Buchkritik „Unterleuten“ von Juli Zeh

Mit einiger Verspätung habe ich den Roman „Unterleuten“ von Juli Zeh gelesen, der 2016 erschienen ist.
Handlungsort ist das fiktive „Unterleuten“, was 100 Kilometer von Berlin entfernt in der brandenburgischen Ost-Prignitz liegt. Gegen Buch-Ende findet sich anschauliche Beschreibung der Gegend:
„Sosehr er bereit war, brettflache Sandböden, eintönige Kiefernwälder und verfallende Gründerzeitarchitektur romantisch zu finden – Plausitz war von einer speziellen ostdeutschen Trostlosigkeit, die jedem fühlenden Menschen aufs Gemüt schlagen musste. Nach der Autobahnausfahrt passierte die Landstraße noch drei typische Dörfer, jeweils fünfzig Häuser mit Zigarettenautomat, Briefkasten und Sandstreifen am Straßenrand, auf dem die Autos parkten. Ringsum lagen ausgedehnte Weiden, auf denen sich Galloway-Rinder langweilten. Danach, im ersten Dunstkreis, verwandelten sich die Gegend in eine Rumpelkammer der Zivilisation. Kläranlage, Umspannwerk, Gewerbegebiet, Tankstellen, die Schallschutzwände der ICE-Trasse und die Lagerhallen einer Spedition sich zu einer Anti-Landschaft von frustrierender Beliebigkeit. Radwege nahmen die Landstraße in den Schwitzkasten, Kreisverkehre belästigten die Kreuzungen, an den Laternen hingen Hinweisschilder auf den Plausitzer McDonald’s. Zuletzt musste Frederik noch an den Shopping-Malls und Designer-Outlets vorbei, die die Stadt umgaben wie ein feindlicher Belagerungsring.“ (Seite 570-571)
Unterleuten umfasst 122 Haushalte, in denen 200 Leute („Unterleutchen“) leben. Hier hat die Tauschgesellschaft der Spät-DDR überlebt:
„Obwohl Unterleuten keine hundert Kilometer von Berlin entfernt lag, hätte es sich in sozialanthropologischer Hinsicht genauso gut auf der anderen Seite des Planeten befinden können. Unbemerkt von Politik, Presse und Wissenschaft existierte hier eine halb-archaische, fast komplett auf sich gestellte Lebensreform, eine Art vorstaatlicher Tauschgesellschaft, unfreiwillig subversiv, fernab vom Zugriff des Staates, vergessen, missachtet und deshalb auf seltsame Weise frei.“ (Seite 29)

Die Geschichte spielt 2010 und handelt von den Alteingesessenen und Neuzugezogenen, die sich in den Konflikt um die Aufstellung von zehn Windrädern begeben. Dieser ‚Windrad-Bürgerkrieg‘ sorgt dafür, dass alte Rechnungen beglichen und neue aufgestellt werden und die ganze Dorfgemeinschaft sich zerstreitet.
Jedes Kapitel hat Zeh aus der Perspektive eines oder einer Protagonist*in verfasst. Da sind zum Beispiel Rudolf Gombrowski und Kron, die seit Jahrzehnten miteinander verfeindet sind. Gombrowski ist Geschäftsführer der „Ökologica GmbH“, die er im November 1991 aus der Erbmasse der ehemaligen „Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft“ (LPG) formte. Auch die 250 Hektar Land brachte er mit ein. Die „Ökologica“ ist der größte Arbeitgeber in Unterleuten. Sein Erzfeind Kron, ein ehemaliger LPG-Brigadeführer, konnte sich im Gegensatz zu Gombrowski weniger gut mit den neuen Verhältnissen arrangieren. Er steht ihnen kritisch gegenüber:

„Kron wusste durchaus, was Freiheit war. Ein Kampfbegriff. Freiheit war der Name eines Systems, in dem sich der Mensch als Manager der eigenen Biographie gerierte und das Leben als Trainingscamp für den persönlichen Erfolg begriff. Der Kapitalismus hatte Gemeinsam in Eigensinn und Anpassungsfähigkeit verwandelt. […] Auf ihren Arbeitsstellen saßen die Leute unter Überwachungskameras, ließen sich die Zigarettenpausen verbieten und machten Überstunden in der Hoffnung, von der nächsten Kündigungswelle verschont zu bleiben. In den Schulen, die jetzt »Lernumgebungen« hießen, wurde nicht mehr unterrichtet, sondern Projekte entwickelt, Lernprozesse evaluiert und in Kernkompetenzen investiert. Die Krankenhäuser hatten sich in Gesundheitsfabriken verwandelt, in denen sich eine industrialisierte Medizin nicht um den Patienten, sondern um die Bettenrendite kümmerte […].“ (Seite 107)

Neulinge in Unterleuten sind dagegen Linda Franzen, eine Pferdewirtin, und ihr Freund Frederik Wachs, ein Spiele-Designer. Linda und Frederik besitzen eher zufällig ein Stück Land, welches zwei Parteien brauchen, um ihr Grundstück als neuen Windpark-Standort zu qualifizieren. Neben Gombrowski interessiert sich Konrad Meiler aus Ingolstadt für das Projekt, was 15.000 Euro jährlichen Pachterlös für jedes der zehn Windräder einbringt. Meiler hat in der Nachwende-Zeit mal eben 250 Hektar für 2,5 Millionen DM ersteigert. Er verkörpert im Buch den finanzstarken Wessis, der alles aufkauft. Linda Franzen versucht Gombrowski gegen Meiler auszuspielen. Franzen tritt den beiden älteren Männern gegenüber selbstbewusst und fordernd auf. Sie folgt in ihrem Tun den Anweisungen eines fiktiven Selbsthilfe-Guru. Seit drei Jahren leben in Unterleuten auch der Soziologie-Professor Gerhard Fließ und seine jüngere Frau Jule. Die beiden haben eine Tochter: Sophie. Gerhard Fließ hat Berlin bewusst den Rücken gekehrt, weil er sich als Linker von allen verlassen fühlt:

„Außer Gerhard schien niemand mehr zu glauben, dass Glück im gemeinsamen Kampf für eine gute Sache liege. Stattdessen suchten alle ihr Heil im Training von Körper und Geist. Gerhard fühlte sich umgeben von Athleten. Bildungsathleten, Berufsatheleten, Liebesathleten, Lebensathleten. Im Kampf hatte man sich stets als Teil einer Gruppe gefühlt; das Training machte einsam. Immerzu gingen die Menschen nach hause, zur Familie, zum Sport, zu ihrem Facebook-Profil. Gerhard fühlte sich zurückgelassen, mit hängenden Armen zuschauend, wie alle anderen in verschiedene Richtungen auseinanderliefen.“ (Seite 20)

Also bändelt er mit einer seiner Studentinnen an, sie bekommen eine Tochter und er wird Vogelschützer in der Unterleutner Halle, wo er im Allgemeinen über die 200 Hektar des Vogelschutzreservats Unterleuten wacht und im Speziellen 33 Kampfläufer, eine seltene Vogelart, beschützt. Neben dem Paar wohnt Bodo Schaller, der ehemalige Mann fürs Grobe von Gombrowski, mit dem das Paar einen Nachbarschaftsstreit anfängt. Hinzu kommen Kinder der benannten Protagonistinnen, Ehepartner, eine vermeintliche Geliebte und der Bürgermeister, Arne.
Als Krons Enkelin verschwindet, eskaliert die Situation.

Da jedes Kapitel aus der Perspektive einer anderen Person verfasst wurde, erfährt die/der Leser*in von den Fehlannahmen der Anderen in Bezug auf ihre Gegenspieler*innen oder Verbündete. So ist zum Beispiel Gerhard Fließ ein ziemlich dummer Mensch, der selbst seine Frau nicht richtig einschätzen kann.
Unterleuten ist die Dorfversion von „Games of Thrones“ und liest sich herrlich, auch weil Zeh so gut schreiben kann. Der letzte Satz im Buch lautet beispielsweise:
„Draußen legt sich die frühe Nacht dem Dorf wie eine beruhigende Hand auf den Scheitel.“ (Seite 635)

Juli Zeh: Unterleuten, München 9. Auflage 2017.

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