Mit einiger Verspätung habe ich das Buch „Incels. Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults“ von Veronika Kracher gelesen, was bereits 2020 erschienen ist und meines Wissens die erste ausführliche kritische Beschreibung der Incel-Bewegung auf Deutsch war.
Kracher erläutert am Buchanfang, was Incels sind: „Incels […] ist die Kurzform für »Involuntary Celibate«, also unfreiwillig im Zölibat Lebende. Es handelt sich um junge Männer, die der so genannte Blackpill-Ideologie anhängen, das nihilistischere Derivat der verschwörungstheoretischen und antifeministischen Redpill-Ideologie.
Die Redpill-Ideologie ist, kurz skizziert, eine maskulinistische Verschwörungsideologie, die besagt, dass der weiße, heterosexuelle und cisgeschlechtliche Mann inzwischen der große Verlierer unserer Zeit ist, in der die Welt vom Feminismus beherrscht wird, der wiederum eine jüdische Erfindung sei. Deswegen müsse sich der Mann auf ursprünglich männliche Werte zurückbesinnen und, da Männlichkeit sich für diese Redpiller über Abwertung von Weiblichkeit konstituiert, wo sie hingehören: in die Küche und ins Ehebett. Die Redpill-Ideologie ist die Ideologie narzisstisch gekränkter Männer, die panische Angst vor dem Verlust ihrer Hegemonie haben, die nun einmal auf der Unterdrückung und Ausbeutung anderer basiert.“ (Seite 11)
Die Autorin zeichnet die Entstehung und Radikalisierung dieser Bewegung nach. Tragischerweise wurde der Begriff ‚Incel‘ 1993 von einer queeren Frau eingeführt. Er sollte unfreiwillige Sexlose im Internet in Foren zusammen führen, um sich auszutauschen und zu unterstützen. Doch aus der gemischtgeschlechtlichen Selbsthilfe wurde ein männlicher „toxischer Kult“ (Kracher), der Frauen und „dem“ Feminismus die Schuld an der unfreiwilligen Enthaltsamkeit gab. Dahinter wurde von den Incels nicht selten eine Verschwörung ausfindig gemacht, z.B. des (‚jüdischen‘) Kulturmarxismus.
Grundlage dieser Entwicklung ist ein patriarchales Anspruchsdenken, wonach Frauen Männer zur Verfügung stehen hätten. Die Abweisung durch Frauen erzeugt daher eine narzistische Kränkung und Hass.
Obwohl es sich bei den Incels um eine, aus einer Online-Community entstandene, Bewegung oder Kult handelt, so ist es der Autorin wichtig darauf hinzuweisen, dass „der durchschnittliche Mann und der Incel ideologisch gar nichts so weit voneinander entfernt sind.“ (Seite 13)
Es entstand in den letzten Jahren eine eigene Subkultur, die u.a. über Memes kommuniziert und eine eigene Sprache entwickelt hat. So werden z.B. vermeintliche Alpha-Männer als „Chads“ und normschöne Frauen als „Stacys“ bezeichnet.
Mithilfe von teuren Seminaren so genannter ‚PickUp-Artists‘, die Manipulation und Übergriffigkeit lehren, oder mit Schönheits-OPs versucht man sich zu helfen.
Einige Incels greifen aber auch Frauen und Paare an, um sie zu ‚bestrafen‘. Einige wenige begingen sogar tödliche Amokläufe. Bis zum Erscheinen des Buchs 2020 gab es in den USA und Kanada über 50 Todesopfer durch misogyne Incel-Amokläufe. Auch wenn es die Taten Einzelner waren, so wurden sie durch die Incel-Online-Community angestachelt und in ihrem Frauenhass bestärkt. Frauen werden dort z.B. als „Femoids“ oder „Löcher“ bezeichnet, was eine Dehumanisierung zur Folge hat.
Diese Foren und Reddidt-Threads fungieren als verstärkende Echokammern für Frauenhass, Selbsthass und pathologisches Opferdasein. Mittel sind oft Zynismus, Fatalismus und ein Nihilismus bzw. Blackpill-Nihilismus. Zynismus und Nihilismus führen zu einer „moralischen Transgression“ („moralischen Grenzüberschreitung“). Oft anfangs noch ironisch gemeint, um „Normies“ (Normale) zu triggern, verfestigt sich die Verachtung für bestimmte Gruppen.
Amokläufer wie Eliot Rodger, der in der community zu den „Supreme Gentlemen“ gezählt wird, genießen Helden-Status. Doch Rodger ist kein Held, sondern ein Mörder. Er ermordete am 23. Mai 2014 sechs Menschen und verletzte weitere 14.
Für ihr Buch hat sich Kracher durch Rodgers 137 Seiten langes Manifest („My Twisted World“) gelesen und arbeitet Merkmale der Incel-Indentität heraus. Sie sieht bei ihm, wie bei anderen radikalisierten Incels, einerseits eine Sehnsucht nach Frauen und andererseits auch eine Ablehnung von Frauen. Mit Rückgriff auf die Psychoanalyse stellt sie bei vielen Incels eine gestörte Ich-Entwicklung fest.
Auch bei Klaus Theweleit und dem Modell des autoritären Charakters von Adorno und Horkheimer findet sie hilfreiche Ansätze zur Analyse der Incels.
Immer wieder betont sie, dass sich der Incel-Kult nicht im luftleeren Raum entwickelt hätte, sondern mit Patriarchat, Neoliberalismus und kapitalistische Entfremdung im Zusammenhang stehen würde.
Gegen den Selbsthass empfiehlt sie mehr Selbstliebe als Gegenmittel und ansonsten fordert sie: „Letztendlich ist der einzige konsequente Kampf gegen die Incel-Ideologie der Kampf für eine solidarische, egalitäre und von den Zwängen der patriarchalen Kapitalismus befreite Welt.“ (Seite 228)
Ich fand die Lektüre spannend und informativ. Manchmal, wenn sie der recherchierte Hass zu die Autorin zu sehr anstrengt hat, dann verwendete sie im Buch – verständlicherweise – einen ironischen bzw. sarkastischen Stil.
Mein größter Kritikpunkt ist das hässliche Cover, was mehrere Froschgesichter darstellen soll und auf die Altright-Ikone „Pepe der Frosch“ verweist.
Ein paar Fragen sind bei mir zurück geblieben. Etwa, ob das Zusammentreffen von Incels ausschließlich online stattfindet oder ob es auch Offline-Treffen gab?
Zwar erwähnt Kracher an einer Stelle die Bewunderung eines Teils der Incels für das IS-Kalifat, aber die Ähnlichkeit zum Hass auf Zärtlichkeit durch religiöse Tugendwächter hätte mich noch weiter interessiert. Ebenso erwähnt sie die Rolle von neuen sozialen Medien oder Mainstream-Pornografie, die falsche Bilder von Frauen und Sexualität erzeugen würden. Die durch Tinder und Co. verstärkte Oberflächlichkeit bzw. die damit verbundenen Schönheitsbilder als grundsätzliches Problem in der über-medialisierten Postmoderne hätten mich auch noch mehr interessiert.
Die Klage über den Verlust der ‚echten‘ Männlichkeit ist übrigens fester Bestandteil des neurechten Antiliberalismus, der dem gesellschaftspolitischen Liberalismus vorwirft alle alten Traditionen und Werte zu zerstören.
Die Lektüre ist durch die Zitate stellenweise anstrengend, aber wichtig.
Veronika Kracher: Incels. Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults, Mainz 2020