
Die 1993 erschienene Autobiografie „50 Jahre pervers“ schildert die „sentimentalen Memoiren“ des Autors Rosa von Praunheim, dem 1942 geborenen „Vater der Schwulenbewegung“.
Das Buch ist im besten Sinne schamlos und provokant geschrieben und es fängt bereits auf den ersten Seiten so an:
„Ich liebe Schwänze und freche Frauen.
Ich liebe Sensationen, Provokationen und Unverschämtheiten.
Ich liebe das Abenteuer, die Unruhe und harte Muskeln, ich hasse Anpasser und Feiglinge und finde Hausfrauen und Beamte exotisch.
Ich liebe mich, meine Energie und mein Arschloch.“
(Seite 11)
Die expliziten Schilderungen von Sex sind keine Mangelware in dem Buch. Auf zwei vollen Buchseiten präsentiert der Autor sogar sein Sextagebuch aus dem Jahr 1982.
Von Praunheims Geschichte ist eng verwoben mit der Geschichte der westdeutschen Schwulenbewegung. Nach seiner Kindheit und Jugend wird er Künstler und beginnt an der „Berliner Hochschule für bildende Künste“ zu studieren. Das damalige Westberlin beschreibt er wie folgt: „Damals war Berlin noch eine Insel der Freaks und Ausgestoßenen, der Minderheiten, Politclowns, Drogendealer und Schwulenhauptstadt. Damals gab es nur wenige Spekulanten und Werbeagenturen, die die Stadt überfluteten.“ (Seite 290)
In Berlin gründete er 1971 die „Homosexuelle Aktion Westberlin“ (HAW) mit, eine der ersten homosexuellen Selbstorganisationen der Nachkriegszeit. Auch stellte er die ersten Räumlichkeiten für das Berliner SchwuZ zur Verfügung. Außerdem ist er beteiligt am ersten CSD in Berlin 1973, an dem 600 Personen teilnahmen.
Von Beruf ist der Aktivist Film- und Theaterregisseur, Produzent, Autor und Dozent. Seine Filme sind meist Autoren- und Avantgardefilme, oft sehr experimentell. In über 50 Jahren drehte er über 150 Kurz- und Langfilme. Seine Dokumentarfilme haben eine aufklärerische Stoßrichtung. Etwa der 1971 entstandene Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“, der 1973 im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gezeigt wurde – mit Ausnahme von Bayern. In dem Film kommt es auch zum ersten Kuss zwischen zwei Männern, der im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde
Neben Berlin und München ist Rosa von Praunheim auch in den New York, Los Angeles und Washington ansässig. Auch dort taucht er in die schwule Subkultur ein und holt sich Inspiration.
Viele seiner Filme sind als eher künstlerische Fime kommerzielle Flops, weil sie nicht massentauglich sind. Wirklich wohlhabend wird er nicht. Im Buch schildert er wie er immer wieder sehr prekäre Zeiten durchsteht. Dass er seine Filme aber nicht auf den kommerziellen Erfolg ausrichtet, lässt ihn unabhängig und kreativ bleiben.
Trotzdem trifft und kennt er viele BRD-Prominente, was er nicht verschweigt. Manche Abschnitte im Buch lesen sich wie ein namedropping. So kennt er zum Beispiel Rainer Werner Fassbinder, Nina Hagen oder Wolf Biermann.
Im Konflikt mit akademischen und bürgerlichen Schwulen
Mit der akademisch geprägten 1968er-Bewegung kann er als Nicht-Akademiker nicht so viel anfangen: „Ich hatte lange einen Akademikerhaß. Selbst in der Studentenbewegung um ’68 fand ich die Szene eingebildet und elitär. Ich habe mich nie daran beteiligt. In der frühen Schwulenbewegung haßte ich schnell die Studenten, weil sie sich aus Angst vor Sex, dem Kampf auf der Straße und radikalen Forderungen in theoretische Argumente flüchteten.“ (Seite 36-37)
Er ist Teil der Bewegung, aber er legt sich auch immer wieder mit ihr an. Er selber schildert es als eine Art Zweifronten-Kampf: „Unsere Kritik ging in zwei Richtungen: gegen die repressive Gesellschaft und gegen die Feigheit der Schwulen. Ich wollte auch meine Wut auf diejenigen Schwulen loswerden, die sich passiv von Rockern in Parks verprügeln ließen, die aus den Toiletten rannten, statt dem zu helfen, der blutend in der Pisse lag. Ich hatte zu lange unter der eitlen und verklemmten Szene in Bars, Klappen und Schwimmbädern gelitten und unter der unpolitischen oder sogar konservativen Haltung vieler Schwuler.“ (Seite 120)
In seinem Konflikt mit bürgerlichen Schwulen outet er in der Öffentlichkeit immer wieder schwule Prominente gegen ihren Willen.
Die Katastrophe Aids
Das Virus verbreitete sich in den 1980er Jahren rasend schnell, besonders unter schwulen und bisexuellen Männern. Wie ein Meteorit schlägt Aids in die aufblühende schwule Subkultur ein.
Hier macht das Buch der nachgeborenen und nicht-schwulen Generation klar, welche Katastrophe Aids für die Schwulen darstellte und wie viele Tote sie in der schwulen Szene forderte. Der Vergleich mit dem Holocaust, den auch von Praunheim verwendet, ist sicherlich historisch falsch, aber er gibt das Lebensgefühl von damals wieder.
Rosa von Praunheim versucht über Aufklärung der Ausbreitung von Aids entgegen zu arbeiten. Im Januar 1985 rief der Regisseur im Berliner Schwulenzentrum die erste Aids-Aktionsgruppe ins Leben. Im selben Jahr organisierte er das erste große Aids-Benefiz in Deutschland im Berliner Tempodrom. Sein Film „Ein Virus kennt keine Moral“ (1986) war der erste deutsche Film über Aids. Er wird zum „Aids-Aufklärer der Nation“.
Seit Beginn der HIV-Epidemie war von Praunheim strikter Vertreter von Safer Sex, auch wenn er selber vereinzelt schwach geworden ist. Sein Safer Sex ließt ihn die Epedemie überleben.
Auch hier kam er in Konflikt mit Teilen der schwulen Szene. Diese wollten ihre Orgienräume nicht schließen und beklagten eine „Kondomisierung der Gesellschaft“. Das kritisiert Rosa von Praunheim: „Mir erschien es zynisch, daß die meistem Schwule das Prinzip der sexuellen Freiheit um jeden Preis hochhielten und die reale Gefahr des Virus herunter spielten.“ (Seite 315)
Problematische Verharmlosung der Pädophilen
Bei einem Randaspekt im Buch ist es schwer ihn zu thematisieren und gleichzeitig keine homophoben Klischees zu füttern. Im Zuge einer allgemeinen sexuellen sexueller Minderheiten versuchten in den 1970er und 1980er Jahren auch Pädophile sich an diese Emanzipation dran zu hängen. In dem 1993 erschienenen Buch klingen diese Versuche noch nach, als im allgemeinen Klima einer Enttabuisierung auch diese Gruppe offener auftrat. Etwa als der Autor fordert: „Wir müssen schnell lernen, auch Minderheiten unter den Schwulen zu verstehen und zu lieben. Wir müssen auch Knabenliebhaber, Lederleute oder Transvestiten unter uns akzeptieren.“ (Seite 139)
So ist es höchst problematisch, wenn er schreibt: „Für mich war das Thema Sex mit Kindern und Jugendlichen etwas völlig Neues. […] Oft schaffen erst Verbot und Kriminalität die Tragödie. Das wichtigste, wie bei allen Tabus, ist Reden, sich informieren, Schweigen und Schamgefühl durchbrechen.“ (Seite 240)
Es geht hier aber nicht um die Enttabuisierung des Themas an sich, sondern auch um die Enttabuisierung der damit verbundenen Handlungen. Leider erkennt Rosa von Praunheim nicht, dass es sich im Gegensatz zu anderen tabuisierten Formen von Begehren nicht um eine Interaktion zwischen zwei oder mehr mündigen Individuen handelt. Er geht damit den Pädophilen auf den Leim, die versuchen ihre eigene Agenda in eine sexuelle Emanzipations-Bewegung hinein zu schmuggeln. Etwas, was übrigens auch in der Grünen Partei der 1980er Jahre geschehen ist.
Dieses Thema flackert nur an wenigen Stellen im Buch auf, die Kritik daran soll aber nicht unter den Tisch fallen gelassen werden.
Fazit: Unbedingt lesen!
Die Autobiografie von Rosa von Praunheim schildert ein für Nachgeborene und Heterosexuelle unbekanntes Kapitel westdeutscher Geschichte.
Manches würde man heute wohl anders schreiben. So verwendet der Autor vereinzelt das rassistische N-Wort für Schwarze und das Z-Wort für Sinti und Roma.
Wer darüber hinweg lesen kann, die/der erfährt viel Neues und Unbekanntes. Besonders die Schilderung der Aids-Katastrophe für schwule Männer ist sehr eindrücklich.
Wer das Buch antiquarisch aufstöbert, sollte es unbedingt lesen!
Rosa von Praunheim: 50 Jahre pervers. Die sentimentalen Memoiren des Rosa von Praunheim, Köln 1993.