor lässt klar durchblicken dass er das Hilfssystem der „Sozialbürokraten“, wie er sie nennt, für unzureichend hält und dem ‚Housing First‘-Ansatz den Vorzug gibt.

Interviews mit wohnungslosen und obdachlosen Strafgefangenen
Jünschke weist in seinem Vorwort auch darauf hin dass Gefängnis-Erfahrungen der Mehrheit der Gesellschaft unbekannt sind: „In unserer Gesellschaft gibt es keinen Begriff vom Leben in einer normalen Gefängniszelle, von der Existenz auf acht Quadratmetern in einem Raum, der innen keine Klinke an der Tür hat und der folglich nur verlassen werden kann, wenn von außen aufgeschlossen wird. Die Debatte um die Käfighaltung von Hühnern in den Legebatterien ist größer und öffentlicher als die Tatsache, dass Menschen in Zellen festgehalten werden.“
(Seite 16)
Im Prinzip werden also zwei in der bürgerlichen Mitte unbekannte Welten im Buch wiedergegeben: Wohnungslosigkeit und Gefängnis.
Es sind krasse Erfahrungsberichte mit dabei. Etwa von einem ehemaligen Heim-Kind, welches erzählt dass es im Heim in Flaschen gepinkelt hätte, weil man nach 20 Uhr sein Zimmer nicht mehr verlassen durfte.
Mehrere Teilnehmer an den Gesprächen berichten von Misshandlungen als Kinder. Die Heim-Kindheit war eine der Ausgangspunkte von Obdach- und Wohnungslosigkeit, andere waren eine Suchtkrankung, der Verlust eines geliebten Menschen oder eine Depression. Diese einzelnen Schicksal werden im Sozialdarwinismus gegen Obdachlose nicht gesehen, der nur die angebliche Verweigerung wahr nimmt. So berichtet ein Gerhard: „Du hörst aber auch oft, „warum gehst Du nicht arbeiten oder bist Du krank?“ Die fragen nicht, warum ist der denn da, irgendwas ist doch passiert. Die denken alle, der ist freiwillig ein versoffenes Schwein. Und jeder Obdachlose hat sein Schicksal, ich hab mit so vielen gesprochen. Da ist immer was Gravierendes gewesen.
(Seite 206)
Im Gespräch verraten die ehemaligen Wohnungslosen ihre Überlebenstechniken, etwa durch Kleinkriminalität oder (angebliche) Leistungserschleichung. Dabei sind sie auch selber oft Opfer von Diebstählen.
Das schwierige Leben auf der Straße führt schnell zu Gefängnis-Verurteilungen. Der Wohnunglose Gerhard fasst es gut zusammen: „Man steht als Obdachloser mit einem Bein im Gefängnis. Allein schon durch die Obdachlosigkeit. Du bist eine Randgruppe. Du bist nicht gerne gesehen, Du wirst gemieden, Du wirst auch beschimpft und bespuckt, alles. Du gerätst schnell in Schlägereien.“
(Seite 257)
Wegen dieser Randgruppen-Kriminalität sitzen die meisten ein. Meist sind es Vergehen ohne Geschädigte bzw. Not-Diebstähle. Ihre Verurteilung ist das, was man klassischerweise als ‚Klassen-Justiz‘ bezeichnen würde. Alles wird ihnen zu ihren Ungunsten ausgelegt, weil sie nicht als normale Bürger angesehen werden. So wirkt ein Diebstahl mit Taschenmesser wegen der Auslegung als Waffe strafverschärfend. Dabei ist ein Messer ein notwendiges Arbeitsgerät und oft auch ein Verteidigungsmittel auf der Straße. So erzählt ein Mike: „Ich hab einen Bekannten, der hat mal einen Obdachlosen einfach so angezündet. Aus Spaß. Der bereut das auch zutiefst, dass er das gemacht hat, aber es ist doch klar, dass sich ein Obdachloser ein Messer in die Tasche steckt, wenn sowas passiert.“
(Seite 147)
Gewalt spielt beim (Über-)Leben auf der Straße eine große Rolle. Auch die Erfahrung von Übergriffen durch die Polizei wird geschildert: „Gerhard: Als ich das erste Mal im PG [Polizeigewahrsam] war, haben sie mich noch im PG zusammengeschlagen. Ein Telefonbuch auf die Brust gelegt und mit dem Schlagstock draufgehauen. Mit zwei Mann.
Klaus: Mit dem Telefonbuch?
Gerhard: Das haben sie mir auf die Brust gelegt und dann mit dem Schlagstock.
Jimmy: Damit keine blauen Flecken kommen.“

(Seite 294)

Weiter berichten die Ex-Wohnunglosen von negativen Erfahrungen mit Notübernachtungen. Etwa von einer Übernachtungsstätte mit ausgehängter Tür.
Auch durch die Berichte wird noch einmal klar, dass Gefängnisse nicht der Resozialisierung dienen. So werden die ehemaligen Wohnungslosen häufig in die Obdachlosigkeit entlassen und damit werden sie fast schon zwangsweise wieder kriminell, besonders wenn Drogenkranke und psychisch Kranke aus der U-Haft entlassen werden, denn in der U-Haft gibt es kaum eine soziale Betreuung und Vorsorge.
Nicht ohne Grund ist das Leben auf der Straße kurz. Gewalt, Krankheit und die allgemeinen Lebensbedingungen sorgen dafür dass die Lebenserwartung von Obdachlosen bei 49 Jahren und damit 20 Jahre unter dem Durchschnitt liegt.

Jünschke fragt klug nach und kitzelt mit seinen Fragen oft einiges heraus, er gibt gute Tipps, ist aber manchmal etwas arg pädagogisch, auch wenn es vielleicht viele so brauchen.
Das Buch hat manchmal seine Längen, ist aber absolut lesenswert. Besonders das Vorwort lohnt sich.

Klaus Jünschke: Gefangen und wohnungslos. Gespräche mit Obdachlosen in Haft, 2023.

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Buchkritik: „Dakhil – Inside Arabische Clans“ von Mohamed Ahmad Chahrour und Marcus Staiger

Es gibt Bücher, an denen einen vor allem das Wissen in ihrem Inneren interessiert. Das Buch „Inside Arabische Clans“ von Marcus Staiger und Mohamed Ahmad Chahrour gehört auf jeden Fall mit dazu. Die beiden Autoren melden mit ihrem Buch zu den als „Clan“ fremd definierten Großfamilien eine Korrektur des öffentlich erzeugten Bild an.

Im Jahr 2021 wurden 0,18% der Kriminalität dem Bereich „Clan-Kriminalität“ zugeordnet. Eigentlich handelt es sich also um ein Promille-Phänomen. Aber da im öffentlichen Diskurs viel über kriminelle Clan-Familien gesprochen wird, ist es ein politisches Thema. Während Rechte und auch große Teile der politischen Mitte das Thema rassistisch instrumentalisieren, kritisieren viele Linke diese rassistische Instrumentalisierung und erklären das Thema für quasi nicht existent. Ob es das Phänomen von kriminellen arabischen Familien nicht gibt, konnte der Rezensent vor der Lektüre nicht sagen. Grundsätzlich zeigt ja die Familien-Struktur einiger Mafia-Familien das so etwas durchaus existieren kann.

Ihr selbst gestelltes Ziel beschreibt das Autoren-Duo wie folgt: „Das Anliegen dieses Buches ist es, ein authentisches Porträt der in Deutschland lebenden Großfamilien zu liefern. Wir möchten mit unserer Arbeit die Persönlichkeiten hinter dem übertriebenen medialen Interesse zeigen. Ein Interesse, das zwischen Hype, Mythos und Hetze variiert.“ (Seite 19)

Zum Buch gibt es den Begleit-Podcast „Clanland“, der ziemlich populär war. Insgesamt hat das Duo 40 Interviews geführt. Etwas anstrengend bei der Lektüre ist dass sie den Clan-Begriff einerseits kritisieren, andererseits verwenden sie ihn stellenweise als normalen Begriff.

Geschichte der Mardallis im Libanon und ihrer Ausgrenzung in Deutschland
Im ersten Teil des Buches erzählen sie die Geschichte der Bevölkerungs- oder Volksgruppe der Mardalli nach. Die meisten verstehen sich als Kurd*innen, die aber aus dem Libanon stammen, arabischsprachig sind und meist der muslimischen Konfession der Schiit*innen angehören.
Diese Gruppe verfügt über eine zwei- und dreifache Vertreibungserfahrung, weil sie in den 1920ern und 1960ern aus der Türkei geflohen sind und innerhalb des Libanons. Ein Teil der Gruppe lebte zwischenzeitlich in den Elendsvierteln von Beirut. In den 1980er Jahren flohen sie vor dem Bürgerkrieg im Libanon nach Deutschland. Ihr Schicksal ist auch ein Ergebnis kolonialer Grenzziehungen.
Als die Gruppe in Deutschland ankam, rutschte sie kollektiv in die ungünstige juristische Situation nur Duldung bzw. Ketten-Duldung. In den 1980er Jahren wurden die Kinder der Familien in Flüchtlings-Klassen gesteckt, um sie von der einheimischen Bevölkerung zu separieren.
Ihre Kontakte mit einheimischen Deutschen beschränkten sich damals vor allem auf Behörden, was auch nicht gerade dafür sorgte, sich angekommen zu fühlen, und das war ja auch der Zweck. Es fand eine kollektive Ausgrenzung statt: „Die Leute waren als Flüchtlinge gebrandmarkt. Sie hatten die falschen Papiere, um an einem gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Sie hatten die falschen Adressen, die falschen Nachnamen, die falsche Sprache. Sie waren in einem Wartezimmer abgestellt, aus dem sie niemand mehr abholen wollte.“ (Seite 110)
Das Gefühl des ‚Gäste-Status‘ existiert bis heute: „Und irgendwann fingen wir an, uns an das Leben als Gast in Deutschland zu gewöhnen. Als Gast – denn wenn wir auf unsere Eltern hören, sind wir das bis heute. Das sagen sie uns immer wieder, und ich glaube, aus der Sicht vieler Deutscher sind wir das auch immer noch: Gäste.“ (Seite 70)
Dadurch entstand ein Widerspruch zwischen kapitalistischer Leistungsgesellschaft und Verbots-Bürokratie. Es kam zu Depressionen, vor allem bei den Männern, weil sie ihre traditionelle Ernährerrolle nicht erfüllen konnten.
Durch Arbeitsverbot und ungenügende Versorgung wird Kriminalität begünstigt. Es bildet sich Kriminalität bei manchen heraus, wofür von den Behörden und Medien aber alle in Sippenhaft genommen werden.
Von dem berühmten ‚Abrutschen auf die schiefe Bahn‘ sind vor allem Männer betroffen. Doch auch bei den kriminell gewordenen Männern verschwindet 80% der Kriminalität nach dem Jugendalter, scheint also stark von Adoleszenz beeinflusst zu sein.
In dem sehr interessanten Interview mit Helmuth Schweitzer benennt dieser die Frauen der Gemeinschaft auch deswegen als Hoffnungsträger.

Im Buch findet sich ein Interview-Zitat, was noch einmal den bundesdeutschen Integrations-Diskurs sehr treffend kritisiert: „Deutsch sein, wenn man nicht wirklich deutsch ist, kann ziemlich anstrengend sein. Eigentlich ist es fast unmöglich. Eigentlich gar nicht möglich. Die Frage, wo man denn „eigentlich“ herkommt, symbolisiert diese Unmöglichkeit. Wenn Deine Haare ein wenig zu schwarz sind, deine Augen ein wenig zu dunkel, dann kannst Du nicht wirklich deutsch sein. Das weiß man doch. Du bist halt Ausländerin, dann bleibst Du halt Ausländer. Doch auch hier gibt es noch einen Unterschied. Den Unterschied zwischen dem guten Ausländer und dem schlechten Ausländer, zwischen denjenigen, die sich integrieren wollen und nicht so sind wie die, und den anderen, die eben genauso sind. Das ist ziemlich vage formuliert und besagt überhaupt gar nichts, außer das Integration ein anderes Wort für „Ausländer raus“ ist – nämlich alles Ausländische raus aus den Ausländern. Der gute Ausländer hat das nämlich geschafft. Er hat den Ausländer in sich rausgeschmissen und sich vollkommen angepasst.“ (Seite 409)

Die angeblichen ‚Clans‘ und ihr Zerrspiegel
Auf einer Sach-Ebene arbeiten Chahrour und Staiger heraus, dass bundesweit keine verbindliche Definition von Clan-Kriminalität existiert. Juristisch ist es auch höchst fragwürdig, da Familien nicht als „kriminelle Vereinigung“ definiert werden können.
Der diffuse Clan-Begriff in Medien und bei Behörden, das zeigen Staiger und Chahrour, beruht auf Pauschalisierungen und Generalisierungen. Menschen mit demselben Familien-Namen werden Generalverdacht. Verwandtschaftsverhältnisse und scheinbare Verwandtschaftsverhältnisse werden mit Kriminalitäts-Verdächtigungen verknüpft. Eine Familie, also ein ‚Clan‘, wird mit einer Verbrecherbande gleich gesetzt.
In dem Buch wird aus einer Schulungs-Broschüre der Essener Polizei zitiert: „Auf eine stetige Abgrenzung zwischen Clan-Mitgliedern, die kriminell in Erscheinung getreten sind, und solchen, die es nicht sind, muss an dieser Stelle verzichtet werden. Zum einen, weil grundlegende Denkmuster häufig auch bei Familienmitgliedern verankert sind, die nicht kriminell auffällig sind, und zum anderen, weil auch bei Kenntnis über Kriminalität einzelner Familienmitglieder der Rest schweigt. “ (Seite 234)

Der Begriff ‚Clan‘ taugt nicht zur Analyse, da er konstruiert wurde. Arabische Großfamilien wurden so zu (‚kriminellen‘) Clans gemacht. Nichtsdestotrotz gibt es in der benannten Gemeinschaft auch Kriminalität.
Verbrechen wird von den beiden Autoren allgemein wie folgt erklärt: „Unserer Ansicht nach sind Verbrechen ein Ausdruck der kapitalistischen Zwangsverhältnisse in brutaler Offenheit. Unterdrückungsverhältnisse ohne den Deckmantel der bürgerlichen Gesetzgebung.“ (Seite 296)
Allerdings, darauf weisen die Autoren hin, werden im Diskurs organisierte und nicht-organisierte Kriminalität vermischt. Insgesamt wurden, laut Buch 8% der organisierten Kriminalität, einer „ethnisch abgeschotteten Subkultur“ zugerechnet. D.h. zum Beispiel Motorrad-Banden stellen eine weitaus wichtigere Gruppe im Bereich organisierte Kriminalität dar.

Im Buch wird auch die Verantwortung der Medien thematisiert, die den Clan-Begriff popularisiert haben. Das Framing bestimmter Großfamilien als „kriminelle Clans“ bringt Quote.
Die Bilder von den Clans sickern auch in die Popkultur (z.B. in die Serie „4 Blocks“) ein. Es kommt zu einer Dialektik von Fiktion und Realität. Die Fremdzuschreibung des dargestellten Kriminellen wird ein Rollen-Modell, was manche annehmen.
Tatsächlich kriminelle oder gewaltbereite Mitglieder mancher Familien wurden im Straßenrap wie Staiger aufzeigt für Streitereien und Street Credibility von Rappern quasi ‚angeworben‘.

Sehr schön zeigen die beiden auch den Charakter des Zerrbildes vor den Familien als Projektionsfläche für eigene (verbotene) Wünsche auf: „Insofern ist diese »archaische Familienstruktur«, als die sie oft bezeichnet wird, die ideale Projektionsfläche für eine scheinbar aufgeklärte Gesellschaft, die diese anachronistischen Verhältnisse zugleich verachtet und auf eine ganz verrückte Art in ihrer eigenen Lebenswelt vermisst.“ (Seite 302)

Die starke mediale Präsenz verursacht ein gestörtes Sicherheitsgefühl der deutschen Mehrheitsbevölkerung. Es kommt zu Reaktionen aus der Politik, die sich davon eine positive Resonanz bei Wahlen verspricht. Ergebnis sind z.B. häufige Razzien in Shisha-Bars, die damit als kriminelle Orte markiert werden. Wozu das im schlimmsten Fall führt, hat der Amokläufer von Hanau am 19. Februar 2020 gezeigt.

Fazit: verzerrte Perspektive erzeugt falsche Bilder
Die als „Clans“ fremd definierten deutsch-libanesischen Groß-Familien sind keine kriminellen Netzwerke mit tausenden Angehörigen wie italienische Mafia-Familien, die weitaus kleiner sind. Die Zuordnung geschieht über Herkunft und Nachnamen von außen und ist konstruiert.
Es gibt auch Großfamilien mit kriminellen Mitgliedern, aber diese Gruppen sind weitaus kleiner. Die Zuordnung per Herkunft oder Nachname entspringt einer rassistischen Fehleinschätzung und hat Diskriminierung zur Folge.

Der Autor Markus Staiger geht einem manchmal mit seiner cooler-Mann-Masche auf die Nerven. Zur Selbstkritik scheint er auch nicht fähig zu sein. Denn Staiger erwähnt nirgendwo dass er 2014 in seinem Roman „Die Hoffnung ist ein Hundesohn“ das von ihm bei anderen kritisierte Klischee-Bild der kriminellen Araber undifferenziert selber verwendet.

Etwas anstrengend ist auch das Chahrour den Traditionalismus, z.B. religiöse arrangierte Ehen, seiner Gruppe stark verteidigt bzw. entschuldigt.

Leider enthält das Buch auch deutlich israelfeindliche Tendenzen. So wird etwa behauptet Israel praktiziere eine Apartheid System gegenüber den Araber*innen. Zur Vertreibung fast aller arabischen Juden und Jüdinnen aus den mehrheitlich muslimischen und arabischen Ländern findet sich dagegen kein Wort.

Wer über so etwas hinweg sehen kann, wird auch noch mit einem sehr anstrengenden Schreib-Stil und schreckliche Textsetzung (z.B. bei den Zeilenumbrüchen) konfrontiert. Im Kern enthält das Buch eigentlich eine spannende Gegendarstellung zu den verzerrten medialen Diskursen und dem Rassismus der Behörden.
Dabei bieten die beiden Autoren keine einfache Antworten an. Rassismus und Ausgrenzung werden als wichtige Faktoren benannt, aber sie werden nicht monokausal für die Kriminalität einer Minderheit der Minderheit gesetzt.
Gerne hätte man sich noch mehr zu den Männlichkeits-Rollenbildern gewünscht, da sie vermutlich ein weiterer wichtiger Faktor bei den Gesetzes-Verstößen mancher Familien-Mitglieder sind.

Exkurs des Rezensenten
Interessant wäre mal zu schauen ob mit dem Begriff der Clan-Kriminalität nicht eine modernisierte Variante des Rassismus gegen die Roma-Minderheiten (Antiziganismus) durch die Behörden darstellt. Die Minderheit wurde ja auch jahrzehntelang gesondert polizeilich beobachtet und erfasst („Zigeuner-Akten“), nur auf Grund eines Kriminalitäts-Vorwurf gegen ganze Familien oder die gesamte Ethnie.

Marcus Staiger, Mohamed Ahmad Chahrour: Dakhil – Inside Arabische Clans, Wien 2022

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Buchkritik: „Radio Sarajevo“ von Tijan Sila

Ich mag die Bücher von Tijan Sila, deswegen habe ich mich gefreut als ein guter Freund mir dessen neues Buch „Radio Sarajevo“ geschenkt hat.
Gerade die oft nach dem 24. Februar 2022 getätigten falsche Aussagen dass mit dem Ukraine-Krieg erstmals seit 1945 in Europa wieder Krieg herrsche, zeigen das der bosnische Bürgerkrieg bei vielen Menschen wieder in Vergessenheit geraten zu sein scheint. Von anderen, kleineren Kriegen und Konflikten in Europa (Nordirland, Transnistrien, Krajina, Kosovo, Kaukasus) ganz zu schweigen.
Silas Beschreibung ist aber keine kühle Konfliktbeschreibung sondern ein autobiografischer Rückblick. Denn Sila beschreibt seine eigenen Kinder-Kriegs-Erinnerungen, inklusive Kriegskindheits-Traumata.
Es geht konkret um die Belagerung der bosnischen Hauptstadt Sarajevo ab 1992 durch serbisch-nationalistische Truppen.
Der Krieg in Bosnien bricht im April 1994 aus und hatte sich den Erwachsenen schon länger angekündigt, wie der Autor in seiner Rückschau fest stellt. Trotzdem sind alle dann doch überrascht als der Krieg tatsächlich da war und er ging auch nicht schnell vorbei, sondern er hält bis Dezember 1995 an. Sarajevo wird für drei Jahre eine belagerte Stadt, in der der Autor bis Ende 1994 mit seiner Familie lebt.
Das ehemalige sozialistisch Jugoslawien zerfällt, oder wie es der Sila beschreibt:
„Die Geschichte ist über Jugoslawien hinweggefegt, als seien die Landesgrenzen nur eine Spur im Sand gewesen und das kommunistische Ethos mit Kreide auf Asphalt geschrieben.“ (Seite 41)
Scharfschützen und Granaten-Beschuss werden zum Alltag und machen diesen zum Hindernislauf.
Kriegsgeräusche nisten sich in den Ohren der Bevölkerung Sarajevos ein:
„Das Gewehrfeuer hallte ununterbrochen von den Frontlinien, ein Lärm, als würde es Bratpfannen regnen; Wölkchen berstender Flakpatronen bedeckten den Himmel wie Leopardenflecken.“ (Seite 61)
Trotzdem wird aus dem Krieg irgendwann eine Art von Alltag: Der Kriegsalltag. Mit der Zeit passt man sich an, es bleibt einem auch nichts anderes übrig. Sein Vater arbeitet für das Rote Kreuz und eine adventistische Organisation als Übersetzer. So erfährt man am Rande im Buch dass die Caritas Hilfsgüter in Sarajevo nur gegen Taufschein herausgegeben hat, also Nicht-Christ*innen gezielt benachteiligte. Seine Eltern sind als zwei Universitäts-Dozenten sowieso im Platten-Viertel eher Außenseiter, aber der Krieg trifft seine Akademiker-Eltern noch unvorbereiteter als Andere. So haben die beiden z.B. in ihrer Speisekammer Gesamtausgaben berühmter Schriftsteller statt Lebensmittel gelagert. Trotz ihrer akademischen Bildung beschreibt Sila wie ihn seine Eltern, vor allem der Vater, schlagen und wie diese Art der schwarzen Pädagogik fast überall in seinem Viertel angewandt wird. Bis zu dessen Tod verband ihn deswegen offenbar eine Art Hassliebe mit seinem Vater. Die Belagerung verursacht Unter- und Mangelernährung. So verbreitet sich Skorbut. Für Mehl oder Feuerholz werden auf dem Schwarzmarkt obszöne Preise verlangt. In die Schule, die nach einem halben Jahr Pause wieder los geht, müssen Schüler*innen Holzscheite als ‚Schulgeld‘ mitbringen.
Der Autor beschreibt wie er sich mit einer Straßenclique aus seinem Viertel herum treibt, von denen einige durch die Belagerung verletzt oder getötet werden, andere werden zu Klebstoffschnüfflern. Eine Zeit lang führt seine Clique einen Handel mit in Ruinen gefundenen Porno-Heften mit UN-Blauhelm-Soldaten.
Er beschreibt auch wie die organisierte Kriminalität sich im belagerten Sarajevo ausbreitete und kleine warlords sich etablieren.
Wie der Titel schon andeutet spielt Musik eine wichtige Rolle für den Autoren. Ein kleines Radio und die nötigen Batterien lassen ihn dem Alltagsfrust und -grauen entfliehen. Denn trotz aller oberflächlicher Gewöhnung bedeutet der Krieg Grauen.
„Ich fühlte, dass zu leben vor allem bedeutete, Grauen auszuhalten.“ (Seite 62)
Sila sieht zerfetzte Leichen und träumt nachts davon.
Ende 1994 beschließen seine Eltern endlich nach Deutschland zu fliehen. Heute ist der bosnische Geflüchtete ein Schriftsteller und Lehrer.
Das Buch ist kurz, lohnt sich aber, auch wegen seiner Kinder-Perspektive auf den Bosnien-Krieg.

Tijan Sila: Radio Sarajevo, München 2023

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Buchkritik: „Kinder von Hoy“ von Grit Lemke

Mit einiger Verspätung habe ich jetzt endlich mal das hochgelobte Buch „Kinder von Hoy“ von Grit Lemke gelesen, was 2021 erschienen ist.

In dem Buch, was eine Mischung aus Autobiografie und Geschichtsbuch ist, zeichnet die Autorin die Geschichte der sächsischen Stadt Hoyerswerda nach.
Ursprünglich war Hoyerswerda eine deutsch-sorbische Kleinstadt, doch in der frühen DDR wird hier eine sozialistische Wohnstadt bzw. Arbeiterstadt aus dem Lausitzer Heideboden gestampft.
Die DDR, zeitweise die zehntgrößte Industrienation der Welt, ist hungrig nach Strom. Dieser soll im Werk „schwarze Pumpe“, umgangssprachlich nur „Pumpe“ genannt, erzeugt werden.
Zeitweise soll es sich bei „Pumpe“ um den größten Kohle-verarbeitenden Industriekomplex der Welt gehandelt haben. Auf dem Höhepunkt, im Juli 1990, malochten hier 14.439 Arbeiter*innen. Um den „Kohlekumpels“ eine Unterkunft zu geben, wird Hoyerswerda-Neustadt, eine Ensemble von Plattenbauten in den 1960er Jahren gebaut und beständig erweitert. Hier wird der Lebens-Rhythmus wird durch die Schichtarbeit dominiert: „4.50 Uhr rollt die erste Welle nach Pumpe aus der Stadt. Der Rhythmus der Schichtbusse ist ihr Puls.“ (Seite 53)

Die neuen Bewohner*innen kommen aus der ganzen DDR, besonders aber aus den Dörfern der Lausitz. Sie holen ihre Kinder nach oder kriegen sie erst und Hoyerswerda wird zur kinderreichsten Stadt der DDR.
Grit Lemke ist eines dieser Kinder und beschreibt sehr anschaulich das Aufwachsen in dieser realsozialistischen Planstadt, in der aber vieles dann doch nicht so ganz nach Plan verläuft. Irgendwie ist Hoyerswerda auch ein frühes Beispiel für eine 15-Minuten-Stadt, weil in der Neustadt alles in unmittelbarer Nähe ist: Einkaufsmöglichkeit, Freizeitstätten und Schulen.
Lemke beschreibt eine Gleichzeitigkeit von fehlender und kollektiver Kontrolle. Kinder und Jugendliche mit zumeist zwei arbeitenden Elternteilen stromern unbeaufsichtigt durch die Stadt. Gleichzeitig haben alle gemeinsam einen Blick auf die Jüngeren.

Obwohl die DDR-Führung der Jugend gerne verordnete, wie sie agieren soll, entsteht ab den 1970er Jahren eine alternative Jugendkulturen. Dabei spielt Musik eine große Rolle. Natürlich sind damit auch der Liedermacher Gundermann und seine „Brigade Feuerstein“ gemeint. Verschiedene Stile halten Einzug: Folk („Arbeiterfolk“), Blues, Metal etc.
Neben der Musik entwickelt sich in Hoyerswerda auch eine ausgeprägte Lesekultur. In allen Außenstellen existieren stark genutzte Betriebsbibliotheken.
„Jeder hat jede Woche bestimmt drei bis vier Bücher gelesen. Und alle die gleichen! Das war das Schöne, jeder konnte sich mit jedem darüber unterhalten.“ (Seite 86)
Dann kommt auch noch Kunst auf, die nicht den realsozialistischen Vorstellungen („sozialistischer Realismus“) entspricht, z.B. Dadaismus („Hoyerswerdada“). Dabei eckt man bei den Behörden an, aber es verläuft meist glimpflicher als an anderen Orten.

Lemke idealisiert aber nicht zu sehr, wenn auch die Nostalgie deutlich spürbar ist. Sie erzählt in ihrem Buch auch von ständigen Schlägereien und Banden bzw. regelrechten Gangs wie die „Elsterbande“.
Das Buch ist stark angereichert mit O-Tönen, zum Teil in Sächsisch, von Zeitgenoss*innen, die unkommentiert platziert werden. Die Neustadt scheint eine eigene Welt gewesen zu sein, die mit der Altstadt von Hoyerswerda oder den umliegenden Dörfern nur lockeren Kontakt hatte. Auch wenig Kontakt hatte man mit den Vertragsarbeiter*innen aus Ungarn, Jugoslawien, Polen, Algerien und später aus Mosambik. Diese sind räumlich in eigenen Wohnblöcken separiert. Man begegnet vor allem ihnen auf Arbeit. Zwar sucht man auch gemeinsame Freizeitstätten auf, aber den ‚Fremden‘ schlägt hier schon zu DDR-Zeiten immer wieder verhohlener und unverhohlener Rassismus entgegen. Diesen Hoyerschen mit Migrationsgeschichte gibt Lemke mit den O-Tönen des ehemaligen Vertragsarbeiters David aus Mosambik eine Stimme, der von seinen rassistischen Ausgrenzungs- und Gewalterfahrungen erzählt.

Seit den 1970er Jahren gibt es eine lebendige Jugendklub-Szene in der Stadt: Krabat-Klub, Utopia-Klub etc. Offiziell unter FDJ-Regie, aber mit so manchen Freiheiten.
Auch in Hoyerswerda entwickelt sich in den 1980er Jahren eine kleine Opposition. Die Öko-Bewegung trifft sich im King-Haus und gibt das Blatt „Grubenkante“ heraus, was über die Umwelt-Probleme in der DDR berichtet.
Unangepasste Jugendliche treffen sich im „Faxenhaus“, ab 1984 im „Laden“ oder andernorts. Die Fläche ist oft klein, so dass an einer Bar Bus-Halteschlaufen an der Decke hängen und es keine Hocker gibt, offenbar um Platz zu sparen.
Gleichzeitig hält ein nihilistischer Geist Einzug. Die Jugend des Arbeiter- und Bauernstaates zeigt Ermüdungs-Erscheinungen. Alles scheint schon so vorgezeichnet zu sein.

Dann schlägt die Wende ein wie ein Komet, allerdings in Hoyerswerda mit etwas Verspätung. Die linke Alternativkultur, der Grit Lemke angehörte, ist mit dem SED-Regime unzufrieden, schaut aber auch skeptisch auf den Anschluss an die Bundesrepublik. Sie veranstaltet dagegen sogar eigene, kleine Demonstrationen. Vergebens. Die Mehrheit will die DMark und aus der DDR-Opposition wird eine Massenbewegung für Wohlstandsanschluss. Die Linksalternativen rufen stattdessen die „Autonome Republik Ladanien“ aus. Der Zeitzeuge Rottl beschreibt es kurz so: „1990 war ja eh das große Andersrum.“ (Seite 149)
Die Wende führt zur Massenarbeitsloigkeit – 20.000 Mensche werden in Hoyersweda arbeitslos – und in der Folge schnell zur Massenabwanderung. Die Altstadt gewinnt wieder an Gewicht und die Neustadt wird bis heute stark rückgebaut, d.h. es werden Wohnblöcke abgerissen. Hoyerswerda verliert, wenn man die Eingemeindungen nicht gegen rechnet, 60% seiner Bewohner*innen. Gleichzeitig folgt im September 1991 das mehrtägige Pogrom gegen ausländische Arbeiter*innen. Der rassistische Mob siegt und die Angegriffenen werden aus der Stadt eskortiert. Lemke beschreibt wie Linke paralysiert sind in Anblick des Mobs von bis zu 1.500 Personen. Nach der Vertreibung der Migrant*innen sind die Linksalternativen das neue Ziel. Die ‚Baseballschlägerjahre‘ haben begonnen.
„Vor allem muss man wissen, woran man sie auseinanderhalten kann – denn scheinen jetzt Springerstiefel zu tragen. Und wir werden vergessen, wann wir angefangen haben, auf die Schuhe statt in die Gesichter zu sehen. Die Farbe der Schnürsenkel ist jetzt das Einzige, was zählt.“ (Seite 157)
Schließlich muss der alternative Treffpunkt „Laden“ schließen:
„Wenig später verkündet ein Flyer:
»BIM BIM BIM – DER LADEN macht zu!!!«
Im »großen Schlußverkauf mit Supermegasonderangeboten« wird neben einem »Bach zum Runtergehen incl. schöner Felle zum Davonschwimmen« auch ein »schnittiger Schaufelradbagger im Wert von DM 1,00 (unverbindliche Preisempfehlung der Treuhandanstalt)« angeboten.“
(Seite 213)

Trotz der Probleme erkennen auch die Linksalternativen sich nicht in dem wieder, was das westdeutsche Spiegel-Magazin in Reportagen über Hoyerswerda und seine Leute schreibt. Die Häme über die DDR-Architektur und alle Bewohner*innen wird als arrogant und falsch empfunden.
Nach dem Pogrom kommt es auch zu bundesweiten Antifa-Mobilisierungen nach Hoyerswerda, die aber eher den Charakter einer Strafexpedition hatten und von den Linksalternativen vor Ort als nicht sonderlich hilfreich empfunden werden.

Heute ist die Stadt geschrumpft, überaltert und eine AfD-Hochburg wie so viele Klein- und Mittelstädte in der Lausitz. Anderseits gibt es weiter eine linksalternative Subkultur. Der „Laden“ war die Keimzelle der heutigen „KulturFabrik“. Eine neue Generation von Punker-Jugendlichen erinnert die Stadt an das Pogrom von 1991 und hält es ihr vor, auch der älteren Generation von Linksalternativen, sofern sie in Hoyerswerda geblieben sind.

Als Leser*in hätte man gerne noch etwas über die negativen Folgen der engen sozialen Kontrolle in den Wohnblöcken erfahren. Wie wurden Personen behandelt, die irgendwie aus den normalen Rastern fielen? Zum Beispiel weil sie schwul oder lesbisch waren.
Die Doppelbelastung für Frauen im Realsozialismus, durch Lohn-Arbeit und care-Arbeit, klingt zwar immer wieder an, aber da hätte man sich auch ein wenig mehr gewünscht. Die Frauenrollen scheinen auch im realsozialistischen Hoyerswerda recht vorgezeichnet gewesen zu sein.
Ein Glossar für Wessis und Nachgeborene, welches bestimmte DDR-spezifischen Begriffe erklärt, wäre hilfreich gewesen. Manches erklärt sich aber auch aus dem Kontext, etwa warum der Zug aus der Lausitz nach Berlin im Volksmund „Sorbenschleuder“ hieß.

Das Buch ist klasse, auch durch die vielen Zitate. In ihm wird DDR-Alltagsleben beschrieben und allgemeine DDR-Alltagsgeschichte an einem spezifischen Beispiel nachgezeichnet. Hoyerswerda war einerseits als proletarische Planstadt etwas besonders und andererseits war vieles auch irgendwo typisch.
„Wenn jemand schon unbedingt in die DDR wollte: Mehr davon als bei uns gibt es woanders nicht …“ (Seite 51)
Die positiven Stimmen zu dem Buch von Grit Lemke sind auf jeden Fall gerechtfertigt. Unbedingt lesen!

Grit Lemke: Kinder von Hoy, Berlin, 4. Auflage 2022.

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Buchkritik: „Rechter Terror“ von Martin Steinhagen

Der Journalist Martin Steinhagen hat 2021 das Buch „Rechter Terror. Der Mord an Walter Lübcke und die Strategie der Gewalt“ veröffentlicht. In diesem berichtet er über den Prozess gegen Stephan Ernst und Markus H. wegen des Mords an dem Regierungspräsidenten und CDU-Mitglied Walther Lübcke in der Nacht vom 1. auf den 2. Juni 2019. H. galt lange als möglicher Komplize von Ernst bei der Tat – einige Beobachter*innen halten das auch weiter für wahrscheinlich.
Der Prozess umfasste 45 Verhandlungstage zwischen dem 16. Juni 2020 und dem 28. Januar 2021 und das Beweis-Material wurde in 260 Ordnern abgeheftet.

Sowohl den Haupttäter als auch das Opfer porträtiert der Autor. Stephan Ernst, Jahrgang 1973, blickt auf eine lange ‚Karriere‘ rechter Gewalt zurück. Bereits im April 1989 beging er als 15-Jähriger aus rassistischen Motiven einen Brandstiftungs-Versuch. Es folgte u.a. der Messerangriff auf einen Kurden auf einer Bahnhofstoilette im November 1992, bei dem das Opfer schwer verletzt wurde, und im Dezember 1993 ein Rohrbombenanschlags-Versuch auf das Auto eines migrantischen Arbeiters. Selbst in der folgenden Untersuchungshaft verletzt er einen türkischen Mithäftling schwer.

Neben dem Fall Lübcke gibt Steinhagen in seinem Buch die Geschichte des Rechtsterrorismus in Westdeutschland bis 1990 und im wiedervereinigten Deutschland danach wieder und er zeichnet die extrem rechten Strukturen in Nordhessen nach, in denen sich Ernst und H. bewegten.
Vor 1990 gab es laut Forschungen der Historikerin Barbara Manthe in Westdeutschland mehr als 40 Gruppen und Alleintäter im Bereich Rechtsterrorismus, auf deren Konto mindestens 24 Todesopfer gehen.
Man erfährt im Buch z.B. dass der Rechtsterrorist Manfred Roder vom iranischen Mullah-Führer Khomeini inspiriert wurde und dessen Strategie, Reden von sich auf Kassetten zu verbreiten, kopierte.
Als grundsätzliches Ziel von Rechtsterrorismus macht Steinhagen den Kampf gegen Liberalisierung aus: „Meist geht es im weitesten Sinne um den Versuch, gesellschaftliche Prozesse der Liberalisierung mit Gewalt aufzuhalten. Erfolg haben die Täter damit im Großen und Ganzen nicht.“ (Seite 96)
Doch Rechtsterrorismus verändert sich im Laufe der Zeit: „Wenn für die 1970er Jahre eher die Befehl-und-Gehorsam-Wehrsportgruppen prägend sind, zeichnet sich schon in seit den 1980ern eine Tendenz zu teils spontanen Zusammenschlüssen, kleineren Einheiten oder Zellen ab. Trotz des in den 1990ern verstärkt zirkulierenden Konzepts vom »führerlosen Widerstand« gibt es zugleich weiter Versuche, hierarchische militante Organisationen aufzubauen, und viele der alten langlebigen Strukturen überdauern den Trend.“ (Seite 130)

Selbst wenn Ernst bei dem Mord ein Alleintäter gewesen sein sollte, so bewegte er sich doch jahrzehntelang in einer Neonazi-Szene und danach online in einer entsprechenden Filterblase. Ernst ist ein Beispiel für die „Generation Hoyerswerda“, benannt nach dem rassistischen Pogrom von Hoyerswerda, die zur „Generation NSU“ wurde.
Beim Inlandsgeheimdienst („Verfassungsschutz“) galt Ernst als „abgekühlt“. Dabei ist es gut möglich dass Ernst am 6. Januar 2016 Ahmed I. mit einem Messer verletzt hat. Der Fall wurde im Lübcke-Prozess auch aufgerollt, aber das Gericht war von den Indizien nicht überzeugt.
Steinhagen stellt fest, altgewordene Neonazis „passen ihre Aktivitäten ihren Lebensphasen an“ (Seite 158). Dabei war Ernst politisch nicht inaktiv. Er besuchte 2016 AfD-Demos in Erfurt und in Eisenach und nahm am 1. September 2018 mit H. an einer extrem rechten Demo in Chemnitz teil. Zudem spendete er an die AfD (2016, 2017), an den extrem rechten Musiker Chris Ares (August 2018), an die „Identitäre Bewegung“ (bis 2019 insgesamt 300 Euro) und an das extrem rechte Netzwerk „Ein Prozent“ (September 2016). Außerdem kaufte er bei dem neurechten Verlag Antaios ein. Hier wird exemplarisch vom Autor aufgezeigt dass sich Neue Rechte und alte neonazistische Rechte nicht so fern sind. Ernst ist ein klassischer Neonazis, aber seine Sympathien galten auch nicht-neonazistischen Gruppen der extremen Rechten wie etwa der „Identitären Bewegung“.
Offline hatte er neben H. Auch noch einen rechten Resonanz-Raum bei seinen Arbeits-Kollegen, die offenbar auch rechts und rassistisch eingestellt waren.

Martin Steinhagen zeichnet in seinem Buch auch die Internet-Karriere eines Video-Clips nach. Markus H. filmte den Auftritt von Lübcke am 14. Oktober 2015 in Lohfelden bei einer Diskussion um die Unterbringung von Geflüchteten. Er schneidet den Clip manipulativ zusammen, so dass der Eindruck entsteht der Saal sei gegen Lübcke und Lübcke würde die Neuankömmlinge den Autochthonen vorziehen. In Wahrheit legte Lübcke nur den Pöbler*innen nahe dass sie den Wohnort wechseln könnten, wenn ihnen eine parlamentarische Demokratie nicht gefalle. Außerdem positioniert sich Lübcke gegen „Armutsflüchtlinge“ vom Balkan.
Doch der von H. zusammengeschnittene Clip erweckt einen anderen Eindruck und geht viral. Allein das Original-Video sammelt bis zum Urteil gegen Ernst und H. im Januar 2021 über 400.000 Klicks. In den Jahren 2017 und 2019 wird der Clip nochmal von der AfD-Freundin und Ex-CDU-Parteifreundin Lübckes Erika Steinbach verbreitet. Selbst bei bei PEGIDA in Dresden vor 15.000 Menschen wird Lübcke von Akif Pirrinci in einer Rede erwähnt.
Steinhagen nennt den Clip „Erregungsfutter“. Lübcke erhielt zeitweise Polizeischutz wegen der Hass-Wellen.
Offenbar erliegen Ernst und H. ihren eigenen Manipulationen. Der Erfolg des Clips bestärkt Ernst: „Er sieht sich offenbar als Teil einer Bewegung: »… wir sind nicht mehr allein und wir werden mehr.«“ (Seite 198)
Ernst schreitet zur Tat, er ist nicht der einzige alte Neonazis, der wieder aktiv wird. Auch der Angriff auf die Kölner OB-Kandidatin Henriette Reker am 17. Oktober 2015 wurde z.B. durch einen ‚wiederaufgetauten‘ Alt-Neonazi begangen.

Die seit 2015 verstärkt einsetzende rassistische Welle ist eine gemeinsame inhaltliche Klammer: „Vom Volkstod-Wahn der Neonazi-Szene bis zum »Deutschland schafft sich ab«-Raunen in Bestsellern ist die Vorstellung einer existenziellen Bedrohung des völkisch verstandenen »deutschen Volkes« weit verbreitet.“ (Seite 192)
Rechte Untergangsszenarien führen zu scheinbar notwendigen Vorbereitungen und diese wiederum verleiten schlimmstenfalls zu Taten: „Von den angesammelten Waffen – angeblich ja bloß für den Fall der Selbstverteidigung beschafft – kann eine Art Handlungsdruck ausgehen. Wie lange noch zusehen, wenn man doch vorbereitet ist?“ (Seite 254)

Das Buch ist sowohl für Thema-Einsteiger*innen etwas als auch für ‚Fortgeschrittene‘ im Thema. Es liest sich schlüssig und schnell.
Der journalistische Stil Szenen so zu beschreiben als wäre man dabei gewesen, etwa den Mord an Walter Lübcke, ist eindrucksvoll, kann aber manchmal zu sehr den Eindruck erwecken der Autor hätte die Szene selbst erlebt. Das ist aber eine Geschmackssache.
Die Lektüre des Buches sei jeder/jedem am Thema Interessierten ans Herz gelegt.

Martin Steinhagen: Rechter Terror. Der Mord an Walter Lübcke und die Strategie der Gewalt, Hamburg Mai 2021.

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Buchkritik: „22 Bahnen“ von Caroline Wahl

In ihrem Roman „22 Bahnen“ erzählt Caroline Wahl die Geschichte von Tilda Schmitt. Tilda lebt in einer unbenannten Kleinstadt mit ihrer kleinen Schwester Ida und ihrer Mutter im traurigsten Haus in der Fröhlichstraße. Ihre Mutter ist Alkoholikerin und phasenweise gewalttätig. Ihr Vater hat sich schon vor langer Zeit davon gemacht. Trotz dieser erschwerten Bedingungen schlägt sich Tilda durch. Sie arbeitet an der Supermarktkasse, sie studiert Mathe in einer Stadt, die einen Fahrtstunde entfernt liegt, und sie geht schwimmen. Immer 22 Bahnen. Wenn es regnet, kommt manchmal Ida mit. Im Schwimmbad begegnet Ihr Viktor Wolkow, der große Bruder von Ivan. Ivan war der Freund von ihrer besten Freundin Marlene. Er ist mit seiner Familie vor fünf Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen als sie sich gerade annäherten. Letztendlich kommen sich Tilda und Viktor näher, beide haben mehr auf ihren Schultern als viele andere Menschen in ihrem Alter. Deswegen betrachtet Tilda das unbeschwerte Studi-Leben der Anderen oft mit Neid. Denn sie muss sich um ihre kleine Schwester kümmern und Geld verdienen.
Das unbeschwerte Leben ihrer Freundin Marlene in Berlin stellt einen Kontrast zu ihrem Leben dar: „Während Marlene ein Gap-Year gemacht hatte, um sich selbst zu finden, jobbte ich inzwischen Vollzeit im Supermarkt, um mein im Herbst beginnendes Mathematikstudium zu finanzieren.“ (Seite 55)
Schon vorher hatte die Zahnarzt-Tochter Marlene mit ihrer Bilderbuch-Familie ein Leben, was Tilda beneidete. Denn ihre Familie ist keine „Abendbrot-Familie“, wie sie es nennt.
Das Mathe-Studium ist ihre Rettungsinsel vor dem Chaos in ihrem Leben, genauso wie das Schwimmen.

Die Autorin schreibt gut und authentisch, etwa wenn sie über den Prüfungsstress an der Universität schreibt: „Wie immer riecht es in den Unigebäuden in den letzten 2 Wochen vor den Semesterferien nach Stressschweiß, Kaffee und Tränen, und ich verbiete mir, mich von dieser Massenhysterie mitreißen zu lassen. Keine Kapazitäten. Wenn sich die Studenten in dieser Zeit wie von einem verrückten Virus infiziert, mit Augenringen unter den Augen, in Jogginghosen und mit riesengroßen Taschen volle Tupperdosen und Energydrinks in die Unis schleppen, als würden sie in den Krieg ziehen, und ihre Zelte an allen verfügbaren Tischen auf dem Gelände aufschlagen, finde ich das ein bisschen lustig, aber in erster Linie ärgere ich mich, dass mein Platz in der Unibib direkt am Fenster besetzt ist und auch alle anderen.“ (Seite 48)

Das Buch ist auch eine Liebesgeschichte, aber am anrührendsten ist die Liebe zwischen den beiden Geschwistern Tilda und Ida.
Obwohl das Buch nur knapp über 200 Seiten hat, ist es nicht zu kurz, sondern hat genau die richtige Länge.
Lest unbedingt mal rein!

Caroline Wahl: 22 Bahnen, Köln 2023.

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Buchkritik „Herkunft“ von Saša Stanišić

BILD Buch.Herkunft.by.Stanisic, Sasa

Das Buch „Herkunft“ hat Saša Stanišić 2018 verfasst. Es handelt sich um eine autobiografisch geprägte Splittersammlung von Anekdoten, Episoden und fiktiven Erzählungen, die grob chronologisch ist.
Der aus Bosnien-Herzegowina stammende Autor beschäftigt sich in seinem Buch mit dem Thema „Herkunftskitsch“, wie er selbst schreibt.
Eine besonders große Rolle nehmen seine jugoslawischen Großeltern ein.
„Großmutter entstammte einer Familie und einer Zeit, in der die Männer Schafe schoren und Frauen Pullunder strickten. Manieren blieben anwendungsbezogen, Fantasien unausgesprochen, die Sprache war präzise und grob. Dann kam der Sozialismus und diskutierte die Rolle der Frau, und die Frau ging aus der Diskussion nach Hause und hängte die Wäsche auf.“ (Seite 22)
Immer wieder taucht das titelgebende Thema Herkunft auf, oft in Frageform:
„Provenienz der Eltern? Gene, Ahnen, Dialekt? Wie man es dreht, Herkunft bleibt doch ein Konstrukt! Eine Art Kostüm, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestülpt worden ist. Als solches ein Fluch! Oder, mit etwas Glück, ein Vermögen, das keinem Talent sich verdankt, aber Vorteile und Privilegien schafft.“ (Seite 33)

Im Buch spielt auch der bosnische Bürgerkrieg und seine Nachbeben eine Rolle. Vor diesem flüchtete seine Eltern 1992 mit dem damals noch jungen Autor nach Deutschland. Eine Großmutter bleibt dagegen zurück. Die Ankunft in Deutschland ist ein Neuanfang in Armut. Die Eltern arbeiten sich kaputt, die Mutter in einer Wäscherei und der Vater auf dem Bau.
Immer wieder wird der Autor mit Rassismus konfrontiert:
„Wir tragen Häkchen im Namen. Jemand, der mich gern hatte, nannte meine mal »Schmuck«. Ich empfand sie in Deutschland oft eher als Hindernis. Sie stimmten Beamte und Vermieter skeptisch, und an den Grenzen dauerte die Passkontrolle länger als bei Petra vor und Ingo hinter dir.“ (Seite 61)
Nach ein paar Monaten in Deutschland wird die Familie im Emmertsgrund ansässig. Hier konzentrieren sich migrantische Bewohner*innen:
„Im Emmertsgrund wohnen besonders viele Migranten. Das ist in Deutschland überall gleich: Migranten wohnen meistens im Besondersviel. Touristen fahren tendenziell erst zum Brandenburger Tor, andere Touristen gucken, dann nach Neukölln, Kaffee trinken und Araber gucken, und das wird sich nicht so schnell ändern, da können wir interkulturelle Dialoge fürs Theater bis übermorgen schreiben.“ (Seite 126)
Im Jahr 1998 wandern seine Eltern nach Florida aus, um nicht nach Bosnien abgeschoben zu werden. Nur der Autor kann bleiben, um Schriftsteller zu werden. Er zieht für sein Studium ins Heidelberger Zentrum:
„Nach den Emmertsgrund, dem Ungeschliffenen, durfte ich bald die Altstadt [von Heidelberg], den Schmuckkasten, mein nennen. Die besten Hanglagen bewohnten hier nicht Migranten, sondern Burschenschaftler. Die Altstadt war stolz auf sich. Dass sie älter wurde, aber nicht älter aussah. Der Verfall wurde aufgehalten oder kaschiert. Man war stolz auf das Abschneiden der Universität in den Rankings, auf das Verschontgebliebensein von amerikanischen Bombern. Auf die Ausländer im Emmertsgrund war man sowieso stolz. Solange wir keinen Scheiß bauen.“ (Seite 128-29)
Der Autor stellt fest dass im Gegensatz zu den Kindern des deutschen Bürgertums das kulturelle Kapital fehlt.
Doch der Autor wird ein erfolgreicher Schriftsteller und hat selber ein Kind.
Währenddessen leidet seine bosnische Großmutter unter Demenz:
„Über ihr Jetzt hat sich ein Schleier aus Damals gelegt. Fiktionen sind hineingewoben.“ (Seite 47)
Stanišić tritt eine Reise nach Bosnien an, vermutlich um seine Großmutter ein letztes Mal zu treffen.

Das Buch liest sich schön und am Ende gibt es sogar eine Variante eines Pen&Paper-Spiels.
Allerdings ist die Komposition des Buchs möglicherweise nicht jedermanns Sache.
Vielleicht erstmal rein lesen und dann entscheiden, ob es zusagt.

Saša Stanišić: Herkunft, München 2019.

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Buchkritik „Solidarität“ von Natascha Strobl

Auf der Buchmesse in Leipzig habe ich mir das 2023 erschienene Büchlein „Solidarität“von Natascha Strobl gekauft und gleich signieren lassen. Es ist in einer Buchreihe mit dem schönen Namen „übermorgen Reihe“ erschienen.
Wie die Autorin selbst schreibt, ist es ein „Plädoyer für Mut und Zuversicht“ und ein „Antidot gegen Fatalismus, Zynismus und Defätismus“. In ihrem Buch plädiert Strobl für eine solidarische Krisenbearbeitung jenseits von einer liberalen oder einer autoritären.
Die liberale Krisenbearbeitung versucht die ‚gute alte Zeit‘ zu bewahren bzw. zu ihr zurückzufinden. Gegen diese 1990er-Jahre-Nostalgie wendet sich Strobl vehement: „Mittlerweile haben wir aber eine gänzlich andere Situation. Die Krise ist zur Normalität geworden und keine nervende Episode mehr, die vorübergeht. Die alte Normalität kommt nicht wieder. Sie ist unwiederbringlich weg. Diejenigen, die in der Asche dieser Normalität wühlen und glauben, dass sich daraus wieder Realität basteln ließe, haben den Blick auf die Gegenwart verloren.“ (Seite 29)
Ein Zurück gebe es nicht mehr: „Es gibt kein Zurück mehr in die Nachkriegsdemokratie mit all ihren Fehlern. Es gibt nur ein Vorwärts in der Geschichte. Das bedeutet, dass sich die Art, wie wir leben, wirtschaften, produzieren, wie wir wohnen, mobil sind, essen und arbeiten, grundsätzlich verändern wird.“ (Seite 41)
Diese konservative und sozialdemokratische Nostalgie ist stark verbunden mit dem von den 1980ern bis 2008 führenden Neoliberalismus. Doch die tonangebende Kapitalfraktion des Finanzkapitals wird nach Strobl von der jüngeren Fraktion des Tech-Kapitals herausgefordert. Das Tech-Kapital wird dabei verkörpert durch Personen wie Jeff Bezos, Elon Musk, Marc Zuckerberg oder Peter Thiel. Diese unterstützen zum Teil autoritäre Varianten der Krisenbearbeitung: „Hier sind vor allem die Milliardäre des Tech-Kapitals federführend, etwa Peter Thiel und Elon Musk, die offen für Trump eintreten und/oder antidemokratische Visionen ventilieren. Die Verbindung von ultraliberalem Wirtschaftsdenken und rechtem Kulturkampf eröffnet noch einmal ein ganz eigenes Einfallstor für autoritäre Lösungen, die zugleich technikaffin und demokratiefeindlich sind.“ (Seite 36)
Für Strobl ist die Wahl Trumps 2016 aber ein „Symptom der Krisen“ und nicht deren Ursache

Wie in ihrem gleichnamigen Buch warnt Strobl vor einem „radikalisierter Konservatismus“ als einer Art ‚Faschisierung‘. Es fragt sich aber, ob es sich nicht zum Teil um einen re-radikalisierten Konservatismus handelt, wenn man sich z.B. die Vertreter des (west-)deutschen Nachkriegs-Konservatismus wie Adenauer oder Strauß anschaut, die stark autoritäre Züge aufweisen. Zudem scheinen sich manche Konservative nur auf ökonomischer Ebene zu radikalisieren. Friedrich Merz hat die in ihn gesetzten rechtskonservativen Hoffnungen aus Sicht der Rechtskonservativen größtenteils enttäuscht. Er poltert zwar hin und wieder, aber ein wirklich rechtskonservatives Programm scheint er nicht zu haben.
Der politische Feind ist dabei oft nicht gut greifbar, denn es kam zu einer Art von Dezentralisierung der extremen Rechten: „Herkömmliche Formen der Organisierung sind in Zeiten von Social Media immer seltener. Vielmehr ist ein großes transnationales, diffuses Netzwerk an extrem rechten, konservativen und faschistischen Influencer:innen, Medienprojekten und Verlagen entstanden, das den globalen Kulturkampf vorantreibt.“ (Seite 33)
„Es gibt kein einzelnes hegemoniales Zentrum, das Vorgaben macht oder die Agenda setzt. Vielmehr passiert eine pausenlose gegenseitige Radikalisierung durch überzeichnete Anekdoten, Halbwahrheiten, Verzerrungen und Lügen.“ (Seite 34)

Strobl empfiehlt Linken sich von den bewahrenden autoritären Kräfte abzugrenzen und eben eine dritte Variante der Krisenbearbeitung anzubieten, jenseits einer autoritärer Krisenbearbeitung oder eines grünen Kapitalismus. Denn: „Konkrete und praktische Hoffnung auf eine radikale Änderung der Verhältnisse war immer die stärkste Waffe linker Politik.“ (Seite 68)
Das ist sicherlich richtig, aber manchmal bildete sich ein Bündnis von Linken mit bewahrenden Kräften, um eine rechte Machtübernahme zu verhindern. Da ist dann Biden besser als Trump und Macron besser als LePen.
Strobl jedenfalls plädiert für einen „solidarischen Antikapitalismus“ und dafür, die solidarische Klammer möglichst breit anzusetzen, um Mehrheiten zu gewinnen.
Ein grüner Kapitalismus, wie ihn die bewahrende Krisenbearbeitung, offeriert, würde eine Individualisierung der Krisen-Lasten bedeuten. Um der Gerechtigkeit willen dürfen die Krisen-Lasten aber nicht gleichmäßig verteilt werden, da sie gar nicht gleichmäßig verursacht wurden. In diesem Zusammenhang wendet sich Strobl auch gegen eine individuelle Verzichtsethik. Der Verzicht des Individuums sei nicht entscheidend, wenn 70% des globalen CO2-Ausstoß von nur 100 Firmen stammt.

Am Ende des Buchs finden sich „Beispiele für praktische Solidarität in der Gegenwart“ verkörpert durch die O-Töne von NGOs.

Drei kleine Kritikpunkte:

  • Die Zeitdiagnose, dass die Krise zur Normalität geworden sei, stimmt zwar für den Westen, aber damit ist die Krise vor allem in den Metropolen angekommen. Es sollte nicht ignoriert werden dass sie schon vor 2008 die Katastrophe in anderen Weltteilen für große Teile der Bevölkerung bittere Realität war.
  • Irgendwie hat sie das Thema Artensterben etwas vergessen. Sie erwähnt nur den Klimawandel.
  • Die hindunationalistische Partei BJP von Narendra Modi in Indien war nie „nur konservativ“, sie hatte immer einen hindunationalistische Charakter und in Teilen faschistoide Züge.

Die Lektüre des Buch lohnt sich. Der Preis ist aber mit 20 Euro ein wenig viel in Anbetracht der Seitenzahl.

Natascha Strobl: Solidarität, Wien 2023.

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