Buchkritik „Unser Deutschland-Märchen“ von Dinçer Güçyeter

Das 2022 erschienene Buch „Unser Deutschland-Märchen“ ist schwer zu charakterisieren. Es hat stark autobiografische und biografische Züge, da der Autor die meisten Abschnitte aus seiner Sicht und der fiktiven Sicht seiner Mutter Fatma schreibt.
Es geht um das Ankommen, Arbeiten und Aufwachsen in (West-)Deutschland. Fatma kommt als so genannte ‚Gastarbeiterin‘ nach Westdeutschland und Dinçer bezeichnet sich selbst als ‚Gastarbeiterkind‘. Hinzu kommen surreale Texte und Lieder, sowie Kapitel aus den Perspektiven weiterer Menschen, sowie mit Schwarzweiß-Fotografien aus dem Familienbilderalbum des Autoren. Es ist also eine Art semi-autobiografische Episoden-Erzählung.
Dabei nimmt die Perspektive der Mutter den größeren Teil des Buches ein. Dinçer Güçyeter setzt seiner Mutter also eine Art literarisches Denkmal.
Fatma hat es nicht leicht, als Frau, als Türkin und als Arbeiterin. Sie kommt mit 13 Jahren nach Deutschland, in eine für sie fremde Gesellschaft. Ihr Mann, Yilmaz, wird eher als Taugenichts beschrieben. Ständig verspekuliert sich und hat deswegen Schulden. Wie allgemein die türkischen Männer in Deutschland im Buch eher schlecht wegkommen. Viele sitzen in der Kneipe von Yilmaz und trinken und spielen. Die Arbeit dagegen machen die Frauen, so auch Fatma. Erst hat sie einen Putz-Job, später arbeitet sie in einer Schuhfabrik und als Fabrikarbeiterin bei Mercedes und gleichzeitig auf dem Feld. Hier erntet sie u.a. Spargel: „Nach meiner Schicht sammle ich alle Frauen vor ihrer Haustür ein, wir fahren zusammen nach Grefrath, verteilen uns wie Ameisen im Feld und stechen den goldenen Spargel aus seinem Versteck. Ich verstehe nicht so ganz, warum Deutschland diese Wurzelart so heilig ist, aber egal, Hauptsache, ich kann damit Geld verdienen.“ (Seite 55-56)
Sie muss auch arbeiten, um die Schulden ihres Mannes abzustottern und für ihre beiden Söhne, den 1979 geborenen Dinçer und den 1982 geborenen Özgür, sorgen. Auch die Care-Arbeit bleibt an ihr bzw. an den Frauen hängen. Mit der Schwiegermutter, der Schwägerin und weiteren ist es ein achtköpfiger Haushalt, den Fatma aufopferungsvoll versorgt und managt.
Das Buch zeigt in seinen Frauenperspektiven das Patriarchat kritisch auf. Auch Rassismus wird thematisiert. Der Alltagsrassismus aber auch die rassistische Gewalt. So heißt es etwa über die Zeit nach den tödlichen Brandanschlägen in Solingen und Mölln: „Die nächsten Nächte habe ich schlaflos am Fenster verbracht, jeder Schatten umzingelte meinen Körper mit einer neuen Angst.“ (Seite 125)
Die Mutter schuftet für ein besseres Leben für ihre Kinder, engt sie aber auch ein, in ihrer Rollen-Erwartung an diese. Dinçer versucht dem gerecht zu werden, und arbeitet seit dem achten Lebensjahr mit. Er soll Arbeiter werden und beginnt auch eine Ausbildung als Dreher. Das härtet den Träumer ab, aber eigentlich will er Literat werden, auch wenn das kein sicherer Beruf ist. Es kommt zum Bruch mit der Mutter als er anfängt seinen eigenen Träumen zu folgen. Trotz des Ausbruchs aus seinem Milieu, bleiben viele Prägungen zurück: „Wenn du als Gastarbeiterkind die gesamte Jugend damit verbracht hast, deinen Lehrern, den Vorarbeitern, Dozenten etwas zu beweisen, dann steckt diese Kerbe tief im Fleisch, und für den Rest des Lebens kämpfst du damit, die Wunde zu heilen, dich zu befreien.“ (Seite 191)

Das Buch ist auch ein literarische Liebeserklärung des Autors an seine Mutter. Es ist ein Buch aus migrantischer, teilweise weiblicher Perspektive über das Ankommen in Westdeutschland. Es ist individuell und steht doch auch stellvertretend für Millionen Biografien.
Besonders die poetische Sprache – der Autor schreibt auch Gedichte – ist schön.
Ein Lesetipp!

Dinçer Güçyeter: Unser Deutschlandmärchen, Berlin 2022.

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