Johannes Kiess und Michael Nattke haben mit dem Buch „Widerstand über alles. Wie die Freien Sachsen die extreme Rechte mobilisieren“ in diesem Jahr ein erstes Buch über die extrem rechte Regionalpartei „Freie Sachsen“ vorgelegt.
Die Partei ist ein sächsisches Spezifikum, also in einem Bundesland, in dem „[…] spätestens seit 2015 auf extrem rechten Demonstrationen unterschiedliche Milieus Seite an Seite marschieren […]“ (Seite 14).
Sie bezeichnen die „Freien Sachsen“ sowohl als „Bewegungs- und Netzwerk-Partei“ (Seite 14) als auch als „Kleinstpartei“, vermutlich weil sie laut Wikipedia 1.000 Mitglieder hat.
Die Partei befinde sich zwar in Konkurrenz zur größeren Sachsen-AfD eröffnet aber auch „Möglichkeitsräume im Schatten der AfD“. So sieht das Autoren-Duo den AfD-Erfolg als Chance für die „Freien Sachsen“ und andere Neonazis. Denn: „Letztlich profitieren aber auch gewaltbereite Akteure von der Diskursverschiebung und Enthemmung, die AfD und Co. vorantreiben.“ (Seite 24)
Sachsen als Laboratorium
In ihrem Buch zeichnen die Autoren das Vorspiel bis zur Gründung der „Freien Sachsen“ nach. Diese sind ein legitimes Kind der sächsischen Zustände. So wird im Buch die Entstehung eines rechten Protestmilieus in Sachsen abgebildet. Benannt werden u.a. die NPD-Landtagsfraktion über zwei Legislaturperioden, PEGIDA und die Petry-AfD ab 2015.
Diese führen zu einer neuen Bandbreite: „Insgesamt herrscht eine bisher nicht da gewesene Vielfalt am rechten Rand.“ (Seite 20)
In Chemnitz bildete sich als Vorläufer der „Freien Sachsen“ die Lokalpartei „Pro Chemnitz“ heraus, die u.a. mit dem 2019 aufgelösten Verein „Freigeist“ kooperierte.
In der dann neu gegründeten Partei begegnen einem alte Bekannte wieder, die teilweise aus der neonazistischen Rechten stammen. Darunter sind gut vernetzte Neonazi-Kader, die über einige Organisations-Erfahrung verfügen, etwa Michael Brück, ein aus Dortmund stammender Neonazi, Stefan Hartung, ein langjähriger NPD-Kader, oder Max Schreiber, der 2019 für die NPD kandidierte.
Erinnert wird auch an die extrem rechten Großaufmärsche in Chemnitz 2018 infolge der rassistischen Instrumentalisierung eines Tötungsverbrechens. Bei diesem fanden sich alle Fraktionen und Organisationen der extremen Rechten in Form einer unausgesprochenen aber deutlich sichtbaren Straßen-Allianz zusammen.
Ab April 2020 folgte dann die Corona-Zäsur. Die Autoren identifizieren die Corona-Proteste dabei als wichtigstes Mobilisierungsthema der jungen Partei: „Das Thema »Corona« war das wichtigste diskursive window of opportunity für die Freien Sachsen, denn in einer breiten Bewegung von Maßnahmengegner:innen war der kleinste gemeinsame Nenner die fundamentale Ablehnung aller staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie.“ (Seite 127)
Corona war für die Partei ein Türöffnerthema auch für ihr Widerstandsnarrativ gegen ‚Diktatur‘ zu agieren, was eine Delegitimierung demokratischer Institutionen darstellt. Damit sind die „Freien Sachsen“ anders als die AfD deutlicher nicht nur eine Anti-Establishment- sondern auch eine Anti-System-Partei. Diese Haltung findet sich zwar auch in der AfD, verkörpert durch den Höcke-Flügel, aber weniger offen bzw. offensiv.
Wie anderen rechte Gruppen haben auch die „Freien Sachsen“ verschiedene Mobilisierungsthemen, aber in der Regel geht es ihnen eher um die Mobilisierung an sich als um das konkrete Thema: „Mit den zahlreichen Demonstrationen verfolgen sie nur beiläufig das Ziel, inhaltliche Anliegen voranzubringen. Vor allem geht es darum, Dominanz auf der Straße zu suggerieren und zu sichern sowie die Illusion einer eigenen Mehrheit für die Anhängerschaft aufzubauen.“ (Seite 99)
Kernanliegen der „Freien Sachsen“ ist ihre Feindschaft gegen das demokratische System:
„Anders gesagt: Bei den Freien Sachsen ist für verschiedene thematische Vorlieben Platz. Hauptsache der Untergang der Demokratie kommt nicht zu kurz.“ (Seite 127)
Dabei wird das Bundesland Sachsen als „antimoderne Gegenthese zur modernen Demokratie“ in Stellung gebracht.
Als ‚Masterframe‘ benennen die Autoren das populistische Bild von „Volk versus Elite“. Mit Elite ist aber nicht nur die sichtbare Elite gemeint. Die „Freien Sachsen“ machen im Hintergrund der Weltveränderung nämlich eine globale Verschwörung von „Globalisten“ aus.
Die „Freien Sachsen“ als Knotenpunkt in einem extrem rechten Netzwerk
Organisatorisch habe sich, so das Autoren-Duo, eine Trennung der verschiedenen Gruppen durchgesetzt, die aber trotzdem nicht zwingend zur Konkurrenz geführt hat:
„Allerdings streben diese Gruppierungen heute in der Regel nicht mehr nach einem gemeinsamen Organisationsdach, sondern nach Stärkung des Bewegungsgedankens. Mit ihm wird eine Klammer um die verschiedenen Strömungen gebildet, die gleichzeitig deren Selbstständigkeit gewährleistet.“ (Seite 20)
Die modernisierte Struktur werde inzwischen auch in der Wissenschaft erfasst: „Die extreme Rechte wird deshalb inzwischen als netzwerk- oder bewegungsförmiges Spektrum beschrieben, das nicht nur von (mehr oder weniger extremen, Wahlstimmen maximierenden und/oder Regierungsbeteiligungen anstrebenden) Parteien geprägt ist, sondern auch von Bewegungen und Netzwerken, die auf die Mobilisierung öffentlicher Unterstützung sowie subkultureller Milieus setzen […].“ (Seite 21)
Die „Freien Sachsen“ mobilisieren weit über ihre Mitgliederstärke hinaus. Bei ihrer bisher größten Demonstration am 8. Januar 2024 in Dresden kamen tausende zusammen. Auf Demonstrationen der „Freien Sachsen“ kommt es nicht selten zu Gewalt gegen Polizei, Journalist*innen und politische Gegner*innen.
Nicht immer klar ist, wer direkt zu den „Freien Sachsen“ gehört und wer ’nur‘ mitläuft oder ihr Merchandise nutzt. Tatsächlich zielen die „Freien Sachsen“ auf eine Corporate-Identity u.a. durch die Pflege eigener Marken ab. Durch die ausdrücklich erlaubten Doppelmitgliedschaften versucht man sich als Dach anzubieten.
Das Verhältnis zur AfD ist durchaus geprägt von Konkurrenz. Im Februar 2022 wurden die „Freien Sachsen“ vom AfD-Bundesvorstand auf die Unvereinbarkeitsliste gesetzt. In Sachsen konkurrierte man punktuell bei Wahlen mit der AfD. Bei den Landrats- und Bürgermeister-Wahlen 2022 errang die Partei dort, wo sie antrat zweistellige Ergebnisse. Trotzdem arbeitet man auf lokaler Ebene zusammen.
Zwar verfügen die „Freien Sachsen“ auch über ein eigenes Blatt, aber ihr mit Abstand wichtigstes Medium ist der Chat-Dienst Telegram. Hier hat ihr Hauptkanal hat 150.000 Abonnent*innen, wenn auch mit abnehmenden Views.
Die Regionalpartei bietet sich im Internet als Verstärker und Katalysator für Proteste an, indem sie Protestangebote über ihre reichweitenstarken Telegram-Kanäle bewirbt.
Das Buch ist eine gute analytische Annäherung an diesen neuen Akteur der extrem rechten Szene, der zwar vor allem in Sachsen aktiv ist, aber über Telegram eine Strahlkraft auf die gesamte rechte Protestszene entwickelt hat.
Allerdings werden die seltsamen Widersprüche dieses Akteurs im Buch nur bedingt aufgelöst. Etwa dass sich ein gesamtdeutscher völkischer Nationalismus durchaus mit einem sächsischen Regionalismus bis Separatismus schneidet. Hier hätte ein Blick auf die ähnlich ausgerichtete ehemalige „Lega Nord“ in Italien evtl. Erklärungsansätze angeboten.
Ebenso schwer ist zu verstehen, warum sich westdeutsche Neonazis, also ‚Wessis‘, so problemlos in einer sächsischen Regionalpartei engagieren können.
Dann bleibt da noch die große Frage „Warum – mal wieder – Sachsen?“ übrig bzw. spezifischer, warum die „Freien Sachsen“ mit ihrem Regional-Identitäts-Angebot so erfolgreich sind. Ein wichtiger Faktor dürfte hier sicherlich ein starkes sächsisches Sonderbewusstsein sein.
Fragen wie diese bieten auf jeden Fall Stoff für weitere Bücher über die extreme Rechte in Sachsen.
Das Buchs ist auf jeden Fall ein wichtiger Baustein im Versuch die sächsischen Zustände besser zu verstehen.
Johannes Kiess und Michael Nattke: Widerstand über alles. Wie die Freien Sachsen die extreme Rechte mobilisieren, 2024.