Buchkritik „Solidarität“ von Natascha Strobl

Auf der Buchmesse in Leipzig habe ich mir das 2023 erschienene Büchlein „Solidarität“von Natascha Strobl gekauft und gleich signieren lassen. Es ist in einer Buchreihe mit dem schönen Namen „übermorgen Reihe“ erschienen.
Wie die Autorin selbst schreibt, ist es ein „Plädoyer für Mut und Zuversicht“ und ein „Antidot gegen Fatalismus, Zynismus und Defätismus“. In ihrem Buch plädiert Strobl für eine solidarische Krisenbearbeitung jenseits von einer liberalen oder einer autoritären.
Die liberale Krisenbearbeitung versucht die ‚gute alte Zeit‘ zu bewahren bzw. zu ihr zurückzufinden. Gegen diese 1990er-Jahre-Nostalgie wendet sich Strobl vehement: „Mittlerweile haben wir aber eine gänzlich andere Situation. Die Krise ist zur Normalität geworden und keine nervende Episode mehr, die vorübergeht. Die alte Normalität kommt nicht wieder. Sie ist unwiederbringlich weg. Diejenigen, die in der Asche dieser Normalität wühlen und glauben, dass sich daraus wieder Realität basteln ließe, haben den Blick auf die Gegenwart verloren.“ (Seite 29)
Ein Zurück gebe es nicht mehr: „Es gibt kein Zurück mehr in die Nachkriegsdemokratie mit all ihren Fehlern. Es gibt nur ein Vorwärts in der Geschichte. Das bedeutet, dass sich die Art, wie wir leben, wirtschaften, produzieren, wie wir wohnen, mobil sind, essen und arbeiten, grundsätzlich verändern wird.“ (Seite 41)
Diese konservative und sozialdemokratische Nostalgie ist stark verbunden mit dem von den 1980ern bis 2008 führenden Neoliberalismus. Doch die tonangebende Kapitalfraktion des Finanzkapitals wird nach Strobl von der jüngeren Fraktion des Tech-Kapitals herausgefordert. Das Tech-Kapital wird dabei verkörpert durch Personen wie Jeff Bezos, Elon Musk, Marc Zuckerberg oder Peter Thiel. Diese unterstützen zum Teil autoritäre Varianten der Krisenbearbeitung: „Hier sind vor allem die Milliardäre des Tech-Kapitals federführend, etwa Peter Thiel und Elon Musk, die offen für Trump eintreten und/oder antidemokratische Visionen ventilieren. Die Verbindung von ultraliberalem Wirtschaftsdenken und rechtem Kulturkampf eröffnet noch einmal ein ganz eigenes Einfallstor für autoritäre Lösungen, die zugleich technikaffin und demokratiefeindlich sind.“ (Seite 36)
Für Strobl ist die Wahl Trumps 2016 aber ein „Symptom der Krisen“ und nicht deren Ursache

Wie in ihrem gleichnamigen Buch warnt Strobl vor einem „radikalisierter Konservatismus“ als einer Art ‚Faschisierung‘. Es fragt sich aber, ob es sich nicht zum Teil um einen re-radikalisierten Konservatismus handelt, wenn man sich z.B. die Vertreter des (west-)deutschen Nachkriegs-Konservatismus wie Adenauer oder Strauß anschaut, die stark autoritäre Züge aufweisen. Zudem scheinen sich manche Konservative nur auf ökonomischer Ebene zu radikalisieren. Friedrich Merz hat die in ihn gesetzten rechtskonservativen Hoffnungen aus Sicht der Rechtskonservativen größtenteils enttäuscht. Er poltert zwar hin und wieder, aber ein wirklich rechtskonservatives Programm scheint er nicht zu haben.
Der politische Feind ist dabei oft nicht gut greifbar, denn es kam zu einer Art von Dezentralisierung der extremen Rechten: „Herkömmliche Formen der Organisierung sind in Zeiten von Social Media immer seltener. Vielmehr ist ein großes transnationales, diffuses Netzwerk an extrem rechten, konservativen und faschistischen Influencer:innen, Medienprojekten und Verlagen entstanden, das den globalen Kulturkampf vorantreibt.“ (Seite 33)
„Es gibt kein einzelnes hegemoniales Zentrum, das Vorgaben macht oder die Agenda setzt. Vielmehr passiert eine pausenlose gegenseitige Radikalisierung durch überzeichnete Anekdoten, Halbwahrheiten, Verzerrungen und Lügen.“ (Seite 34)

Strobl empfiehlt Linken sich von den bewahrenden autoritären Kräfte abzugrenzen und eben eine dritte Variante der Krisenbearbeitung anzubieten, jenseits einer autoritärer Krisenbearbeitung oder eines grünen Kapitalismus. Denn: „Konkrete und praktische Hoffnung auf eine radikale Änderung der Verhältnisse war immer die stärkste Waffe linker Politik.“ (Seite 68)
Das ist sicherlich richtig, aber manchmal bildete sich ein Bündnis von Linken mit bewahrenden Kräften, um eine rechte Machtübernahme zu verhindern. Da ist dann Biden besser als Trump und Macron besser als LePen.
Strobl jedenfalls plädiert für einen „solidarischen Antikapitalismus“ und dafür, die solidarische Klammer möglichst breit anzusetzen, um Mehrheiten zu gewinnen.
Ein grüner Kapitalismus, wie ihn die bewahrende Krisenbearbeitung, offeriert, würde eine Individualisierung der Krisen-Lasten bedeuten. Um der Gerechtigkeit willen dürfen die Krisen-Lasten aber nicht gleichmäßig verteilt werden, da sie gar nicht gleichmäßig verursacht wurden. In diesem Zusammenhang wendet sich Strobl auch gegen eine individuelle Verzichtsethik. Der Verzicht des Individuums sei nicht entscheidend, wenn 70% des globalen CO2-Ausstoß von nur 100 Firmen stammt.

Am Ende des Buchs finden sich „Beispiele für praktische Solidarität in der Gegenwart“ verkörpert durch die O-Töne von NGOs.

Drei kleine Kritikpunkte:

  • Die Zeitdiagnose, dass die Krise zur Normalität geworden sei, stimmt zwar für den Westen, aber damit ist die Krise vor allem in den Metropolen angekommen. Es sollte nicht ignoriert werden dass sie schon vor 2008 die Katastrophe in anderen Weltteilen für große Teile der Bevölkerung bittere Realität war.
  • Irgendwie hat sie das Thema Artensterben etwas vergessen. Sie erwähnt nur den Klimawandel.
  • Die hindunationalistische Partei BJP von Narendra Modi in Indien war nie „nur konservativ“, sie hatte immer einen hindunationalistische Charakter und in Teilen faschistoide Züge.

Die Lektüre des Buch lohnt sich. Der Preis ist aber mit 20 Euro ein wenig viel in Anbetracht der Seitenzahl.

Natascha Strobl: Solidarität, Wien 2023.

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Buchkritik „Unter Palmen aus Stahl“ von Dominik Bloh

Die 2021 erschienene Autobiografie „Unter Palmen aus Stahl“ von Dominic Bloh ist das Selbstzeugnis eines ehemaligen Obdachlosen. Davon gibt es inzwischen einige, so dass man nicht mehr nur auf investigative Journalist*innen angewiesen ist, die Obdachlosigkeit simulieren, um darüber schreiben zu können.

schwierige Jugend
Bloh wächst in einer Familie auf, die den „Zeugen Jehovas“ angehört. Die haben ohnehin sehr einengende Regeln und gleichzeitig erfährt er auch Gewalt durch einen Partner seiner Mutter. Die Mutter trennt sich von dem Partner und Bloh lebt mit einer psychisch kranken Mutter in Hamburg. Dann zieht er mit seiner Mutter 2003 von Hamburg nach Vöhringen. Hier muss er sich als Großstadt-Junge erst integrieren. Über Sport findet er Zugang. Seine Vorlieben sind Hiphop und Basketball („Basketball ist schon immer mehr als ein Sport für mich.“, Seite 50).
In Vöhringen leben seine Großeltern, doch im Oktober 2004 stirbt seine Oma:
„Sie ist die einzige, die mich in den Arm nimmt.“ (Seite 54), schreibt er. Offenbar gab es nicht viel Zärtlichkeit in seiner Jugend.
Seine Mutter ist arm, was ihm aber erst relativ spät so richtig bewusst wird. Diese Armut macht ihn in der Schule zum Außenseiter, genauso wie seine Locken, seine Neurodermitis und seine Schuppenflechte. Die Cortison-Tabletten gegen die Neurodermitis lassen ihn auch noch aufdünsen. Später lässt er die schlimmsten rote Flecken auf seiner Haut mit Tattoos überstechen: „Die schlimmsten Stellen sind mit schwarzer Tinte übermalt.“ (Seite 39)
Er versucht sich anzupassen gerät gleichzeitig in eine Clique von gleichaltrigen Kleinkriminellen. Die Gruppe verübt kleinere Diebstähle und Einbrüche in Gartenlauben und man betätigt sich ab der achten Klasse als Gras-Dealer. Das erste Gras klaut er seinem Stiefvater, der ebenfalls dealt. Einerseits wird er dadurch plötzlich beliebt, andererseits kommt es zu Verteilungskämpfen mit älteren Dealern und er gerät in den Fokus der Polizei. Erstmals richtig festgenommen wird er mit 15.

auf der Straße gelandet
Auf die Straße gerät er mit 16 Jahren, weil seine Mutter ihn im Februar 2005 mitleidslos hinaus wirft. Mit kleinen ‚Pausen‘ ist Bloh dann von 16 bis 28 obdach- und wohnungslos. Manchmal ist er irgendwo Kurzzeit-Untermieter, was aber nie länger hält. Zwischendurch hat er eine kurze Kiez-Karriere als eine Art Geldeintreiber für einen Luden. Doch das stellt keine Zukunft für ihn dar und er quittiert den Job.

Eigentlich wäre damals ein Amt für den minderjährigen Obdachlosen zuständig. Doch sein Fall wird hin und her geschoben und so richtig fühlt sich niemand verantwortlich. Die Ämter-Bürokratie ist gnaden- und empathielos. Er schildert die Demütigung durch Gutscheine infolge einer Sperre: „Die Sanktionen vom Amt sind schwer zu ertragen. Sie sind demütigend und erniedrigend. Ich bekomme wieder Lebensmittelgutscheine. […] Ich versuche immer zu warten, bis eine Kasse frei ist, doch man kann auch nicht überall den Gutschein einlösen, meistens geht das nur in großen Supermärkten. Also steht hinter mir doch oft eine Schlange und beobachtet das Schauspiel. Dieses Papier kennen nur wenige Kassierer, und die Umstehenden haben es wahrscheinlich auch noch nie gesehen. Die Kassierer nehmen mir den Zettel ab und legen ihn vor sich. Zum Abgleich , dass ich auch wirklich die Person bin, die über den Gutschein verfügen darf, muss ich meinen Ausweis zeigen. Der Kassierer alleine ist nicht befugt, den Gutschein als Zahlungsmittel einzulösen, er muss den Filialleiter dazuholen. Der Filialleiter prüft erneut und mit einem deutlich Strengeren Blick das Papier und den Ausweis, dann tippt er etwas in die Kasse, und der Kassierer behält den Gutschein ein. Das Ganze dauert fünf Minuten. Die Zeit geht nicht rum, und jede einzelne Sekunde möchte ich nicht ich sein.“ (Seite 84-85)
Auf dem Amt wird er nicht mehr als Individuum wahr genommen, sondern ist nur noch eine Nummer: „Hier ist es zum ersten Mal passiert. Ein Mensch unterhält sich mit mir, ohne mit mir zu reden. Sein Blick ist immer nur auf die Papiere vor ihm gerichtet. Mit mir spricht er nicht, als Mensch nimmt er mich nicht wahr. Ich bin eine Akte.“ (Seite 69)

Einmal verschafft ihm das Amt auch eine ‚Wohnung‘, die aber seiner Beschreibung nach eher eine bessere Baustelle ist. Die Wohnung ist ohne Strom und Boden. Er ist auch hilflos, weil ihm niemand die notwendigen Amts-Besorgungen etc. erklärt hat und landet schließlich wieder auf der Straße.
Trotz der mehr als widrigen Umstände geht Bloh als Obdachloser ein Jahr lang weiter zur Schule und sogar im Alter von 23 sein Abitur. Was ihn neben der Motivation sein Abitur zu machen, um es einem ignoranten Lehrer zu zeigen, auch psychisch am Leben erhält, ist sein Schreiben: „Die Wörter helfen mir dennoch weiter durch die Nacht zu kommen.“ (Seite 113)
Auch von Rapsong-Zeilen. Einige Zitate sind im Buch eingestreut.
Vor Freund*innen kaschiert er seine Obdachlosigkeit, auch aus falschen Stolz. Er ernährt sich u.a. von McDonalds-Ein-Euro-Burgern und entwickelt wie jeder Obdachlose Überlebens-Techniken.
Bloh schreibt über seine Straßen-Zeit: „Überleben ist kein Leben.“ An anderer Stelle schreibt er: „Abgekapselt von der Außenwelt. Gleichzeitig permanent meiner Außenwelt ausgesetzt. Ich überlebe in ihr.“ (Seite 111)

Er überlebt auch als Pfandflaschensammler. Er beschreibt sehr authentisch wie dieses Mülleimer-Durchforsten sich anfühlt:
„In Mülleimer fassen, das ist demütigend, niemand sollte das tun müssen. Es sind nicht nur Obdachlose, die in Abfällen auf der Suche nach Pfand oder Verwertbarem sind. Ich sehe Altersarmut. […] In der heißen Jahreszeit fühlt es sich an, als würde man in einen Sumpf greifen. Fast-Food-Reste und klebrige Softdrinks mischen sich, die Hitze wärmt den Brei auf und verbreitet seinen Gestank. Es ist nicht schön, mit der Hand da reinzugehen, vor allem klebt es an einem.“ (Seite 92-93)
Zu Recht kritisiert er das System der Freiheitsersatzstrafe für arme Menschen: „Ich habe nie verstanden, wieso Menschen, die nichts haben, Geldstrafen bekommen, ich werde es nie verstehen.“ (Seite 85-86)

Er ist Gewalt, Hitze und Kälte ausgesetzt und schildert seine Erlebnisse. Die Umstände machen ihn dauerkrank. Der ständige Überlebenskampf auf der Straße verhindert es Pläne und Perspektiven zu entwickeln:
„Es bleibt immer die Frage: Wohin als Nächstes? Überlegungen verlaufen ins Leere wie die Wege, die ich gehe.“ (Seite 112)
An anderer Stelle schreibt er traurig: „Alle Wege auf der Straße führen in die Einsamkeit.“ (Seite 132)
Eine Grund-Hygiene auf der Straße einzuhalten ist natürlich sehr schwierig: „Körper und Geist gehen Hand in Hand. Das äußerliche Erscheinungsbild schlägt sich auf mein inneres Befinden aus. Ich hatte kein Selbstbewusstsein mehr, keine Selbstsicherheit, kein Selbstwertgefühl. Ich war immer dreckig und irgendwann habe ich mich selber nur noch für Dreck gehalten.“ (Seite 120-121)

Dazu kommen die sozialdarwinistischen Anfeindungen durch Teile der Bevölkerung: „Ich kriege Sprüche an den Kopf geknallt, häufiger als nette Worte oder mal ein freundliches Lachen. „Such dir einen Job, du Penner!“, das ist mir Sicherheit der Satz, den ich am meisten anhöre.“ (Seite 122)
„Ich glaube, dass es nicht viele Menschen gibt, die sich an einem Tag so viele Beleidigungen anhören müssen wie Obdachlose.“ (Seite 134)
Ebenso kommt es zu Übergriffen: „Ich werde in viele Schlägereien verwickelt, die immer von derselben Art Menschen ausgehen. Typen, die keinen Wert in uns sehen und denken, sie könnten tun, was sie wollen.“ (Seite 137)

Im Jahr 2015 engagiert er sich in der Flüchtlingshilfe, bekommt Anerkennung und zieht in eine Studi-WG ein. Von hier aus organisiert er sich eine Wohnung und entkommt der Straße.

Die Lektüre geht des Buchs an die Nieren und soll es auch. Es wird das harte Leben eines ‚Bürgersteigkindes‘ geschildert. Immerhin mit Happy End.
Der Kauf lohnt sich!

Dominic Bloh: Unter Palmen aus Stahl, Weinheim 2021.

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Buchkritik „The Making of an Englishman“ von Fred Uhlman

Auf einer Führung durch die Gedenkstätte „Hotel Silber“, dem ehemaligen Gestapo-Quartier in Stuttgart, empfahl die Führerin Janka Kluge die Autobiografie „The Making of an Englishman“ von Fred Uhlman (1901-1985). Ich habe mir das Buch bestellt und mit Wissensgewinn und mit viel Vergnügen gelesen.
Das Buch erschien bereits 1960 auf Englisch und 1998 in Deutsch. Fred Uhlman beschreibt darin sein Leben bis 1933 in Deutschland und ab 1933 im Exil.

Kindheit und Jugend
Uhlman kam aus einer jüdisch-säkularen wohlhabenden Familie. Doch Geld allein macht nicht glücklich, seine Eltern waren unglücklich in einer arrangierten Ehe gefangen.
Das Judentum spielte für Uhlman in seiner Kindheit und Jugend kaum eine Rolle. Doch Erfahrungen mit Antisemitismus machte er immer wieder. Laut ihm machte machte der christliche Religionsunterricht an seiner schule sogar aus ihm selbst „einen kleinen Antisemiten“.
Er schrieb über den Charakter von Antisemitismus: „Antisemitismus ist eine seltsame Krankheit, die sich an den unwahrscheinlichsten Stellen ausbreitet. Er ist bei vielen, die davon nichts ahnen, unterschwellig vorhanden. Sie sind dann bestürzt und beschämt, wenn er bei ihnen hervortritt. Der eine kann unser Freund sein und uns in sein Haus einladen, aber er würde eher sterben, als uns in seinen Club mitzunehmen. […] Meine eigenen Erfahrungen haben in mir eine gewisse Empfindlichkeit hinterlassen, die Angst, verletzt zu werden. Wie ein Seismograph fühle ich die kleinste Erschütterung und neuen Bekannten gegenüber bin ich instinktiv vorsichtig.“ (Seite 41)
In der Novemberrevolution 1918 wird er Mitglied einer reaktionären Einwohnerwehr, die sich vor allem aus Schülern seines Gymnasiums zusammen setzt.

Studium und Arbeit als Rechtsanwalt
Dann beginnt Uhlman ein Jura-Studium in Freiburg, München und Tübingen. In Freiburg wurde er Mitglied der schlagenden jüdischen Studentenverbindung Ghibellinia im KC. Eine nicht-jüdische Verbindung war ihm als Juden nicht zugänglich: „Alle Verbindungen hatten etwas gemeinsam: Sie nahmen keine Juden auf, verachteten die »Spießbürger« (das heißt, die Einwohner der Stadt) und hatten keinerlei Kontakt mit der Arbeiterklasse.“ (Seite 75)
Alle Bemühungen halfen nichts. So schrieb er über einen jüdisch-stämmigen, konvertierten Kommilitonen in Tübingen: „Einer von ihnen war Jordan, der aus einer vornehmen, aber getauften jüdischen Familie stammte. […] Er biederte sich den unbedeutendsten, nichtjüdischen Studenten an, um in ihrer Gesellschaft gesehen zu werden. Aber trotz aller Bemühungen war er meistens alleine. Jede Verbindung, in die er eintreten wollte, hatte ihn abgelehnt.“ (Seite 112)
Uhlman schreibt auch über das unter ’schlagenden‘ Verbindungen praktizierte Mensur-Fechten: „Wer Glück hatte, erhielt einen schönen Durchzieher – einen geraden Schlag, der die Wange spaltete und gelegentlich ein paar Zähne ausschlug. Wer aber Pech hatte, erhielt einen Schlag über den Mund oder die Nase, was in der Tat sehr unangenehm war. Eine »geraden« zu bekommen war der Traum eines jeden Corpsstudenten, aber überhaupt einen Schmiss zu haben war besser als keinen, da er der Öffentlichkeit bewies, daß man »etwas Besseres« war – ein Akademiker.“ (Seite 80-81)
Nach einem einjährigen Aufenthalt in München, studiert Uhlman in Tübingen zu Ende, aber er wird mit der Stadt nicht warm: […] war ich entschlossen, Tübingen so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Ich haßte die Atmosphäre von Armut und Hoffnungslosigkeit, aber noch mehr die wachsenden politischen Spannungen. Fast alle Studenten waren nationalistisch und reaktionär, und es kursierten Geschichten von geheimen Wehrübungen und versteckten Waffen. Die meisten von ihnen haßten die Novemberverbrecher, die für die Novemberrevolution von 1918 verantwortlich waren; die meisten von ihnen hatten sich eingeredet, daß Deutschland den Krieg nie verloren hätte, wenn es nicht den Dolchstoß durch Juden, Freimaurer, Bolschewiken und andere dunkle Mächte gegeben hätte.“ (Seite 112)
Nach seinem abgeschlossenen Studium 1927 begann Uhlman als Rechtsanwalt in Stuttgart zu arbeiten. Er wird aktives Mitglied der SPD und schreibt seine Kanzlei wäre „seit 1930 hauptsächlich damit betraut“ gewesen, „die Verteidiger der Weimarer Republik zu verteidigen.“ (Seite 151). Damit meint er SPD- und Reichsbanner-Mitglieder. Seine besondere Bewunderung gilt dem SPD-Politiker Kurt Schumacher.
Die SPD wurde damals auch von Parteikommunisten sabotiert und angegriffen, worüber Uhlman wütend berichtet.

Im Exil
Als Jude und SPD-Mitglied ist klar dass er nicht lange ohne Probleme im Machtbereich Hitlers bleiben kann.
Nach einem warnenden Hinweis flieht Uhlman am 23. März 1933 als 32-jähriger Rechtsanwalt von Stuttgart nach Paris.
Hier versucht er ein Auskommen zu finden. Gleichzeitig arbeitet er gegen das Hitler-Regime und ist im „Freien Deutschen Klub“ in Paris aktiv.
Nach mehreren gescheiterten Versuchen wird er als 34-Jähriger als Autodidakt Maler. Bei einem Aufenthalt in dem kleinen Ort Tossa lernt er die Engländerin Diana Croft kennen. Sie wird seine spätere Frau werden und ist die Tochter des adeligen, christlichen Tory-Abgeordneten Sir Henry Page Croft. Dieser ist nicht ‚amused‘ das seine Tochter einen Deutschen, Sozialisten, Juden und Künstler heiratet, denn dadurch wird seine Tochter unzweifelhaft deklassiert.
Er zieht nach London und wird ein ‚Englishman‘. Sein Buch ist voll des Lobes über England, was ihm zuerst so unbekannt ist wie China.
Die ersten Jahre lebt das Ehepaar in London, auch der bekannte Künstler John Heartfield lebte vier Jahre in dem Haus der Uhlmans dort.
Fred bleibt weiterhin antinazistisch aktiv, nämlich in der 1939 gegründeten „Free German League of Culture“. Diese wird aber kommunistisch unterwandert, was den antistalinistisch eingestellten Uhlman ärgert, da er mit ideologisch verhärteten Parteikommunisten schlechte Erfahrungen gemacht hat: „Ich hatte schon vor längerer Zeit beschlossen, mit einem Kommunisten nicht über Politik zu reden – es war so sinnlos, als ob man mit einem fanatischen Araber über Allah diskutierten wollte.“ (Seite 302)
Trotz seiner antinazistischen Einstellung wird Uhlman nach Kriegsbeginn 1940 für sechs Monate in ein Internierungslager auf der Insel Man gesteckt. Hier begegnete er bekannten Künstlern wie Kurt Schwitters oder Oskar Kokoschka.
Während er im Exil ist, wurden im Holocaust mehrere Familien-Mitglieder Uhlmans ermordet, sein Eltern in Theresienstadt und seine Schwester in Auschwitz.

Trotz der harten Zeiten ist das Buch stellenweise sehr amüsant. So schreibt der Autor über die Bayern: „Jahrhunderte heftigen Bierkonsums hatten weder die Schönheit noch die Intelligenz der Bayern vergrößert. Die Einwohner der höher gelegenen Gegenden in Bayern schienen mir einen sehr niedrigen Intelligenzquotienten zu haben. Ich glaube es ist leicht einzusehen, warum dieser Teil Deutschlands die Wiege des Nationalsozialismus werden sollte. Nirgends sonst in Deutschland hätte Hitler mehr Chancen gehabt, seinen Anfangserfolg zu erringen, nirgends sonst hätte er einen solchen Gipfel an Trägheit, engstirnigen Provinzialismus und Fremdenhaß vorgefunden.“ (Seite 96)
Gerade für eine Autobiografie ist das Buch sehr kurzweilig. Nicht nur an Geschichte interessierte Menschen sollten es unbedingt lesen.

Fred Uhlman: The making of an Englishman: Erinnerungen eines deutschen Juden, Zürich 1998.

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Buchkritik „Transatlantik“ von Volker Kutscher

Das Buch ist wuchtig wie ein Backstein, goldene Lettern bilden den Titel und zwischen den Hardcover-Deckeln liegen fast 600 Seiten. Pünktlich vor Weihnachten ist mit „Transatlantik“ der neue Gereon-Rath-Kriminalroman von Volker Kutscher erschienen. Die Reihe ist erfolgreich, ebenso wie sie Verfilmung in Form der Serie „Babylon Berlin“.

Nach dem Tod von Abraham Goldstein während der Olympiade in Berlin 1936 ist dessen Partner John Marlowe vor der Rache der Nazis nach New York entkommen und Gereon Rath
wurde angeblich am 13. August 1936 in einem Schusswechsel getötet. In Wahrheit ist er in Wiesbaden untergetaucht. Doch auch hier soll in seine Vergangenheit einholen.
Währenddessen sucht seine vorgebliche Witwe, Charlotte Rath, genannt „Charly“, nach ihrer besten Freundin Greta. Diese ist nach dem Tod ihres ehemaligen Geliebten, des SS-Hauptsturmführer Klaus von Rekowski, verschwunden. Sie steht unter Mordverdacht.
Gleichzeitig versucht sie ihren 16-jährigen Ziehsohn Fritz aus der Anstalt zu bekommen, der in Breslau verhaftet wurde als er seine Jugendliebe Hannah besuchte, die eine untergetauchte Jüdin ist. Charlie kehrt extra aus dem Prager Exil zurück, um ihren Ziehsohn vor Gericht zu verteidigen.

Handlungsort ist neben Berlin auch New York. Der neunte Band der Rath-Reihe spielt im Jahr 1937 und damit am Ende des ersten Drittels der zwölfjährigen Geschichte des tausendjährigen Reiches. Kutscher beschreibt anschaulich und gut recherchiert wie sich der Nationalsozialismus sich immer tiefer in den Alltag eingefressen hat: „Viel zu viele ihrer Landsleute, viel mehr, als sie das jemals für möglich gehalten hätte, hatten sich mit den neuen Machthabern arrangiert, glaubten dem Versprechen von der Volksgemeinschaft und ignorierten die Willkür und Gewalt, die hinter der blitzsauberen Fassade des neuen Deutschlands lauerte.“ (Seite 337)

Kleine Klugscheißer-Anmerkung. Der Spitzname für Himmlers SS war „Schwarzes Korps“ und nicht „Schwarzes Corps“ (Seite 287).

Für Nichtkenner*innen der Krimi-Serie ist der Band 9 etwas schwierig ohne Vorwissen einzusteigen. Es wird empfohlen mit Band 1 anzufangen. Fans der Serie kommen auf ihre Kosten. Die Rolle von Charly ist inzwischen die der Hauptprotagonistin. Irgendwie hat man das Gefühl dass Kutscher ihr von Band zu Band mehr Raum einräumt. Der Preis von 26 Euro ist den gestiegenen Papierkosten sicherlich angemessen, mag aber ärmeren Krimi-Leser*innen doch zuviel sein.

Volker Kutscher: Transatlantik, München 2022.

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Buchkritik „Rückkehr nach Reims“ von Didier Eribon

Das Buch „Rückkehr nach Reims“ von dem französischen Soziologen Didier Eribon ist bereits 2016 (im Original 2009) auf Deutsch erschienen.
Der Autor Didier Eribon stammt aus einer Arbeiter*innen-Familie in Reims. Die titelgebende ‚Rückkehr‘ ist daher eine Rückkehr zu den eigenen Wurzeln.
Eribon beschreibt seine Familie. Seine Großmutter war Analphabetin, sein Onkel lebte als Landstreicher und seine Mutter war ein uneheliches Kind. Sein Vater schuftete als Hilfsarbeiter von 14 bis 65 in der Fabrik und seine Mutter war anfangs Putz- und Waschfrau.
Der Autor geht relativ weit zurück in seiner Fabrikarbeiter-Familiengeschichte. Er beschreibt die Einschläge durch den Weltkrieg oder wie sich seine Großmutter als Dienstmädchen der Avancen der Ehemänner erwehren muss.
Er plädiert dafür Familie nicht statisch zu sehen, da das Ideal von der Vater-Mutter-Kinder-Familie schon immer von der Wirklichkeit durch Verwerfungen durcheinandergewirbelt wurde. Das zeigt er anschaulich an seiner eigenen Familie.
Eribon ist der erste Akademiker seine Familie und ihm gelingt Dank seiner Bildungs-Karriere der soziale Aufstieg. Gleichzeitig kommt es zu einer Abwendung von seinem proletarischen Herkunftsmilieu, verstärkt durch seine Homosexualität. Er flieht regelrecht aus Milieu und Familie. Mit seinem Aufstieg beginnt Eribon seine Herkunft als Arbeiterkind zu verleugnen.
Er selbst schreibt:
„Um mich selbst neu zu erfinden, musste ich mich zuallererst abgrenzen.“
(Seite 52)
Zwar wird Eribon im Zuge der linken Studierenden-Bewegung im Selbstverständnis ein Marxist bzw. Trotzkist, aber das Proletariat ist im linksakademischen Milieu nur eine sehr abstrakte Kategorie. Sie ist eher ein mythisches Objekt und wird nicht als ein handelndes Subjekt wahr genommen.
„Ich glorifizierte die Arbeiterklasse, um mich leichter von den realen Arbeitern abgrenzen zu können. Wenn ich Marx und Trotzki las, glaubte ich, Teil der Avantgarde zu sein; viel eher markierten meine Lektüren aber den Eintritt in die Welt der Privilegierten […].“
(Seite 81)
Eribon dagegen kennt die Arbeiter*innen persönlich, was ihn in einen Zwiespalt führt :
„Politisch stand ich auf der Seite der Arbeiter, verfluchte aber gleichzeitig meine Herkunft aus ihrer Welt. Dass ich mich auf der Seite des »Volkes« verortete, hätte sicher weit weniger heftige Gewissensbisse und Zweifel in mir ausgelöst, wenn dieses »Volk« nicht meine eigene Familie, das heißt meine Vergangenheit und damit auch meine Gegenwart, gewesen wäre.“
(Seite 65)
Als Soziologie kehrt er nach Reims zurück, um sich mit seiner Herkunft und dem proletarischen Milieu auseinanderzusetzen.

Eribon weist darauf hin dass im Bürgertum die Abgrenzung von der Arbeiterklasse, er schreibt stellenweise auch von „populären Klassen“, und das Herabschauen auf sie der Distinktion dienen. Dies geschieht auch über die so genannte Hochkultur:
„Wie oft konnte ich in meinem späteren Leben als »kultivierte Person« die Selbstzufriedenheit besichtigen, die Ausstellungen, Konzerte und Opern vielen ihren Besuchern bereiten. Dieses Überlegenheitsgefühl, das aus ihrem ewigen diskreten Lächeln ebenso spricht wie aus ihrer Körperhaltung, dem kennerhaften Jargon, dem ostentativen Wohlgefühl … In all diesen Dingen kommt die soziale Freude darüber zum Ausdruck, den kulturellen Konventionen zu entsprechen und zum privilegierten Kreis derer gehören, die sich darin gefallen, dass sie mit »Hochkultur« etwas anfangen können.“
(Seite 98)
Dieser Klassismus muss dem Bürgertum und der Elite gar nicht bewusst sein:
„Die Herrschenden merken nicht, dass ihre Welt nur einer partikularen, situierten Wahrheit entspricht (so wie ein Weißer sich nicht seines Weißseins und ein Heterosexueller sich nicht seiner Heterosexualität bewusst ist).“
(Seite 92)

Das Buch hat auch insofern eine starke politische Dimension, da die autochthone Arbeiter*innen-Klasse in Frankreich immer mehr rechts wählt.
Zuvor hatten Arbeiter*innen die früher starke „Kommunistische Partei Frankreichs“ gewählt, allerdings weniger aus einem Glauben an die Weltrevolution, sondern eher als eine Art ‚Vernunftkommunisten‘.
„Für Arbeiter und Leute aus armen Verhältnissen bestand das Linkssein vor allem darin, ganz pragmatisch das abzulehnen, worunter man im Alltag litt. Es ging um Protest, nicht um ein von globalen Perspektiven inspiriertes politisches Projekt.“
(Seite 38)
Doch die Wähler*innen der französischen Kommunist*innen wechseln zum extrem rechte „Front National“ (FN). Sie sind aber nicht offene, sondern eher verdeckte FN-Sympathisant*innen.
„Man könnte sagen, dass die Stimme für die Kommunisten eine positive Selbstaffirmation darstellt, die für den Front National eine negative. Der Bezug zu parteilichen Strukturen und Wortführern, zu einem kohärenten Parteiprogramm und zu dessen Übereinstimmung mit der eigenen Klassenidentität ist im ersten Fall sehr stark und sogar maßgeblich, im zweiten zweitrangig oder inexistent.“
(Seite 125)
Eribon erklärt sich die Hinwendung zum Nationalismus und Rassismus als Selbstaufwertung durch Abwertung „der Anderen“ und als eine „Art politischer Notwehr der unteren Schichten“

Gleichzeitig kritisiert er den „neokonservativen Diskurs der Linken“. Die linken Eliten hätten die Arbeiter*innen-Klasse verraten. Für sie und den Rest der Gesellschaft ist die Arbeiter*innen-Klasse zum Teil keine eigenständige Kategorie mehr.
Dabei ist die Arbeiterklasse nicht verschwunden. Sie ist nur zeitweise aus dem Diskurs verschwunden. Das Leugnen von Klassenkonflikten lässt diese jedoch noch lange nicht verschwinden.

Das Buch ist eine Mischung aus Autobiografie und soziologischen Essay. Manchmal ist es schade dass die Empirie fehlt. Dafür ist es gerade durch die persönlichen Bezüge des Autors spannend geschrieben und zeigt dass Wissenschaft erzählend und ganz und gar nicht trocken sein muss.

Didier Eribon: Rückkehr nach Reims, 2017.

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Buchkritik „Radikalisierter Konservatismus“ von Natascha Strobl

Das 150-seitige Buch „Radikalisierter Konservatismus. Eine Analyse“ von Natascha Strobl erschien 2021 und wurde bereits viel gelobt – zu Recht. In ihrem Werk skizziert Strobl eine bedenkliche Entwicklung im Konservatismus in Richtung Autoritarismus und Rechtspopulismus. Konservatismus definiert sie dabei wie folgt:
„Kurz gefasst, verstehen wir unter Konservatismus also eine antiegalitäre, antirevolutionäre, klassenharmonisierende Haltung, deren höchste Werte Ordnung und Eigentum sind.“
(Seite 12)
Dabei macht die Autorin den Unterschied vom radikalisierten Konservatismus zum Faschismus im revolutionären Charakter des Faschismus fest:
„Konservatismus ist eine Herrschaftsideologie zur Absicherung bestehender (Besitz-)Verhältnisse. Faschismus ist eine Ideologie, die – durch einen (gewissen) Austausch der Machteliten – die bestehende politische Ordnung überwinden möchte.“
(Seite 17)
Dasselbe gilt auch für den modernisierten Neofaschismus, den Rechtsextremismus:
„Im Gegensatz zum klassischen Konservatismus streben rechtsextreme Parteien eine schnelle und umfassende Transformation der Gesellschaft an. Konservative Parteien dagegen möchten den Status quo aufrechterhalten bzw. nur behutsam ändern.“
(Seiten 30)
Der neue, radikalisierte Konservatismus verlässt laut Strobl seine alten Gleise:
„Radikalisierter Konservatismus ist zugleich Bruch und Kontinuität der Entwicklungen davor. Die konservative Partei kündigt einseitig den (prekären) Konsens mit der linkeren staatstragenden Partei – der (historisch) organisierten Arbeiter:innenbewegung – auf.“
(Seite 33)

Die Radikalisierung von Teilen des Konservatismus setzt Strobl 2008 an. Als Beispiele führt sie so unterschiedliche Politiker wie Robert Kurz (ÖVP), Donald Trump (Republikaner) oder Boris Johnson (Conservative Party) an. Ihr gelingt es dabei überzeugend die Gemeinsamkeiten aufzuzeigen. Wichtig sei ein ökonomischer Nationalismus, wie oft auch ein Anti-Urbanismus, der sich gegen die Hauptstadt richtet.
Der radikalisierte Konservatismus stellt aber eher einen Stil als eine gefestigte Ideologie dar.
Der neue Stil des radikalisierten Konservatismus ist rechtspopulistisch:
„Es geht nicht mehr darum, ein detailliertes Programm auszuarbeiten und möglichst überzeugend zu vertreten. Es geht darum, ein neues Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. In Zeiten der gesellschaftlichen und ökonomischen Verwerfungen ist das kein defensives und statisches, sondern ein aggressives und dynamisches Gefühl. Das Versprechen, dem ihm zugrunde liegenden Bedürfnis Geltung zu verschaffen, ist der ideologische Kern des radikalisierten Konservatismus.“
(Seite 37)
Damit nähert er sich dem Rechtsextremismus an:
„Radikalisierter Konservatismus übernimmt die Strategien und Sprachen des Rechtspopulismus bzw. des parteiförmigen und außerparlamentarischen modernen Rechtsextremismus. Er setzt dabei auf Polarisierung statt auf Konsens und möchte das bestehende politische System zu seinen Gunsten umzugestalten.“
(Seite 39)
In Ländern wie Ungarn hat er sogar den Rechtsextremismus verdrängt und dessen Rolle eingenommen.
Auch innerparteilich wird es autoritärer, denn die konservative Partei wird auf die Führungsposition ausgerichtet (Strobl: „Von der Staatspartei zur Leaderpartei“).
Man befindet sich Dauerwahlkampf, wirft die „Aufregerproduktionsmaschine“ an und erschafft Gegenrealitäten. Man befände sich im „Rausch der ständigen Offensive“ (Seite 130) und richtet sich paradoxerweise gegen das als links markierte Establishment aus:
„Dabei entsteht das Paradoxon einer konservativen Partei, die sich als Kämpferin gegen das alte System geriert und doch auch die Glaubwürdigkeit ihrer jahrzehntelangen Rolle als staatstragender Partei ausnutzt.“
(Seite 90)

Strobl geht auch auf Gegenstrategien ein und meint dass eine moralisierte Kritik nicht helfen würde.
Vielleicht wäre es wichtig zu betonen dass die radikalisierten Konservativen nicht mehr politischer Gegner und Konkurrent sind, sondern vielmehr ein politischer Feind, der mit allen bisherigen informellen Regeln bricht. Es scheint dass z.B. die US-Demokrate*innen das in Teilen noch nicht realisiert haben.

Strobl irrt an einer Stelle, wenn sie die Tea-Party als Graswurzelbewegung bezeichnet (Seite 33). In Wahrheit trifft es die Bezeichnung „Astroturf-Bewegung“ eher.
Der Analogie zu Weimar und der so genannten „Konservativen Revolution“ als Variante von radikalisierten Konservatismus (Seite 143) würde der Rezensent ebenfalls nicht zustimmen. Die „Konservative Revolution“ war schon immer eine Variante des genuinen Faschismus.
Anzumerken wäre noch dass, wenn die radikalisierten Konservativen nicht stark genug sind, sie zum Rechtspopulismus überlaufen. Das erklärt die vielen Rechtskonservativen aus der Union, die zur AfD gewechselt sind.

Das Buch ist eine hervorragende Analyse des verrohten und machtgierigen Konservatismus, die vieles erklärt.
Politisch interessierte Menschen sollten es unbedingt lesen!

Natascha Strobl: Radikalisierter Konservatismus. Eine Analyse, Berlin 6. Auflage 2021.

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Buchkritik „Proleten, Pöbel, Parasiten“ von Christian Baron

Das Buch „Proleten, Pöbel, Parasiten: Warum die Linken die Arbeiter verachten“ von Christian Baron erschien 2016. Dem Autor geht es in seinem Buch darum, wie die akademische Linke mit der Arbeiter*innenklasse und Deklassierten umgeht: „Wie und warum Linke dazu beitragen, dass der gesellschaftliche Klassenhass gegen materielle Arme und von bürgerlicher Bildung fern Gehaltene sich reproduziert, das will in diesem Buch zeigen.“ (Seite 12)
Der Autor ist selber Arbeiter-Kind und berichtet vom Aufwachsen in einer verschimmelten Wohnung mit einem gewalttätigen Vater. Ihm selber gelingt, auch durch die Unterstützung von Lehrern, der Aufstieg bzw. um es in seinen Worten wiederzugeben, der „Weg vom Unterschichtskind zum Soziologie-Doktoranden“ (Seite 63).
Er selber bezichtigt sich auch des ‚Klassenverrats“, weil er für diesen Aufstieg seine Herkunft verleugnen musste.
Der Autor wird Linker, allerdings ist sein Motiv ein anderes als sein akademisch-bürgerlichen Mitstreiter*innen, wie er zumindest glaubt: „Mein Linkssein ist in erster Linie biografisch bedingt und damit interessengeleitet – ganz im Gegensatz zu den meisten anderen Aktivisten, die ihr Opponieren gegen die herrschenden Zustände mit einer ethisch moralischen Empörung begründen.“ (Seite 48)
Möglicherweise sind aber mehr Menschen auch aus persönlichen Gründen links geworden, als Baron glaubt, etwa Frauen*, die linke Feministinnen wurden, und die das ebenfalls aus eigenen Erfahrungen heraus wurden. Viele Menschen kommen auch zur Linken, weil sie in dieser Gesellschaft irgendwie nicht ‚funktionieren‘ und ziemliche Außenseiter*innen sind.

Barons Buch behandelt also das Thema Klassismus von links und urteilt hart: „Meine linken Politikfreunde führten einen Klassenkampf gegen mich, ohne es überhaupt zu bemerken, denn sie kannten meine Lebenswelt nicht und begriffen ihre eigene Wirklichkeit als die einzig existente Normalität.“ (Seite 75)
Er sieht allerdings ganz allgemein einen Anstieg von Klassismus oder Klassenhass, verursacht durch die ökonomische Zuspitzung: „In Zeiten allseitiger Prekarität, in denen fast jeder binnen kurzer Zeit vom unbefristeten Job in die sichere Armut rutschen kann, richtet sich von allen Seiten ein massiver Klassenhass gegen jene, die noch schwächer sind als man selbst.“ (Seite 15)
Im Buch wird auch auf die sich fortsetzende Chancenungleichheit im Bildungssektor hingewiesen: „Statistisch gesehen bekommt das Kind eines Arztes oder Juristen fünfmal öfter eine Gymnasialempfehlung als ein Facharbeiterkind. Schüler aus gebildeten Elternhäusern legen siebenmal häufiger das Abitur an einem Gymnasium ab als Arbeiterkinder.“ (Seite 43)

Besonders in der ersten Hälfte seines Buches spricht Baron wichtige Punkte an, etwa wenn er über die klassistische Dialektfeindlichkeit in linksakademischen Kreisen schreibt. Oder das Studis als freiwillige kostenlose Praktikant*innen, getragen von der Unterstützung ihres Elternhauses, Anderen Konkurrenz machen, die es sich nicht leisten können kostenlose Praktika zu absolvieren.

Seine Kritik an einer Identitätspolitik jenseits von Klassenanalysen ist sicherlich richtig, allerdings fokussiert er an manchen Stellen stark auf die seltsamsten Auswüchse.

Spannend ist sein Verweis auf das folgenlose Unterschichtenbashing, auch in der Populärkultur. Etwa im Kassenschlager „Fack Ju Göhte“ oder in der ZDF Neo – Sitcom „Blockbustaz“. Oder in der Werbung der Biermarke „Astra“. Hier moniert Baron zu Recht dass die sexistischen Werbe-Plakate von Astra eine linke Gegenkampagne hervorgerufen hätte, man aber zum Unterschichtenbashing „kein Mucks“ aus dieser Ecke gehört habe.

Kritikritik
Das Buch wird in der zweiten Hälfte eine allgemeinpolitische Abrechnung. Diese ist in einigen Fällen nicht überzeugend. An dieser Stelle mal ein wenig Widerspruch zu seinen Pauschalverurteilungen:
* So verunglimpft er pauschal die Proteste gegen Studiengebühren als die Verteidigung bildungsbürgerlicher Privilegien. Das wird der Realität dieser Proteste oft nicht gerecht, auch wenn es mancherorts diese Tendenz sicherlich gab. Schon interessanter ist da sein Vorschlag einer Akademikersteuer.
* Er stellt die (akademische) Linke generell als Vertreter*innen einer protestantischen Leistungsethik dar. „Familie? Freunde? Kino? Theater? Sommerurlaub? Kinder? Für Linke in diesem Land der protestantischen Arbeitsethik sind das Fremdworte.“ (Seite 104)
Keine Ahnung, in welchen linken Kreisen Baron sich bewegt. Aber in der außerparlamentarischen Linken sind durchaus auch viel Drogen- und Party-Eskapismus anzutreffen und das Plenum am nächsten Tag ist dann umso spärlicher besetzt.
Hier wäre es wichtig nach dem Kontext von Arbeit zu schauen und zwischen Polit-, Erwerbs- und Care-Arbeit in der Bewertung zu trennen.
* Baron versteigt zu der seltsamen Analogie das Jungen-Beschneidung wie die Amputation eines Fingers wäre. Das ist Unsinn. Man mag das Thema kritisch sehen, aber eine Vorhaut-Beschneidung ist keine Glied-Amputation.
* Baron behauptet ebenfalls: „Leider hat die Linke die Religionskritik den Rechten hinterlassen.“ (Seite 135)
Sicherlich, lässt die Linke an einigen Stellen eine religionskritische Position vermissen, aber sie wird dabei nicht von rechter Seite ersetzt. Denn was von dieser Seite kommt, ist zumeist nur der mühsam bemäntelte kulturelle Rassismus.
* Der Autor übt auch Kritik an der linken Kritik an den nach rechts offenen Montagsdemo-Mahnwachen 2014/15 (Seite 125). In der klügeren Kritik von links an diesem Phänomen ging es jedoch weniger um die rechte Beteiligung an den rechts-offenen Demos als an den Inhalten, die diese Beteiligung erst hervor riefen.
* Ähnlich daneben liegt Baron mit seiner Kritik an der antinationalen Kritik des Fußball-Patriotismus zur Männer-WM/-EM geht. Die linke Kritik daran ist differenzierter als Baron es haben will. Es wurde vor allem der nationalistische Grundton und die Gefahr des nationalistischen Eskalation kritisiert. Er schreibt: „Eine WM oder EM im Fußball bietet also seit einigen Jahren nicht nur den Liebhabern des Sports angenehme Feierabende vor dem Fernseher, sondern liefert auch Beispiele des zentralen Problems zwischen den Linken und der Masse in Deutschland: Die kulturellen Differenzen bedingen Missverständnisse zwischen Akademikern und Nicht-Akademikern.“ (Seite 145)
Den Sexismus und die Homophobie der Männer-WM und -EM lässt Baron in diesem Buch-Abschnitt galant unter den Tisch fallen. Es hat einen Grund, warum sich im aktiven Profi-Fußball in Deutschland bisher kein einziger aktiver Spieler geoutet hat.
Was der Autor verkennt oder ignoriert ist das nationalistische Eskalations-Potenzial des Fußball-Patriotismus. Wer die deutsche Mannschaft nicht abfeuert, aber als Deutscher gilt, wird scheel angeschaut. Wenn dann die deutsche Mannschaft verliert und man sich darüber freut oder das andere Team angefeuert hat, für die oder den ist es schnell vorbei mit der Party.
Dabei ist der Fußball-Patriotismus zu WM- und EM-Zeiten auch gar keine Sache der Klassenzugehörigkeit. In den Universitätsstädten ist es bei den Studentenverbindungen genauso üblich die Spiele gemeinsam in der Verbindungsvilla anzuschauen wie in eher proletarischen Sport-Bars. Es ist eher so dass der Jubel-Patriotismus reale Klassenunterschiede verdeckt, weil ja alle Deutschland sind, egal ob Erwerbslose oder Manager.
* Er macht die Mittelschichts-Ultras verantwortlich für Probleme im Stadion, vergisst aber die meist eher proletarischen Hooligans zu erwähnen.
* Seine Kritik an Konsum-Moralist*innen ist sicherlich nicht unberechtigt, aber rutscht etwas arg ins Polemische ab, etwa, wenn er von einer Mitbewohnerin als „Bio-Diktatorin“ schreibt.
* Oft hat man den Eindruck Baron hat sich in seiner Wut gar nicht mehr die Mühe gemacht zu differenzieren. Etwa, wenn er die Praxis des „Containern“, d.h. der Bergung von abgelaufenen Lebensmittel als „Happening“ (Seite 200) bezeichnet, was nur der linken Identitätsstiftung gelte. Einige der linken Menschen, die containern, die ich kenne, machen das nicht aus Jux, sondern tatsächlich, weil sie nicht so viel Geld haben.
* Seine Kritik an Rucksackreisenden und Neominimalismus ist nicht weniger undifferenziert.
Persönlich kenne ich exakt zwei linke Minimalistinnen, die dieses Konzept auch nicht als gesellschaftliche Lösung oder eine Art Armuts-Reenactment verstehen, sondern als individuelle Lebensbewältigungsstrategie.

Fazit: zu pauschalisierend
Baron hat sicherlich in vielem Recht, aber er ist oft leider viel zu pauschal und polemisch. Man könnte auch statt von der angeblichen ‚Verachtung‘ der Linken für die Arbeiter*innenklasse eher von einer Ignoranz und Gedankenlosigkeit schreiben.
Besonders im zweiten Teil des Buches nerven die Pauschalisierungen und Schnellurteile. Schade, denn der Autor verbaut sich hier selbst, durch seine Undifferenziertheit die Möglichkeit von seinen Leser*innen in vielen Punkten ernst genommen zu werden. Mehr Kritik, statt Abrechnung wäre hier hilfreich gewesen. Denn was soll man von solche Sätzen halten? „Bessermenschen wirken dadurch [moralische Kritik] auf die Durchsetzungschancen einer Perspektive jenseits des Kapitalismus schädlicher als es Christian Lindner oder Donald Trump zusammengenommen jemals könnten.“ (Seite 167)

Am Ende seines Buchs plädiert Baron für einen linken Populismus ohne inhaltliche Verkürzungen, wie auch immer das funktionieren soll. Denn Populismus muss eigentlich mit Verkürzungen arbeiten. Sinnvoller wäre ein Plädoyer für eine verständlichere Sprache und eine solidarische Praxis gewesen. Wenn Linke mehr für Unter- und Arbeiter*innen-Schicht unterstützend intervenieren würden, z.B. bei Zwangsräumungen oder in Arbeitskämpfen, statt nur herumzutwittern, dann wäre schon mal viel gewonnen.

Das Buch „Die Elenden“ von Anne Mayr hat zwar einen anderen Schwerpunkt, aber eine ähnliche Perspektive. Wenn es einem eher um diese Perspektive geht, sollte man zuerst zu diesem Buch greifen.

Christian Baron: Proleten, Pöbel, Parasiten: Warum die Linken die Arbeiter verachten, 2016.

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Buchkritik „Krach“ von Tijan Sila

Das Buch „Krach“ von Tijan Sila ist 2021 erschienen. Es ist die coming-of-age-Geschichte eines Provinzpunks in den berüchtigten Baseballschläger-Jahren. Die Geschichte spielt im Jahr 1998, zu einer Zeit als Handys eine Seltenheit waren, es noch Videotheken gab und manche Gameboys durchsichtig waren. Handlungsort ist die fiktive Kleinstadt Calvusberg in der pfälzischen Provinz. Immer wieder streut der Autor Sätze in pfälzischen Dialekt ein. Wer nicht weiß, was ein „Tschukkekahler“ ist, wird es durch die Lektüre lernen.

Der Hauptprotagonist heißt Sabahudin, wird aber in seiner Familie „Budo“ und von seinen Freund*innen „Gansi“ genannt. Er stammt aus einer bosnischen Familie und ist dass, was man einen ‚Halbstarken‘ nennen könnte. Budo weiß nicht so recht, was er mit sich anfangen soll. Seine Eltern drücken ihm auch noch die Betreuung von Hikmet, eines traumatisierten bosnischen Flüchtling-Jungens aufs Auge – im Buch spielt der 1995 beendete Bosnien-Bürgerkrieg immer wieder eine gewisse Rolle.
Budo schließt sich einer Clique von Provinzpunks an. Mit dem schweigsamen Pirmin und den Geschwistern Beppo und Ursel gründet er die Punkband „PUR JUS“. In Ursel ist Budo verliert und Beppo ist sein bester Freund. Die beiden Punk-Geschwister haben einen Nazi-Bruder namens Uwe. Dessen Gewalttätigkeit spielt im Verlauf der Geschichte immer wieder eine Rolle. Im Buch werden mehrfach Prügeleien geschildert und das in einer saftigen Weise.
So heißt es über ein paar verhauene Gymnasiasten: „Gymnasiastengekreische, als gäbe es im Tengelmann keine Frucht-Tiger mehr.“
(Seite 54)
Oder die Schilderung einer Prügelei zwischen Mannheimer Linken und den Mitglied einer sport-affinen US-Straight-Edge-Hardcore-Band: „Die Mannheimer konnten froh darüber sein, dass die Amis trotz ihrer beeindruckenden Kampftüchtigkeit nicht blutrünstig waren und aufhörten zuzuschlagen, sobald sie ihren Freund in Sicherheit gebracht hatten. Wären sie nur ein wenig wie Uwe gewesen, hätten sie das Haus ausgeräumt, statt sich von ein paar Soziologiestudenten, deren Augen nach Nasentreffern voller Pipi waren, vorfaseln zu lassen, violent däncing wäre ein Ausdruck »androzentrischer Körperpolitik«, was auch immer das bedeutete.“
(Seite 78)

Viele Buch-Abschnitte handeln von den Band-Auftritten auswärts. Dabei beschreibt Sila in amüsanter Weise die Auftritts-Orte: […] kein Konzert, aber immerhin Essen und Räumlichkeiten, bei denen man nicht an verlassene Gefängnisse der Sowjetunion dachte.“
(Seite 46)
Besonders unterhaltsam sind die Stadt-Charakterisierungen, in denen auch über schmucke Städte wie Freiburg, Heidelberg oder Münster hergefallen wird.
„Freiburg war eins dieser unbombardierten Universitätsstädtchen, die nur von Studenten und Bonzen bevölkert wurden. Alles daran war zum Hassen, so auch das JUZ, in dem wir auftreten sollten. Es war eh cooler, in besetzten Häusern oder AZs zu spielen.“
(Seite 107)
„Manche Städte haben nette Ecken, Münster ist die zur Stadt gewordene nette Ecke – richtig ekelhaft. Dementsprechend war das AZ nicht die übliche Stunkdrüse mit braun verkrusteten Kloschüsseln, sondern ein vom Rathaus gestellter »Kulturraum« aus den Siebzigern: Ziegelwände, Balkendecken, Bühne, alles.“
(Seite 238)

Viele der Buch-Protagonist*innen haben eine Migrationsgeschichte oder entstammen einer Minderheit: Sinti, Russlanddeutsche, Bosniaken, Italiener und die als „Watkes“ geschmähten französischen Nachbarn.

Das Buch enthält schöne Sätze wie diese beiden:
„Pirmin war der Zuckerwürfel, den sie in geschlossener Hand vor Regen schützte.“
(Seite 185)
„Man roch den Erlebnisdrang wie heißen Pudding.“
(Seite 189)

Der Roman liest sich gut und flott. Es ist die authentische Geschichte vom Aufwachsen als Punk in der Provinz Ende der 1990er Jahre.
Sehr geeignet als Sommer-Lektüre. Auch für Menschen ohne Punk-Lebensabschnitt.

Tijan Sila: Krach, Köln 2021.

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Buchkritik „Doppelte Spur“ von Ilija Trojanow

Ilija Trojanow beschreibt mittels einer fiktiven Geschichte in seinem Roman „Doppelte Spur“ die Realität.
Sein Hauptprotagonist und Alter Ego ist der Journalist Ilija. Dieser wird von einer Whistleblowerin kontaktiert, die sich „DeepFBI“ nennt. Sie gibt ihm eine Menge an digitalen Akten des FBI, die als „streng geheim“ klassifiziert sind. Gleichzeitig kontaktiert ein Agent des russischen Geheimdienst SWR Ilija und gibt ihm ebenfalls geheime Akten.
Erst allein und später zusammen mit zwei Mitstreitern schlägt Ilija eine Schneise der Aufklärung durch das Dickicht an Informationen.
Es entsteht ein Gesamtbild. Der als „Schiefer Turm“ bezeichnete US-Präsident ist ein vormaliger Casino-Betreiber mit Kontakten zur russischen Mafia, der erpressbar ist. Nicht gesteuert, aber angeleitet wird er vom russischen Präsidenten Mikhail Iwanowitsch und dessen Oligarchen-Freunden, die alle dem KGB entstammen. Laut dem Journalisten Ilija hat der KGB 600 Milliarden Dollar außer der zerbröckelnden UdSSR geschafft.
Sehr kundig beschreibt Trojanow die Raubzüge der Privatisierung in der Ex-Sowjetunion und die daraus resultiernde Oligarchisierung. Am Anfang stand dabei eine naive Hoffnung breiter Bevölkerungsschichten auf die Verheißungen des Kapitalismus:
„Die Aufbruchstimmung trug Wollmützen und löchrige Schuhe, die Kälte drang aus dem Permafrost der Vergangenheit in die Körper, der Kopf wurde mit Hoffnungen geheizt, die Gliedmaßen fröstelten.“ (Seite 64)
Doch bald stellt sich Ernüchterung ein. Es entspinnt sich ein weltweites kriminelles Netz, was zum teil in einem Turm des Präsidenten in Manhattan wohnt. Jedenfalls weist dieser laut FBI-Ermittlungen eine bemerkenswerte Dichte an Kriminellen und Korrupten auf.
Ilija zur Seite stehen der Podcaster und Sachbuchautor Boris und die Dokumentarfilmerin Emi, die zu dem Zwangs-Prostitutions-Netzwerk von Geoffrey Wasserstein recherchiert, der sich und Prominenten mit jungen und teilweise minderjährigen Frauen/Mädchen „versorgte“, also ihren Missbrauch organisiert.
Boris resümiert ernüchtert über die vermeintliche ‚Gleichheit vor dem Gesetz‘:
„Der Rechtsstaat ist ein Ansporn, möglichst viel zu stehlen, denn mit dem gestohlenen Geld kannst du dir die besten, also die am besten vernetzten Anwälte leisten, die jedes Schlupfloch kennen, , jede Verdunklungsstrategie. Je mehr du raffst, desto besser kannst du deine Pfründe verteidigen. Der Rechtsstaat ist ein Beuteverteidigungssystem.“ (Seite 99-100)
Im Gegensatz zu den realen Verschwörungen wird „Pizzagate“ im Buch als Nebelkerze des FBI beschrieben.
Ilija zeichnet mit den beiden Anderen ein weltweites System nach. Doch er will auch wissen, was die beiden Whistleblower für Motive haben, da er an deren Uneigennützigkeit stark zweifelt. Also versucht er den beiden auf die Spur zu kommen und kommt zu beunruhigenden Erkenntnissen.

Die Analogien dieser Roman-Fiktion zur Realität sind natürlich augenfällig. Es handelt sich sozusagen um eine ‚fiction light‘. Der US-Präsident mit dem Spitznamen „Schiefer Turm“ ist Donald Trump, Mikhail Iwanowitsch ist Wladimir Putin und Geoffrey Wasserstein ist Harvey Eppstein. Der Turm in Manhattan ist demzufolge der ‚Trump Tower‘.
Das Buch aktiviert die Neugierde was jetzt in Realität zutrifft und was nicht.
Ansonsten ist das flott und lesbar geschrieben.

Ilija Trojanow: Doppelte Spur, Frankfurt/Main Juli 2020.

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Buchkritik „Schnee“ von Orhan Pamuk


Im Jahr 2002 veröffentlichte der türkische Autor Orhan Pamuk seinen Roman „Schnee“. Vier Jahre später bekam er den Nobelpreis verliehen.
In dem Buch besucht der 42-jährige Dichter Ka die Stadz Kars in Ostanatolien. Ka entstammt einer wohlhabenden Istanbuler Familie und kehrt nach 12 Jahren im Exil in Deutschland in die Türkei zurück.
In Kars soll er für eine Zeitung über eine Serie von Selbstmorden unter jungen Frauen schreiben, die sich Selbstmord begingen, weil sie gezwungen wurden in der Universität das Kopftuch abzulegen.
Schnell stellt sich heraus das die jungen Frauen zwar islamistisch waren, aber auch unter den extrem patriarchalen Verhältnissen in ihren Familien litten. Das Kopftuch-Tragen war für tatsächlich sie eher eine Form von Selbstständigkeit.
Die Stadt Kars ist eine Grenzstadt und war 1877-1918 russisch. Im Buch werden die architektonischen Hinterlassenschaften Russlands ebenso beschrieben wie die der vertriebenen und ermordeten Armenier der Stadt. Damit rüttelt Pamuk an den Tabu des Völkermords an den Armenier*innen in der türkischen Gesellschaft.
Die Stadt ist nicht nur abgeschieden, sie wird durch heftigen Schneefall vollkommen abgeschnitten.
Im von der Außenwelt abgeschnittenen Kars kommt es zu einem kemalistischen Militärputsch, angeleitet durch einen Schauspieler, der sich mit einem Offizier verbündet hat. Der Putsch und die darauf folgenden Säuberungen mit hunderten Festnahmen gegen kurdische Nationalisten (PKK) und türkische Islamisten sollen deren bevorstehenden Wahlsieg verhindern. Neben dem Militär ist der „Nationale Nachrichtendienst“ an den Säuberungen beteiligt.
Der Dichter Ka wird in die Ereignisse verstrickt. Ursprünglich ist Ka ein Marxist, der aber schon länger eher unpolitisch geworden ist. In Kars entsteht bei ihm durch Naturbeobachtung eine Art Gottesliebe, weil er im Schnee Allah entdeckt haben will.
Durch seine Verbindungen zu den verschiedenen Parteien wird Ka in die Ereignisse hineingezogen.
Er selber will in Kars seine Jugendfreundin Ipek wieder treffen, die mit ihrem Vater und ihrer Schwester in Kars lebt. Tatsächlich beginnt er mit Ipek eine Affäre und versucht sie zu überreden ihn in sein Exil nach Frankfurt zu begleiten um dort mit ihm zusammen zu leben.
Gleichzeitig schreibt Ka inspiriert von den Ereignissen Gedichte.
Der Aufenthalt Kas in Kars ist kurz und der Militärputsch dauert nur drei Tage, kostet aber 29 Menschen das Leben.
Dieser Aufenthalt von Ka wird aus der Rück-Perspektive von einem Ich-Erzähler namens Orhan, dem Alter Ego des Autors, erzählt. Orhan ist ein Freund des Dichters Ka und versucht den Ereignissen im Jahr 1995 vier Jahre später nachzuspüren.
Zweiter Handlungsort neben Kars ist Frankfurt/Main, wo Ka vereinsamt als Dichter im Exil lebt.

Pamuk schildert in seinem Roman die Zustände in der Türkei anhand der türkisch/kurdischen Grenzstadt Kars wie in einer Schneekugel: Klein, übersichtlich und isoliert. Auch in der Türkei bekämpften sich damals Islamisten und Laizisten bzw. Kemalisten und das Militär putschte in der Angst vor einem Erfolg der Islamisten, die heute die autoritäre Erdogan-Regierung stellen. Auch die Konflikte in der Osttürkei/Westkurdistan werden am Beispiel von Kars dargestellt. Keine der Konflikt-Parteien wird dabei von Pamuk idealisiert oder sympathisch dargestellt.
Die Handlung im Roman ist stellenweise ironisch-humoristisch. So gibt es z.B. eine „Grenzstadtzeitung“ mit einer Auflage von 380 Exemplaren, die häufig schon Berichte über Ereignisse abdruckt, die (noch) gar stattgefunden haben.
Der Roman ist stellenweise sehr melancholisch gehalten, weil sein Hauptprotagonist auch eine Liebesleidgeschichte erlebt und seine Gefühlswetterwechsel ausführlich beschrieben werden. Dadurch bekommt der Roman manchmal unnötige Längen.
Insgesamt ist „Schnee“ ein hurmorvoller literarischer Mikrokosmos der Türkei, der sehr lesenswert ist.

Orhan Pamuk: Schnee, Frankfurt/Main, 5. Auflage Juli 2008.

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