Buchkritik „Mein Mann, der Kommunist“ von Philip Roth

Bisher hatte ich von Philip Roth (1933-2018) die drei Bücher „Nemesis“, „Verschwörung gegen Amerika“ und „Der menschliche Makel“ mit Genuß und Gewinn gelesen. Dazu kam nun ein viertes hinzu. Sein Buch „Mein Mann, der Kommunist“ war ein Bücherkisten-Fund.

Der 1998 erschienene Roman schildert das Schicksal des jüdischen Arbeiters, Radiostars und Kommunisten Ira Ringold. Erzählt wird es von dessen älteren Bruder Murry seinem ehemaligen Schüler Nathan Zuckerman, einem literarischen Alter Ego von Roth. Zuckerman kommt aus dem unteren Mittelschichts-Judentum an der Ostküste, welches gerade dabei ist sich aus den Einwanderervierteln heraus zu arbeiten.
Die Geschichte spielt als Rückblick größtenteils in der McCarthy-Ära der 1950er-Jahre. Der Körper-große Ira wird durch seine Verkörperung von Abraham Lincoln zum Schauspieler und schließlich zum Radio-Sprecher der Sendung „Frei und tapfer“.
Zuvor wurde er während des Zweiten Weltkriegs durch den Arbeiter Johnn O’Day zum Partei-Kommunismus bekehrt. Bald aber schon setzt in den USA die Jagd auf Kommunistinnen und vermeintliche Kommunistinnen ein. Es werden Listen mit Verdächtigen angelegt, die oft ihre Anstellung verlieren, und das „Komitee für unamerikanische Umtriebe“ führt Verhöre durch, deren Beurteilungen Karrieren beenden kann.
Dem Hauptprotagonisten Ira Ringold gelingt als „Iro Risin“ der Ausftieg zum Radio-Star. Gleichzeitig heiratet er mit Eve Frame, eine ältere ehemalige Stummfilm-Berühmtheit. Eve stammt selber aus einer jüdischen Familie, versucht das aber zu verheimlichen. Ihr antijüdischer Selbsthass führt zu einem Antisemitismus, der sich immer wieder impulsiv Bahn bricht. Drei ihrer Ehen sind gescheitert und ihr einziges Kind, ihre Tochter Sylphit, hält Eve in emotionalen Geiselhaft.
Gleichzeitig nehmen in Iras Leben die Widersprüche zu: Er ist Arbeiter, Idealist und Kommunist, führt gezwungenermaßen mit seiner Frau ein großbürgerliches Privatleben, in dem er aber eher ein Zuschauer ist. Ira ist ein Riese mit großen Händen, der in Newark, New Jersey, als Jude unter italienischen Arbeiterinnen aufgewachsen ist und musste sich in dieser rauen Umgebung im Wortsinne durchschlagen. Er passt nicht zu dem ehemaligen Hollywood-Starlette, einer „berühmte[n] Schönheit, die wie ein Teebeutel in aristokratische Arroganz getaucht ist […]“ (Seite 107). Vor allem Eves Tochter lehnt ihn ab. Der Konflikt mit seiner Frau und seiner Stieftochter spitzt sich zu und Ira stürzt sich in Affären. Es kommt 1951 zur Trennung. Eve rächt sich an Ira, indem sie den republikanischen Politiker Bryden Grant und seine Frau Katrina van Tassel Grant in ihrem Namen ein Buch mit dem Titel „Mein Mann, der Kommunist“ schreiben und im Jahr 1952 veröffentlichen lässt. Dieses Rufmord-Dokument stürzt Ira in den Abgrund. Das alles erfährt Nathan Zuckerman Jahrzehnte nach Iras Tod von dessen Bruder Murray Ringold. Auch er ist ein Opfer des grassierenden Antikommunismus, verliert zeitweise seinen Job als English-Lehrer und wird Staubsaugervertreter, um über die Runden zu kommen. Das Buch beinhaltet mit dem Porträt Iras ein Psychogramm eines Mannes, der ein Gewaltproblem hat, und der wütend ist, auch über erfahrenen Antisemitismus. Aber „Amerika war ein Paradies für zornige Juden.“ (Seite 204) So wird Ira Partei-gläubiger Kommunist Der 1950 ausgebrochene Koreakrieg und eine allgemeine Atomkriegsangst treiben ihn an, bis 1953/56 die kommunistische Utopie für viele US-Kommunistinnen implodiert als Stalins Verbrechen und sein Antisemitismus sichtbarer werden.

Der Roman ist ein lesenswertes Buch, was neben dem Psychogramm des Hauptprotagonisten auch ein Porträt der McCarthy-Ära 1946-56 bietet.

Philip Roth: Mein Mann, der Kommunist, Reinbek 2021

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Buchkritik „Unterleuten“ von Juli Zeh

Mit einiger Verspätung habe ich den Roman „Unterleuten“ von Juli Zeh gelesen, der 2016 erschienen ist.
Handlungsort ist das fiktive „Unterleuten“, was 100 Kilometer von Berlin entfernt in der brandenburgischen Ost-Prignitz liegt. Gegen Buch-Ende findet sich anschauliche Beschreibung der Gegend:
„Sosehr er bereit war, brettflache Sandböden, eintönige Kiefernwälder und verfallende Gründerzeitarchitektur romantisch zu finden – Plausitz war von einer speziellen ostdeutschen Trostlosigkeit, die jedem fühlenden Menschen aufs Gemüt schlagen musste. Nach der Autobahnausfahrt passierte die Landstraße noch drei typische Dörfer, jeweils fünfzig Häuser mit Zigarettenautomat, Briefkasten und Sandstreifen am Straßenrand, auf dem die Autos parkten. Ringsum lagen ausgedehnte Weiden, auf denen sich Galloway-Rinder langweilten. Danach, im ersten Dunstkreis, verwandelten sich die Gegend in eine Rumpelkammer der Zivilisation. Kläranlage, Umspannwerk, Gewerbegebiet, Tankstellen, die Schallschutzwände der ICE-Trasse und die Lagerhallen einer Spedition sich zu einer Anti-Landschaft von frustrierender Beliebigkeit. Radwege nahmen die Landstraße in den Schwitzkasten, Kreisverkehre belästigten die Kreuzungen, an den Laternen hingen Hinweisschilder auf den Plausitzer McDonald’s. Zuletzt musste Frederik noch an den Shopping-Malls und Designer-Outlets vorbei, die die Stadt umgaben wie ein feindlicher Belagerungsring.“ (Seite 570-571)
Unterleuten umfasst 122 Haushalte, in denen 200 Leute („Unterleutchen“) leben. Hier hat die Tauschgesellschaft der Spät-DDR überlebt:
„Obwohl Unterleuten keine hundert Kilometer von Berlin entfernt lag, hätte es sich in sozialanthropologischer Hinsicht genauso gut auf der anderen Seite des Planeten befinden können. Unbemerkt von Politik, Presse und Wissenschaft existierte hier eine halb-archaische, fast komplett auf sich gestellte Lebensreform, eine Art vorstaatlicher Tauschgesellschaft, unfreiwillig subversiv, fernab vom Zugriff des Staates, vergessen, missachtet und deshalb auf seltsame Weise frei.“ (Seite 29)

Die Geschichte spielt 2010 und handelt von den Alteingesessenen und Neuzugezogenen, die sich in den Konflikt um die Aufstellung von zehn Windrädern begeben. Dieser ‚Windrad-Bürgerkrieg‘ sorgt dafür, dass alte Rechnungen beglichen und neue aufgestellt werden und die ganze Dorfgemeinschaft sich zerstreitet.
Jedes Kapitel hat Zeh aus der Perspektive eines oder einer Protagonist*in verfasst. Da sind zum Beispiel Rudolf Gombrowski und Kron, die seit Jahrzehnten miteinander verfeindet sind. Gombrowski ist Geschäftsführer der „Ökologica GmbH“, die er im November 1991 aus der Erbmasse der ehemaligen „Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft“ (LPG) formte. Auch die 250 Hektar Land brachte er mit ein. Die „Ökologica“ ist der größte Arbeitgeber in Unterleuten. Sein Erzfeind Kron, ein ehemaliger LPG-Brigadeführer, konnte sich im Gegensatz zu Gombrowski weniger gut mit den neuen Verhältnissen arrangieren. Er steht ihnen kritisch gegenüber:

„Kron wusste durchaus, was Freiheit war. Ein Kampfbegriff. Freiheit war der Name eines Systems, in dem sich der Mensch als Manager der eigenen Biographie gerierte und das Leben als Trainingscamp für den persönlichen Erfolg begriff. Der Kapitalismus hatte Gemeinsam in Eigensinn und Anpassungsfähigkeit verwandelt. […] Auf ihren Arbeitsstellen saßen die Leute unter Überwachungskameras, ließen sich die Zigarettenpausen verbieten und machten Überstunden in der Hoffnung, von der nächsten Kündigungswelle verschont zu bleiben. In den Schulen, die jetzt »Lernumgebungen« hießen, wurde nicht mehr unterrichtet, sondern Projekte entwickelt, Lernprozesse evaluiert und in Kernkompetenzen investiert. Die Krankenhäuser hatten sich in Gesundheitsfabriken verwandelt, in denen sich eine industrialisierte Medizin nicht um den Patienten, sondern um die Bettenrendite kümmerte […].“ (Seite 107)

Neulinge in Unterleuten sind dagegen Linda Franzen, eine Pferdewirtin, und ihr Freund Frederik Wachs, ein Spiele-Designer. Linda und Frederik besitzen eher zufällig ein Stück Land, welches zwei Parteien brauchen, um ihr Grundstück als neuen Windpark-Standort zu qualifizieren. Neben Gombrowski interessiert sich Konrad Meiler aus Ingolstadt für das Projekt, was 15.000 Euro jährlichen Pachterlös für jedes der zehn Windräder einbringt. Meiler hat in der Nachwende-Zeit mal eben 250 Hektar für 2,5 Millionen DM ersteigert. Er verkörpert im Buch den finanzstarken Wessis, der alles aufkauft. Linda Franzen versucht Gombrowski gegen Meiler auszuspielen. Franzen tritt den beiden älteren Männern gegenüber selbstbewusst und fordernd auf. Sie folgt in ihrem Tun den Anweisungen eines fiktiven Selbsthilfe-Guru. Seit drei Jahren leben in Unterleuten auch der Soziologie-Professor Gerhard Fließ und seine jüngere Frau Jule. Die beiden haben eine Tochter: Sophie. Gerhard Fließ hat Berlin bewusst den Rücken gekehrt, weil er sich als Linker von allen verlassen fühlt:

„Außer Gerhard schien niemand mehr zu glauben, dass Glück im gemeinsamen Kampf für eine gute Sache liege. Stattdessen suchten alle ihr Heil im Training von Körper und Geist. Gerhard fühlte sich umgeben von Athleten. Bildungsathleten, Berufsatheleten, Liebesathleten, Lebensathleten. Im Kampf hatte man sich stets als Teil einer Gruppe gefühlt; das Training machte einsam. Immerzu gingen die Menschen nach hause, zur Familie, zum Sport, zu ihrem Facebook-Profil. Gerhard fühlte sich zurückgelassen, mit hängenden Armen zuschauend, wie alle anderen in verschiedene Richtungen auseinanderliefen.“ (Seite 20)

Also bändelt er mit einer seiner Studentinnen an, sie bekommen eine Tochter und er wird Vogelschützer in der Unterleutner Halle, wo er im Allgemeinen über die 200 Hektar des Vogelschutzreservats Unterleuten wacht und im Speziellen 33 Kampfläufer, eine seltene Vogelart, beschützt. Neben dem Paar wohnt Bodo Schaller, der ehemalige Mann fürs Grobe von Gombrowski, mit dem das Paar einen Nachbarschaftsstreit anfängt. Hinzu kommen Kinder der benannten Protagonistinnen, Ehepartner, eine vermeintliche Geliebte und der Bürgermeister, Arne.
Als Krons Enkelin verschwindet, eskaliert die Situation.

Da jedes Kapitel aus der Perspektive einer anderen Person verfasst wurde, erfährt die/der Leser*in von den Fehlannahmen der Anderen in Bezug auf ihre Gegenspieler*innen oder Verbündete. So ist zum Beispiel Gerhard Fließ ein ziemlich dummer Mensch, der selbst seine Frau nicht richtig einschätzen kann.
Unterleuten ist die Dorfversion von „Games of Thrones“ und liest sich herrlich, auch weil Zeh so gut schreiben kann. Der letzte Satz im Buch lautet beispielsweise:
„Draußen legt sich die frühe Nacht dem Dorf wie eine beruhigende Hand auf den Scheitel.“ (Seite 635)

Juli Zeh: Unterleuten, München 9. Auflage 2017.

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Buchkritik „Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf“ von Jean-Philippe Kindler

Inzwischen ist Jean-Philippe Kindler in der linken Szene und darüber hinaus eine bekannte Figur. Auf ihn gestoßen bin ich durch die Podcast-Empfehlung für „Nymphe & Söhne“, einen kurzweiligen Labber-Podcast, der auch davon lebt, dass Kritik und Unwohlsein mit Alltag, Geschlechter-Rollen aber auch eben Kritik an der linken Szene von allen drei Podcast-Beteiligten offen formuliert wird. Kindler hat aus seinen verschiedenen Kritikpunkten und einer allgemeinen Gesellschaftskritik das Buch „Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf“ geformt.
Auf über 150 Seiten formuliert der Marxist in einer Art Essay diese Kritik. Für ihn besteht der zentrale Antagonismus in unserer Gesellschaft zwischen Ausbeutenden und Ausgebeuteten. Dass das nicht erkannt wird, führt er auf fehlendes Klassenbewusstsein zurück.
Er selber schreibt: „Dieses Buch aber möchte den Kapitalismus aus dem Unbewusstsein ins Bewusstsein bringen und deutlich machen, dass es dieses gemeinsames Schicksal, welches sich ‚Ausbeutung‘ nennt, auch heute noch gibt.“ (Seite 23)

In seinem Buch formuliert Kindler immer wieder eine weitgehend solidarische Kritik an linken Positionen wie der Identitätspolitik. Damit hebt er sich wohltuend ab von der zynischen Kritik an dieser Politik oder der unkritischen Affirmation.
Interessant ist sein Begriff der „Antipolitik“, womit der die vermeintliche Alternativlosigkeit bezeichnet, die allenthalben behauptet wird.
Außerdem schreibt er von einer „Gesellschaft der Gesellschaftslosen“, also Menschen, die zwar in einer Gesellschaft leben, das aber ignorieren und stattdessen nur ihre individuelle Freiheiten ausleben.

Forderung nach einer Repolitisierung
Kindler möchte „Armut repolitisieren!“. Deswegen wendet er sich gegen eine „Ideologie der Leistung“ und „verheiligte Gewissheiten“ wie das eine Schuldenbremse ökonomisch sinnvoll sei. Um die reaktionäre Kritik an Bürgergeld-Anhebungen zu dekonstruieren vergleicht er sie mit Erbschaften, die er zu Recht als leistungsloses Einkommen sieht.
Kritisch sieht er auch den ideologischer Charakter des Ehrenamts, mit dem oft z.B. Armut abfedert wird. Es geht dabei nicht um eine Kritik an Ehrenamtlichen, sondern an der Funktion des Ehrenamtes. De facto werden nämlich sozialpolitische Leistungen in die Zivilgesellschaft ausgelagert.
Nach seiner Beobachtung stehen Inflation und Schuldenmachen in keinem kausalen Verhältnis zueinander und das führt er überzeugend aus.

Der Autor will auch „Glück repolitisieren!“. In diesem Abschnitt kritisiert die ganzen mal, mehr mal weniger, esoterischen Selbstverbesserungs-Maßnahmen. So genanntes Glückscoaching ist für ihn nur Klassenkampf von oben, da es um eine Veränderung der Seele statt Veränderung der Umstände, die einen krank machen, geht.
Auch das Gerede vom Bruttoinlandsglück analysiert er in diesem Zusammenhang als reaktionär. Denn Glück kann nicht definiert werden, da es ein situatives Gefühl ist.
Kleine Anmerkung des Rezensenten: Das Fürstentum Bhutan gilt als Bruttoinlandsglück-Weltmeister. Bei de Artikeln darüber wird aber nie erwähnt dass die nepalesische Minderheit aus dem autokratisch regierten Land vertrieben wurde, und somit nicht befragt werden konnte. Möglicherweise ist das Glück im Bhutan nicht allen vorbehalten gewesen.
Schlussendlich ist das Streben nach dem individuellen Glück laut Kindler vor allem ein Instrument der neoliberalen Ideologie der Eigenverantwortung.
Kindler hinterfragt in diesem Zusammenhang ideologiekritisch die „groteske Verherrlichung von Achtsamkeit, Meditation und Yoga“.
Ebenso entlarvt er, dass die neue Beschäftigung mit den eigenen Gefühlen und psychischen Dispositionen keineswegs zwingend eine Verbesserung gegenüber der überrationalen älteren Generation darstellen muss, sondern „auf eine bestimmte Weise kulturell fabriziert“ und „für den Kapitalismus nutzbar gemacht“ werden.
Was Kindler allerdings bei seiner Kritik von Menschen mit ihren individuellen Bewältigungsstrategien nicht sieht ist, dass es durchaus Menschen gibt, die sehen und verstehen dass der Kapitalismus – oder das Patriarchat – an vielem Schuld ist, aber es trotzdem als aussichtsvoller ansehen, sich individuell zu helfen als das Glück in einer fernen, utopischen Gesellschaft abzuwarten. Das Ende des Kapitalismus oder des Patriarchats scheint so weit in der Ferne zu liegen, dass es unerreichbar aussieht. Das mag eine Kapitulation vor den Verhältnissen darstellen, ist aber menschlich verständlich. Jemand, die nach schlechten Erfahrungen mit Arbeit und mit Männern durch Meditation zur Ruhe findet, mag Kindler reaktionär vorkommen. Aber das abstrakte „irgendwann ist die Scheiße zu Ende“ scheint vielen als die unwahrscheinlichere Alternative. Bei manchen ist es somit nicht das fehlende Klassenbewusstsein, sondern ein Realismus, der zu individuellen Bewältigungsstrategien führt. Meditation, Yoga, Landkommune, Eigenheim etc. sind einfacher umzusetzen als Kapitalismus oder Patriarchat zu stürzen.
Auch das Thema „bodypositivity“ hinterfragt er, weil er hier den spiegelbildlich verkehrten Schönheits-Wettbewerb in den sozialen Medien erkennt. Statt dem Wettbewerb um den schönsten Körper gibt es einen Wettbewerb darum, wer sich am besten mit seinem normalen Körper arrangiert. Der Körper bleibt dabei aber im Mittelpunkt des Interesses. Stattdessen empfiehlt Kindler weniger über Körper nachzudenken.
Hier mag man aber einwenden dass die meisten Menschen über sexuelles Begehren und romantische Sehnsüchte verfügen und das die Erfüllung von beidem auch in Zusammenhang mit Attraktivität steht. Seinen Körper zu ignorieren bzw. nicht zu optimieren, kann also mit dazu führen dass man am Ende leer ausgeht. Natürlich gibt es noch viele andere Faktoren bei der Partnerin-Suche wie Humor, Charaktereigenschaften etc., aber es spielt eine Rolle. Den Faktor Aussehen oder Körper bei der Partnerin-Wahl kann man weder durch ignorieren noch durch bodypositivity einfach zum Verschwinden bringen. Allerdings reichen schöne Körper alleine nur in asymmetrischen, oberflächlichen oder kurzen Beziehungen aus.

Weiter fordert er die „Klimakrise [zu] repolitisieren!“. In diesem Zusammenhang plädiert er für eine „wohlüberlegte Verbotspolitik“ und kritisiert die Verteidigung des Diesels sei nicht Freiheitskampf sondern Quengeligkeit.

Auch die „Demokratie [will er] repolitisieren!“. Derzeit gelte: „Liberale Demokratie ist Kapitalismus plus Wahlen, mehr nicht!“ (Seite 99)
Er verweist u.a. auf Statistiken, nach denen Arme weniger wählen. Damit seien demokratische Wahlen gar nicht so demokratisch wie oft behauptet.

Außerdem will er noch das „Linkssein repolitisieren!“. Er äußert sich in diesem Zusammenhang auch zu dem Thema Identitätspolitik. Diese lehnt er nicht grundsätzlich ab, kritisiert aber das durch Betroffenheit eine absolute politische Deutungshoheit eingefordert wird bzw. Widerspruch damit nicht geduldet wird: „Allzu häufig passiert es mittlerweile in linken Diskussionen, dass Betroffenheit von Diskriminierung gleichgesetzt wird mit einer absoluten Deutungshoheit über politisch zu verhandelnde Sachfragen.“ (Seite 123)
Er führt aus: „Und an dieser Stelle werden Diskurse dann aus meiner Sicht recht eindeutig autoritär. Es geht häufig nicht mehr um den Austausch von Argumenten auf Augenhöhe, sondern um die Forderung politischer Bußfertigkeit in einem quasireligiösen Sinne. Der weiße Cis-Mann gilt als Bevorzugter eines patriarchal-rassistischen Systems per se als Mittäter und hat jene Täterschaft durch bedingungslose inhaltliche Unterstützung langsam abzutragen. Dass der weiße Cis-Mann bevorzugt, leugnet niemand mit Verstand. Dass bedingungslose Solidarität mit denen, die tagtäglich innerhalb des Systems unterdrückt werden, unabdingbar ist, leugnet niemand mit Empathie. Aber die in der Critical-Whiteness-Theorie oft mitschwingende Forderung nach antirassistischer Selbstbereinigung der Annahme folgend, dass Menschen sich ihr internalisiertes Weißsein erst einmal abtrainieren müssten, ist kein Naturgesetz oder unumstößlicher Fakt, sondern eine politische Auffassung, die man kritisieren darf. Wird die Kritik an jenem Menschenbild aber gleichgesetzt mit dem Entzug von Solidarität mit von von Diskriminierung betroffenen Menschen ist die Forderung eben nicht ‚Verbündetenschaft‘, sondern ganz eindeutig ‚Gefolgschaft‘. Solidarität ist hier nicht hierarchiefrei, sondern als Treueverhältnis konzipiert: Ich bin erst solidarisch, wenn ich den Argumenten meines Gegenübers nicht auf eine solche Weise infantilisieren und mute ihm dementsprechend Widerspruch zu.“ (Mitte, 125-126)
Polemisch wie treffend resümiert er über den Zustand der Linken in Deutschland: „Von dieser deutschen Linken ist nun wirklich keinerlei revolutionäres Potenzial zu erwarten, da man im alternativen Zentrum verlässlich an der eigenen politischen Verlotterung arbeitet.“ (Seite 134)

Er endet in seinem Buch damit „Das gute Leben [zu] repolitisieren!“. In diesem Abschnitt bewertet er auch die HookUp-Kultur kritisch, die versucht jenseits von Verpflichtungen, durch Spaß „Erlebnistrophäen“, wie er es nennt, zu sammeln.
Er fordert am Ende seiner Betrachtungen: „politische Gefühle gehören weder unterdrückt noch verheiligt“. (Seite 127)

In seiner Kritik ist Kindler radikal, aber in den Handlungsvorschlägen eher realpolitisch, etwa wenn er eine Aussetzung der Schuldenbremse vorschlägt. Hier ist deutlich der Staat sein angesteuertes Instrument. Trotz einiger staatskritischer Töne im Buch scheint die Staatskritik eher ein blinder Fleck im Buch zu sein. Indirekt liest man aus dem Buch, dass für Kindler der Staat eine Verteilungsmaschine darstellen sollte. Das der Staat Nationalismus, Hierarchien und institutionelle Gewalt beständig produziert geht so unter.
Außerdem scheint auch er zu einer Kapitalismus-ist-der-Hauptwiderspruch-Analyse zu neigen. So warnt er etwa vor einem diversen Kapitalismus, aber nicht vor einem antikapitalistischen Sexismus.
Am Buchende gibt es noch einen Handlungsvorschlag, wenn er von einem „Generalbestreikung gesellschaftlich wichtiger Branchen und Lebensbereiche“ (Seite 145) schreibt.

Das Buch ist ein erfrischender Zuruf an Linke mehr zu tun und eine gute Kritik an den herrschenden Zuständen.
Ich werde es in Zukunft in meinem Freundeskreis verleihen und verschenken.

Jean-Philipp Kindler: Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf. Eine neue Kapitalismuskritik. Rowohlt, 2023.

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Broschürenkritik „Die islamische Rechte in Deutschland“ von der „Basisgruppe Recherche Ost“

Die im Januar 2023 erschienene Broschüre „Die islamische Rechte in Deutschland“ betritt Neuland, indem sie eine Kritik desjenigen Phänomens versucht, welches in ihr als „islamische Rechte“ bezeichnet wird.
Da es „bisher nur ideologiekritische Analyse[n] und kaum Recherche mit der islamistischen Rechten“ gegeben hätte, war es den Autor*innen „ein besonderes Anliegen über die theoretischen Erwägungen hinaus eine akteursbezogene Recherche der islamistischen Rechten und ihrer Netzwerke in Deutschland vorzulegen.“ (Seite 6) Es ist unzweifelhaft ein Drahtseilakt. Einerseits sollte es aus linker emanzipatorischer Perspektive eine Kritik an den weit verzweigten Strukturen der islamischen Rechten in der Bundesrepublik geben. Andererseits will man auch keine rassistischen Narrative der deutschnationalen extremen Rechten verstärken, die jeden Muslim oder Menschen aus mehrheits-muslimischen Ländern unter Generalverdacht stellen. Das gelingt dem Autor*innen-Kollektiv „Basisgruppe Recherche Ost“ ( BAREO ) ganz gut.
Zur Erstellung der Broschüre haben sie mehrere Leitfragen gestellt:

Mit der islamischen Rechten wird in der Broschüre eine Gruppe bezeichnet, die nicht nur die türkischen „Grauen Wölfe“ oder jihadistische IslamistInnen umfasst, sondern auch größere Teile der Organisationen, die oft als ‚konservativ‘ verharmlost werden.
Tatsächlich haben die Autor*innen Recht, wenn sie diese Verharmlosung kritisieren, denn die islamische Rechte hat eine politische reaktionäre und rechte Agenda und ist nicht einfach ’nur konservativ‘.

Legalistischer Islamismus in Deutschland
Die islamische Rechte übt sich in Selbstverharmlosung: „Ähnlich der deutschnationalen Rechten wie der AfD, bemühen sich die FunktionärInnen der islamistischen Rechten um eine formelle Anpassung an die gegebenen politischen Strukturen und eine Selbstinszenierung als Teil der »demokratischen Öffentlichkeit«.“ (Seite 7)
Dazu geben sich viele islamische Rechte nach außen liberal, während sie nach innen reaktionär und rechts sind. Die Autor*innen nennen das den ‚legalistischen Islamismus‘:
„Diese reaktionäre Ideologie versteckt die islamistische Rechte in der breiteren Öffentlichkeit hinter der liberalen Fassade des legalistischen Islamismus.“ (Seite 14)
Dieser Variante des Islamismus ist weitaus einflussreicher als der jihadistische Islamismus. Laut der Broschüre stehen 1,5 Millionen der 4-5,5 Millionen Muslime und Muslimas in Deutschland unter dem Einfluss des legalistischen Islamismus.
Besonders wichtig sind die AKP-nahe DİTİB – die deutsche Dependenz der türkischen Religionsbehörde Diyanet – und die Millî Görüş-Bewegung (IGMG), die beide dem türkischen Staatsislamismus nahe stehen. Zur DİTİB heißt es in der Broschüre:
„Die DİTİB verfügt heute verschiedenen Schätzungen zufolge über etwa 800.000 Mitglieder und ein Umfeld von etwa 200.000 weiteren Personen. Mit einer Anhängerschaft von bis zu einer Million Personen und rund 900 Mitgliedsvereinen ist sie damit der bei weitem größte islamische Dachverband Deutschlands.“ (Seite 22)

Eine weitere wichtige Organisation im Netzwerk der islamischen Rechten ist der „Zentralrat der Muslime in Deutschland“ (ZMD), der der Muslimbruderschaft zugerechnet wird: „Der ZMD kann als eines der einflussreichsten Instrumente der Muslimbruderschaft in Deutschland angesehen werden. Seine FunktionärInnen gehören zu den gern gesehenen GesprächspartnerInnen in Politik, Medien und zivilgesellschaftlichen Initiativen, insbesondere zu den Themen Islam, Islamfeindlichkeit und antimuslimischer Rassismus“ (Seite 19)

DİTİB, IGMG, ZMD und Islamrat kooperieren miteinander und verfolgen eine ähnliche Strategie zur Einflussnahme in der deutschen Gesellschaft. Dabei sind sie zum Teil sehr erfolgreich. Beispielsweise ist in Berlin die „Islamische Föderation“, der Berliner Dachverband der IGMG, maßgeblich für den Islamunterricht verantwortlich.

Islamische Rechte gegen antimuslimischen Rassismus
Besonders erfolgreich sind islamische Rechte bei der Aneignung und Bearbeitung des Themas antimuslimischer Rassismus. Die Autor*innen bezeichnen dieses Engagement als ‚instrumentellen Antirassismus‘. In der Broschüre heißt es dazu: „»Antimuslimischer Rassismus« und die nahezu synonym genutzten Begriffe »Islamophobie«, »Islam- und Muslimfeindlichkeit« werden zu diskursiven Waffen, mit denen KritikerInnen der eigenen politischen Positionen leicht zu diskreditieren sind.
VertreterInnen der islamistischen Rechten treten im kulturalistisch aufgeladen Diskurs als MuslimInnen schlechthin auf. Ihre politischen Positionen erscheinen auf diese Weise selbst als religiöse und kulturelle Eigenschaften von MuslimInnen, ihr Charakter einer politischen Ideologie wird unsichtbar und unhinterfragbar.“
(Seite 46)

Die Aneignung des Themas dient auch der Kritik-Abwehr, denn einige AkteurInnen diffamieren bereits die kritische Auseinandersetzung mit dem Islamismus als grundsätzlich islamophob.
Eine wichtige Roll spielt die Organisation „CLAIM — Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit“, laut der Broschüre ein „zentrale[r] Knotenpunkt im Netzwerk des rechtsislamistischen Antirassismus in Deutschland.“ (Seite 50) Nachgewiesen wird zumindest die Beteiligung rechtsislamischer oder rechtsislamisch verstrickter AkteurInnen. CLAIM wird gefördert durch das Programm „Demokratie leben!“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und unterstützt durch kirchliche Initiativen, die Arbeiterwohlfahrt und antirassistischen Vereinigungen wie „Gesicht Zeigen!“. Sicherlich gut gemeint, aber CLAIM ist laut der Broschüre maßgeblich aus dem Berliner Verein „Inssan“ hervorgegangen, der „aus dem Aktionsgeflecht der Muslimbruderschaft“ (Seite 51) stammt.

Ein anderes Beispiel wäre die Monitoringstelle #brandeilig, die von der IGMG-Organisation FAIR betrieben wird und Angriffe auf Moscheen erfasst. In ihrem Monitoring werden aber auch Vorfälle, bei denen von linken oder kurdischen Aktivist*innen islamistische oder türkisch-nationalistische Moscheen besprüht wurden, als Ausdruck einer Islam-Feindlichkeit eingeordnet. Obwohl die Moscheen in diesen Fällen ganz offensichtlich nicht als religiöse Gebäude sondern als politische Stützpunkte ausgewählt wurden.
„Die Hintergründe von Angriffen auf Moscheen ordnet #brandeilig grundsätzlich Formen der Islamfeindlichkeit und des antimuslimischen Rassismus zu.“ (Seite 53)

Der islamischen Rechten schaffte es sogar in staatliche Gremien hinein zu gelangen:
„Die Besetzung staatlicher Gremien, wie etwa des Unabhängigen Expert*innenkreises Muslimfeindlichkeit, zeigt, wie sich die islamistische Rechte durch eine geschickte Kombination von zivilgesellschaftlicher Netzwerkarbeit und einer Integration in den Staat zunehmend erfolgreich gesellschaftlichen Einfluss als Etappenziel sichert“ (Seite 56)

Manches mutet geradezu realsatirisch an. Etwa, wenn die Vorsitzende der „Deutschen Islam Akademie“ (DIA), Pinar Çetin, Anfang 2021 einen Antirassismus-Preis zurückgeben musste, weil sie den Völkermord an den Armenier*innen geleugnet hatte. Die DIA ist laut Broschüre eine „Schnittstelle zwischen DİTİB und dem Netzwerk der Muslimbruderschaft“ (Seite 55).

Ideologie-Kritik
Im zweiten Teil der Broschüre wird Ideologiekritik an den inhalten der islamischen Rechten geübt: „Im Folgenden entgegnen wir den essenzialistischen Fehldeutungen der islamistischen Rechten mit einer materialistischen Analyse und Kritik.“ (Seite 62)
Dazu wird auch die Geschichte der islamischen Rechten nachgezeichnet. Als Vorläufer der islamischen Rechten wird der islamische Modernismus präsentiert, der trotz des Namens im Kern ein Radikalkonservatismus war. Diesen Radikalkonservatismus erbte der Islamismus von den islamischen Modernisten.

Ein Kapitel widmet sich dem Thema „Die Islamistische Rechte und der Islamische Antisemitismus“. Darin heißt es: „Die Besonderheit des Antisemitismus der islamistischen Rechten gegenüber anderen Formen des Antisemitismus besteht in seiner Anreicherung mit spezifischen Elementen der islamischen Theologie.“ (Seite 73)
Für die Türkei wird auf den dort sehr stark verbreiteten ‚Dönme-Antisemitismus‘ eingegangen: „Der Dönme-Antisemitismus ist die wichtigste Erscheinungsform moderner Judenfeindschaft in der Türkei.“ (Seite 77)
Dabei werden mächtige Personen zu Krypto-Juden und -Jüdinnen umgedeutet, indem ihnen angedichtet wird, sie würden zu den Dönme gehören, einer Gruppe Juden und Jüdinnen die vor Jahrhunderten zum Islam konvertiert ist.

Ein weiteres Kapitel widmet sich dem Thema „Die Islamische Rechte und ihr antiliberaler Kapitalismus“ und stellt fest, dass trotz des traditionell-islamischen Zinsverbots islamische Rechte und Kapitalismus gut harmonieren.

Fazit: spannende Einblicke in das rechts-islamische Netzwerk
Die Broschüre hilft einem die Netzwerke der islamischen Rechten in Deutschland und ihre Strategien sowie ihre Ideologie nachzuvollziehen.
Besonders erschreckend ist ihr Einfluss durch ihren instrumentellen Antirassismus auf die Zivilgesellschaft und Politik. Vermutlich aus Unwissen und Naivität machen so viele mit. Die Broschüre hilft hier durch Aufklärung.
Es bleibt am Ende die Frage, welche Akteur*innen auf muslimischer Seite im Kampf gegen die unzweifelhaft sehr virulente Islam-Feindlichkeit von AfD und Co. noch übrig bleiben. Offenbar sind sich die rechts-islamischen Organisationen am besten organisiert, während zumindest im sunnitischen Islam in Deutschland liberale oder gar linke Kräfte sehr schlecht aufgestellt sind. Vielleicht wären Alevit*innen hier geeignete Bündnispartner.

Ein Manko ist, dass vermutlich keiner der Autor*innen einen arabischen oder türkischen Sprachzugang hatte. Damit fällt die Quellen-Recherche in diesen Bereichen leider aus.
Manchmal wären zum besseren Verständnis und Einordnung ein Vergleich zur christlichen Rechten hilfreich gewesen. Etwa wenn man die Muslimbruderschaft mit der Piusbruderschaft analogisiert hätte.

Basisgruppe Recherche Ost: Selbstverlag, Berlin 2023 Download: https://bareo.uber.space/media/site/2fac07514e-1692188434/die-islamistische-rechte-in-deutschland.pdf

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Buchkritik „Widerstand über alles. Wie die Freien Sachsen die extreme Rechte mobilisieren“

Johannes Kiess und Michael Nattke haben mit dem Buch „Widerstand über alles. Wie die Freien Sachsen die extreme Rechte mobilisieren“ in diesem Jahr ein erstes Buch über die extrem rechte Regionalpartei „Freie Sachsen“ vorgelegt.
Die Partei ist ein sächsisches Spezifikum, also in einem Bundesland, in dem […] spätestens seit 2015 auf extrem rechten Demonstrationen unterschiedliche Milieus Seite an Seite marschieren […](Seite 14).
Sie bezeichnen die „Freien Sachsen“ sowohl als „Bewegungs- und Netzwerk-Partei“ (Seite 14) als auch als „Kleinstpartei“, vermutlich weil sie laut Wikipedia 1.000 Mitglieder hat.
Die Partei befinde sich zwar in Konkurrenz zur größeren Sachsen-AfD eröffnet aber auch „Möglichkeitsräume im Schatten der AfD“. So sieht das Autoren-Duo den AfD-Erfolg als Chance für die „Freien Sachsen“ und andere Neonazis. Denn: „Letztlich profitieren aber auch gewaltbereite Akteure von der Diskursverschiebung und Enthemmung, die AfD und Co. vorantreiben.“ (Seite 24)

Sachsen als Laboratorium
In ihrem Buch zeichnen die Autoren das Vorspiel bis zur Gründung der „Freien Sachsen“ nach. Diese sind ein legitimes Kind der sächsischen Zustände. So wird im Buch die Entstehung eines rechten Protestmilieus in Sachsen abgebildet. Benannt werden u.a. die NPD-Landtagsfraktion über zwei Legislaturperioden, PEGIDA und die Petry-AfD ab 2015.
Diese führen zu einer neuen Bandbreite: „Insgesamt herrscht eine bisher nicht da gewesene Vielfalt am rechten Rand.“ (Seite 20)
In Chemnitz bildete sich als Vorläufer der „Freien Sachsen“ die Lokalpartei „Pro Chemnitz“ heraus, die u.a. mit dem 2019 aufgelösten Verein „Freigeist“ kooperierte.
In der dann neu gegründeten Partei begegnen einem alte Bekannte wieder, die teilweise aus der neonazistischen Rechten stammen. Darunter sind gut vernetzte Neonazi-Kader, die über einige Organisations-Erfahrung verfügen, etwa Michael Brück, ein aus Dortmund stammender Neonazi, Stefan Hartung, ein langjähriger NPD-Kader, oder Max Schreiber, der 2019 für die NPD kandidierte.
Erinnert wird auch an die extrem rechten Großaufmärsche in Chemnitz 2018 infolge der rassistischen Instrumentalisierung eines Tötungsverbrechens. Bei diesem fanden sich alle Fraktionen und Organisationen der extremen Rechten in Form einer unausgesprochenen aber deutlich sichtbaren Straßen-Allianz zusammen.
Ab April 2020 folgte dann die Corona-Zäsur. Die Autoren identifizieren die Corona-Proteste dabei als wichtigstes Mobilisierungsthema der jungen Partei: „Das Thema »Corona« war das wichtigste diskursive window of opportunity für die Freien Sachsen, denn in einer breiten Bewegung von Maßnahmengegner:innen war der kleinste gemeinsame Nenner die fundamentale Ablehnung aller staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie.“ (Seite 127)
Corona war für die Partei ein Türöffnerthema auch für ihr Widerstandsnarrativ gegen ‚Diktatur‘ zu agieren, was eine Delegitimierung demokratischer Institutionen darstellt. Damit sind die „Freien Sachsen“ anders als die AfD deutlicher nicht nur eine Anti-Establishment- sondern auch eine Anti-System-Partei. Diese Haltung findet sich zwar auch in der AfD, verkörpert durch den Höcke-Flügel, aber weniger offen bzw. offensiv.
Wie anderen rechte Gruppen haben auch die „Freien Sachsen“ verschiedene Mobilisierungsthemen, aber in der Regel geht es ihnen eher um die Mobilisierung an sich als um das konkrete Thema: „Mit den zahlreichen Demonstrationen verfolgen sie nur beiläufig das Ziel, inhaltliche Anliegen voranzubringen. Vor allem geht es darum, Dominanz auf der Straße zu suggerieren und zu sichern sowie die Illusion einer eigenen Mehrheit für die Anhängerschaft aufzubauen.“ (Seite 99)
Kernanliegen der „Freien Sachsen“ ist ihre Feindschaft gegen das demokratische System:
„Anders gesagt: Bei den Freien Sachsen ist für verschiedene thematische Vorlieben Platz. Hauptsache der Untergang der Demokratie kommt nicht zu kurz.“ (Seite 127)
Dabei wird das Bundesland Sachsen als „antimoderne Gegenthese zur modernen Demokratie“ in Stellung gebracht.
Als ‚Masterframe‘ benennen die Autoren das populistische Bild von „Volk versus Elite“. Mit Elite ist aber nicht nur die sichtbare Elite gemeint. Die „Freien Sachsen“ machen im Hintergrund der Weltveränderung nämlich eine globale Verschwörung von „Globalisten“ aus.

Die „Freien Sachsen“ als Knotenpunkt in einem extrem rechten Netzwerk
Organisatorisch habe sich, so das Autoren-Duo, eine Trennung der verschiedenen Gruppen durchgesetzt, die aber trotzdem nicht zwingend zur Konkurrenz geführt hat:
„Allerdings streben diese Gruppierungen heute in der Regel nicht mehr nach einem gemeinsamen Organisationsdach, sondern nach Stärkung des Bewegungsgedankens. Mit ihm wird eine Klammer um die verschiedenen Strömungen gebildet, die gleichzeitig deren Selbstständigkeit gewährleistet.“ (Seite 20)
Die modernisierte Struktur werde inzwischen auch in der Wissenschaft erfasst: „Die extreme Rechte wird deshalb inzwischen als netzwerk- oder bewegungsförmiges Spektrum beschrieben, das nicht nur von (mehr oder weniger extremen, Wahlstimmen maximierenden und/oder Regierungsbeteiligungen anstrebenden) Parteien geprägt ist, sondern auch von Bewegungen und Netzwerken, die auf die Mobilisierung öffentlicher Unterstützung sowie subkultureller Milieus setzen […].“ (Seite 21)

Die „Freien Sachsen“ mobilisieren weit über ihre Mitgliederstärke hinaus. Bei ihrer bisher größten Demonstration am 8. Januar 2024 in Dresden kamen tausende zusammen. Auf Demonstrationen der „Freien Sachsen“ kommt es nicht selten zu Gewalt gegen Polizei, Journalist*innen und politische Gegner*innen.
Nicht immer klar ist, wer direkt zu den „Freien Sachsen“ gehört und wer ’nur‘ mitläuft oder ihr Merchandise nutzt. Tatsächlich zielen die „Freien Sachsen“ auf eine Corporate-Identity u.a. durch die Pflege eigener Marken ab. Durch die ausdrücklich erlaubten Doppelmitgliedschaften versucht man sich als Dach anzubieten.

Das Verhältnis zur AfD ist durchaus geprägt von Konkurrenz. Im Februar 2022 wurden die „Freien Sachsen“ vom AfD-Bundesvorstand auf die Unvereinbarkeitsliste gesetzt. In Sachsen konkurrierte man punktuell bei Wahlen mit der AfD. Bei den Landrats- und Bürgermeister-Wahlen 2022 errang die Partei dort, wo sie antrat zweistellige Ergebnisse. Trotzdem arbeitet man auf lokaler Ebene zusammen.

Zwar verfügen die „Freien Sachsen“ auch über ein eigenes Blatt, aber ihr mit Abstand wichtigstes Medium ist der Chat-Dienst Telegram. Hier hat ihr Hauptkanal hat 150.000 Abonnent*innen, wenn auch mit abnehmenden Views.
Die Regionalpartei bietet sich im Internet als Verstärker und Katalysator für Proteste an, indem sie Protestangebote über ihre reichweitenstarken Telegram-Kanäle bewirbt.

Das Buch ist eine gute analytische Annäherung an diesen neuen Akteur der extrem rechten Szene, der zwar vor allem in Sachsen aktiv ist, aber über Telegram eine Strahlkraft auf die gesamte rechte Protestszene entwickelt hat.
Allerdings werden die seltsamen Widersprüche dieses Akteurs im Buch nur bedingt aufgelöst. Etwa dass sich ein gesamtdeutscher völkischer Nationalismus durchaus mit einem sächsischen Regionalismus bis Separatismus schneidet. Hier hätte ein Blick auf die ähnlich ausgerichtete ehemalige „Lega Nord“ in Italien evtl. Erklärungsansätze angeboten.
Ebenso schwer ist zu verstehen, warum sich westdeutsche Neonazis, also ‚Wessis‘, so problemlos in einer sächsischen Regionalpartei engagieren können.
Dann bleibt da noch die große Frage „Warum – mal wieder – Sachsen?“ übrig bzw. spezifischer, warum die „Freien Sachsen“ mit ihrem Regional-Identitäts-Angebot so erfolgreich sind. Ein wichtiger Faktor dürfte hier sicherlich ein starkes sächsisches Sonderbewusstsein sein.
Fragen wie diese bieten auf jeden Fall Stoff für weitere Bücher über die extreme Rechte in Sachsen.
Das Buchs ist auf jeden Fall ein wichtiger Baustein im Versuch die sächsischen Zustände besser zu verstehen.

Johannes Kiess und Michael Nattke: Widerstand über alles. Wie die Freien Sachsen die extreme Rechte mobilisieren, 2024.

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Buchkritik „Altes Land“ von Dörte Hansen

Das Buch „Altes Land“ der Schriftstellerin Dörte Hansen hat viel Lob erfahren – zu Recht! Die Handlung beinhaltet vor allem eine Familien-Geschichte, die über mehrere Generationen abläuft. Im Prinzip, ist es auch die Geschichte einer ‚Misch-Ehe‘. Hildegard von Famcke, später Hildegard Jacobi, ist eine gegen Kriegsende aus Ostpreußen geflohene Adelsangehörige, die es in das titelgebende ‚Alte Land‘, eine traditionelle Obstanbau-Region vor den Toren Hamburgs, verschlägt. Die ehemalige Adelige ist durch die Flucht traumatisiert und sozial degradiert. Die Ost-Flüchtlinge galten bei ihrer Ankunft bei vielen westdeutschen Einheimischen oft nur als „Polacken“ und man verbot den eigenen Kindern mit den „Polackenkindern“ zu spielen.
Hildegard von Famcke wird in einem Reet-gedeckten Bauernhaus zwangseinquartiert und geht mit dem Sohn der Hausherrin eine Beziehung, eine ‚Mischehe‘ ein. Damals gab es tiefe kulturelle Gräben zwischen den ostelbischen Geflüchteten und den einheimischen Plattdeutsch-sprechenden Bauern und Bäuerinnen. Die Beziehung zerbricht, aber die gemeinsame Tochter Vera, bleibt zurück und wächst beim Vater auf. Die Mutter heiratet erneut und fast standesgemäß in das gehobenere Hamburger Bürgertum ein.
Vera Eckhoff wächst bei ihrem Vater auf und wird eine selbstständige Frau, die nie dauerhaft liiert ist. Von Beruf ist sie Zahnärztin und außerdem frönt sie in ihrer freien Zeit der Jagd-Leidenschaft.
Das zweite Kind von Hildegard Jacobi ist Marlene, die den Physikprofessor Enno Hove ehelicht. Deren Tochter, Anne Hove, wiederum sucht nach einem abrupten Beziehungsende mit ihrem Sohn Leo Zuflucht im ‚Alten Land‘ bei ihrer Tante.
Damit entflieht sie auch dem ‚Kulturkampf‘ mit den Müttern von Hamburg-Ottensen – was in etwa die Entsprechung zu Berlin – Prenzlauer Berg sein dürfte: „Sie […] reihte sich ein in den Treck der Ottenser Vollwert-Mütter, die jeden Tag aus ihren Altbauwohnungen strömten, um ihren Nachwuchs zu lüften, die aus dem Bio-Supermarkt im Netz des Testsieger-Buggys, den Kaffeebecher in der Hand und im Fußsack aus reiner Schafwolle ein kleines, das irgendetwas Durchgespeicheltes aus Vollkorn in der Hand hielt.“ (Seite 24)
Diese Schicht wird von Hansen in ihrem Roman immer wieder sehr humorvoll dargestellt:
„Die Kinder, die in ihre Kurse kamen, konnten nichts dafür, dass sie Clara-Feline oder Nepomuk hießen hießen, dass ihre Eltern sie wie Preispokale durch die Straßen von Ottensen trugen und von einer Frühförderungsmaßnahme zur nächsten schleppten.“ (Seite 50)
Doch Anne ist anders als das Blankeneser Bio-Bürgertum: „Die Familienstillleben in den Cafes und Parks von Hamburg-Ottensen zeigten Anne, was sie nicht waren: ein fest verschnürtes Paket, Vater-Mutter-Kind, verwoben zu einem stabilen Familienstoff.“ (Seite 70)
„Der leicht verwahrloste Hobo-Look ihrer, der sich auch mit seht teuren Klamotten gut herstellen ließ, war für die Akademiker-Eltern in Hamburg-Ottensen ein Ausdruck ihres Erziehungsstils. Unangepasste und kreativ, wild und widerspenstig, so liebten sie ihre Töchter und Söhne. Eine solide Kruste Dreck an Gummistiefeln und Fingernägeln machte den Look erst perfekt. Das Letzte, was sie wollten, war ein adrettes, artiges Kind.“ (Seite 138)
Durch die beiden neuen Mitbewohner kommt Leben in das alte Bauernhaus und das einsame Leben von Vera Eckhoff wird durcheinander gewirbelt. Die harte Jägerin taut aber, besonders was Leo angeht, nach und nach auf. Zugleich nähert sie sich Heinrich Lührs, einem Nachbar und Witwer immer mehr an.
Anne Hove, die als Musiklehrerin arbeitet, aber Schreinerin gelernt hat, bringt währenddessen das Haus auf Vordermann bzw. Vorderfrau.

Doch das Großstadt-geplagte Hamburger Bürgertum hat ein Auge auf das ‚Alte Land‘ geworfen, wo die Welt scheinbar noch in Ordnung ist. Finanzkräftige Hamburger*innen beginnen alte Bauern-Häuser aufzukaufen und zu renovieren: „Diese verspannten Großstadt-Elsen mit ihren Sinnkrisen quengelten um marode Reetdachhäuser wie ihre Töchter früher um ein Pony. Es war so süß!“ (Seite 92-93) So wird das ‚Alte Land‘ erneut zum Ziel von Migration: „Alles, was dann noch kam, die Ausgebombten, Weggejagten, Großstadtmüden, die Landlosen und Heimatsucher, waren nur Flugsand und angespülter Schaum.“ (Seite 169-70) Dabei erleben die touristisch motivierten Großstadt-Teilzeitflüchtlinge nur das, was sie in ihren Landlust-Lesezirkeln über das Land ohnehin zu wissen glauben: „Die Touristen fuhren zurück in ihre Mietwohnungen und Reihenhäusern, und ihr hübsches Bild vom Landleben hatte nicht eine Schramme abgekriegt. Ein Leben in Kalenderbildern, und alles so gesund, sie kamen immer wieder.“ (Seite 153-54) Als neuzugezogener Landromantiker tritt im Roman der Journalist Burkhard Weißwerth auf. Weißwerth ist jemand, der die Einheimischen im ‚Alten Land‘ für die Landromantik seiner Leser*innen instrumentalisiert. Irgendwann realisiert auch Weißwerth, dass das Landleben kein lebendig gewordener Manufactum-Katalog ist, und er plant seinen Rückzug nach Hamburg.
Die Retro-Nostalgie-Welle kommt von außen, denn die alten Marsch-Familien haben viele Modernisierungen angenommen, bis hin zur plattdeutschen Sprache, was manche bedauern: „Und sie vermissten ihre alte Sprache, die sie mit ihren Kindern nicht gesprochen hatten, weil sie zu sehr nach Stall und Land geklungen hatte und nach Dummheit.
Manche versuchten es jetzt wiedergutzumachen, sie brachten ihren Enkelkindern ein paar Brocken Plattdeutsch bei. Als könnten sie die Sprache, die sie sterben lassen wollten, jetzt noch retten mit ein paar Wörtern, ein paar Liedern, als wäre es nicht längst zu spät.“
(Seite 236)
Das Buch beinhaltet übrigens auch ein paar Sätze in Platt.
Währenddessen hadert Marlene mit der Beziehung zu ihrer Mutter Hildegard Jacobi, die ihr immer unbekannter erscheint: „Eine Mutter wie ein unbekannter Kontinent, die Tochter ohne Kompass ausgesetzt, ohne Karten, in einem Land mit tiefen Schluchten, in dem die Erde bebte und wilde Tiere lauerten.“ (Seite 177)

Der Roman ist gut geschrieben. Hansen kann einfach gut formulieren, etwa wenn sie schreibt: „Anfang September wurden die Tage blank, der Himmel trug ein ernstes Blau, es schien ein Räuspern in der Luft zu liegen, als plante jemand seine Abschiedsrede.“ (Seite 284)

Der Roman ist humorvoll und sanft zugleich. Es geht um alte Ungerechtigkeiten und neue Heilungen. Heimlicher Protagonist ist auch das Haus im ‚Alten Land‘, in dem Vera und ihre Nichte sowie deren Sohn wohnen. In dem Buch bekommt das Haus teilweise eine Art eigenständigen Charakter – ohne dass der Roman dabei ins magisch-fiktive abgleitet.

Die Lektüre lohnt sich auf jeden Fall!

Dörte Hansen: Altes Land, München 28. Auflage 2015.

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Buchkritik: „Der Abtrünnige“ von Erol Ünal

Die Literatur von Aussteiger*innen aus der extrem rechten Szene dürfte inzwischen einige Regalmeter füllen. Aber das 2021 erschienene Buch „Der Abtrünnige“ von Erol Ünal ist etwas anders. Darin schaut der 22-jährige Autor zwar auch kritisch auf das Aufwachsen in einer extrem rechten Szene in Deutschland zurück, aber es ist nicht eine deutschnationale, sondern eine türkischnationale. Im Untertitel heiß das Buch nämlich „15 Jahre in Moscheegemeinden. Meine Einblicke in eine Welt von Fundamentalisten und Rechtsextremen über Radikale bis Sufis“.

Als Junge bei den „Grauen Wölfen“
Ünal ist in der Stadt Esslingen in einer Familie aufgewachsen, die zu der türkisch-ultranationalistischen Bewegung der „Grauen Wölfe“ („Bokurtlar“) gehört, die sich auch „Idealisten“ („Ülkülcer“) nennen. Deswegen besuchte er schon als kleines Kind einen Verein bzw. die zugehörige Moschee der Bewegung.
Er berichtet wie die „Grauen Wölfe“ Jugendliche aus der türkischen community in Deutschland rekrutieren:
„Die Jugendarbeit ist keinesfalls zu unterschätzen. Mit den bereits genannten Ausflügen, der Fußballmannschaft und weiteren Aktivitäten werden Kinder und Jugendliche in den Idealistenverein hineingezogen.“ (Seite 43)
Eine wichtige Basis ist dabei ein Minderwertigkeitsgefühl, welches auch durch den Rassismus der Mehrheitsgesellschaft verursacht wird:
„Ob in der Türkei oder in Deutschland, das Minderwertigkeitsgefühl bildet das Fundament der Grauen Wölfe und der Erdoğan-Anhänger.“ (Seite 21)
Als Reaktion darauf kommt es zu einer nationalistischen oder Selbstüberhöhung bzw. „religiöse[n] Selbstbeweihräucherung“.
Die deutsche Mehrheitsgesellschaft weiß allgemein recht wenig über die „Grauen Wölfe“, z.B. über die Größe ihrer wichtigsten Organisation, der „Türk Federasyon“:
„Der „Türk Federasyon“ unterstehen heute cirka 160 Moscheevereine mit 7000 Mitgliedern. Für den Vergleich: Das sind ungefähr so viele Mitgleder wie die NPD sie Stand 2019 hat.“ (Seite 41)

Als Jugendlicher bei islamistischen Sekten
Später wurden Ünal und sein junger Bruder für Korankurse zu einer islamistischen Sekte geschickt. Dabei sind türkische Ultranationalisten und Islamisten trotz Gemeinsamkeiten konkurrierende Bewegungen:
„Die Islamisten und türkischen Nationalisten haben viele Gemeinsamkeiten, die gegen den gemeinsamen Feind oftmals kooperierten. Dennoch existiert ein Spalt zwischen beiden Lagern; während die Islamisten die Nationalisten beschuldigen, Papiermuslime zu sein, werfen die Nationalisten den Islamisten die Leugnung der türkischen Identität vor und behaupten, sie seien arabischer als die Araber.“ (Seite 56)
Ünal verinnerlichte das islamistische Identitäts-Angebot und wird ein ultrakonservativer Muslim. Dreh- und Angelpunkt ist dabei die Moschee:
„Eine Hinterhofmoschee in Deutschland ist daher nicht einfach nur eine Moschee, in der gebetet wird. Sie ist eine eigene Welt. Hat man sich einmal an die Welt der Hinterhofmoschee angepasst, geht man zum Haareschneiden, zum Essen, zum Einkaufen und auch zur Unterhaltung in die Moschee. Eine Parallelgesellschaft, die das Notwendige eines Zusammenlebens abdeckt.“ (Seite 43)
Die Hinwendung zum Islamismus stört nachhaltig sein Frauenbild, wie Ünal rückblickend fest stellt:
„Die jahrelangen Eintrichterungen bringen streng konservative Menschen zu der Auffassung, dass ein Mann eine Frau letztendlich nur als Sexobjekt betrachten könne und umgekehrt. Die Individualität hat in dieser frommen Welt keinen Platz.“ (Seite 86)
Die Angst vor Frauen führt auch zu einer rigiden Geschlechtertrennung, nur bei DITIB und den „Grauen Wölfe“ gibt es keine Geschlechtertrennung.

Im Grunde handelt es sich bei den im Buch beschriebenen islamistischen Gruppen um autoritäre Sekten.
Ünal ‚durchwandert‘ mehrere Gruppen. Diese sind dem deutschen Leser / der Leserin ohne Sprach- und Kulturkenntnisse zum Teil unbekannt, genauso wie die zugehörigen Netzwerke. Einige gehen auf alte Sufi-Orden zurück, wie auf den im 14. Jahrhundert gegründeten Sufi-Orden der Nakschibandi. Zum Teil tarnten sich diese Orden in Reaktion auf Atatürks Zwangssäkularisation Anfang der 1920er Jahre. Dem Nakschibandi-Orden entstammt zum Beispiel die Gruppe der Süleymanci, die auch im Buch beschrieben wird, genauso wie die Menzilci, die eng mit der autoritären Regierungspartei AKP verwoben sind. Auch die Kaplanis bzw. die Gruppe „Kalifatsstaat“ und die „Islamische Gemeinschaft Millî Görüş“ (IGMG) werden im Buch kritisch beschrieben, ebenso wie die Gülen-Bewegung bzw. Gülenci. Zu der Gülen-Bewegung schreibt der Autor:
„Nach meinen Einschätzungen ist die Gülen-Gemeinde eine gefährliche Sekte, die in der Öffentlichkeit ein friedliches Bild präsentiert, insgeheim jedoch eine Agenda vorantreibt, die weder etwas mit freiheitlichen noch demokratischen Werten gemein hat.“ (Seite 195)
In der Türkei unterwanderten AnhängerInnen der Gülen-Bewegung die Polizei und verbündeten sich mit der AKP gegen die KemalistInnen. Zeitweise stellten Gülencis 1/5 aller AKP-Abgeordneten. Nach dem Putschversuch von 2016 kam es jedoch zum Bruch zwischen AKP und Gülen-Bewegung.
Ünal beschreibt auch die 1924 gegründete Religions-Behörde Diyanet bzw. deren Ableger DITIB in Deutschland. Dieser vertritt 900 türkisch-muslimischen Gemeinden in Deutschland.
Unter Erdogan wurde die ursprünglich kemalistisch kontrollierte Institution immer mehr islamisiert.

Fazit: eine unbekannte Welt wird geschildert
Gerade die Darstellung der islamistischen Sekten ist die Darstellung einer unbekannten Welt. Ünal erläutert z.B. wie er die Gruppen auch an Hand äußerer Merkmale der Männer identifizieren kann. So liegt der Unterschied manchmal sogar im Schnauzer. Die Männer der einen Gruppe tragen einen mondsichelförmigen Schnurrbart und die anderen einen mandelförmigen Schnauzer.
Das alle Gruppen unterschiedliche Halal-Lebensmittelmarken haben, ist für Uneingeweihte ebenso wenig nicht bekannt.

Doch wie wird aus dem jungen Islamisten aus einer Bozkurtlar-Familie eigentlich ein linker Agnostiker? Die Gezi-Proteste 2013 in Istanbul brachten ihn zum Zweifeln ebenso wie die Schwierigkeiten als pubertierender junger Mann die sexualfeindlichen Regeln ein- bzw. durchzuhalten. Sein schlechtes Gewissen darüber quälte den Autoren.
Manche spirituellen Lehrer bzw. Lehren hatten ihn auch bereits in seiner ultra-religiösen Phase nicht überzeugt. Außerdem berichtet er auch von Misshandlungen durch die Lehrer.

Das Buch ist sehr spannend, weil es eine Parallelgesellschaft schildert, über die man ohne kulturellen und Sprach-Zugang kaum etwas erfährt. Der Begriff der Parallelgesellschaft scheint einem nach der Buch-Lektüre treffend zu sein, auch wenn der Begriff gerne rassistisch instrumentalisiert wird. Dabei geht es im Buch aber gar nicht um „die Türken“, sondern um bestimmte Bereiche der deutsch-türkischen community, außerdem wird der Rassismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft durchaus erwähnt.
Etwas irritierend ist, dass das Thema Queerfeindlichkeit fehlt, möglicherweise weil es komplett tabuisiert ist.
Das Buch sollte unbedingt von vielen Nicht-Informierten zu dem Thema gelesen werde.

Erol Ünal: Der Abtrünnige. 15 Jahre in Moscheegemeinden. Meine Einblicke in eine Welt von Fundamentalisten und Rechtsextremen über Radikale bis Sufis“, Frankfurt/Main 2. Auflage 2021.

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Buchkritik: „bis wir Wald werden“ von Birgit Mattausch

Der dieses Jahr erschienene Roman „Bis wir Wald werden“ von Birgit Mattausch ist ein Familien-Roman, der von einer Großfamilie aus Verwandten und Nicht-Verwandten erzählt, die alle im selben Hochhaus am Rande einer unbenannten Stadt in Deutschland wohnen. Das Hochhaus stammt aus den 1960er Jahren, hat 16 Stockwerke und wird vor allem von Spätaussiedler*innen bewohnt.
Erzählerin ist Nanusha, die an der Kasse bei Real sitzt, obwohl sie gute Noten hatte. Sie kam mit ihrer Urgroßmutter Babulya als Kind aus Sibirien hierher, während ihre Großmutter verschollen ist und ihre Mutter („Mome“) nicht mit gekommen ist.
Babulya spricht nur ein altertümliches Deutsch und trotzdem eben ein Deutsch. So verstand sie bei der Übersiedlung nach Deutschland nur die neuen Wörter nicht: „Na, die elektrisierten Wörter. Und die grauen Wörter. Die auf den Formularen. Ein-bürger-ungs-nach-weis. Familien-nach-zug.“
(Seite 22-23)
Elsa, die Oma von allen im Haus, hat sich sogar in Sibirien geweigert Russisch zu lernen. Das altertümliche Deutsch der Alten wird im Buch auch so wiedergegeben.
In Deutschland treffen sie auf eine Moderne und Überfülle. Hier muss niemand mehr persönlich schlachten: „Noch viele Hühner würde sie so schlachten, später auch Gänse und Hasen.
Am Tisch Tisch unter Kristallleuchter und Plastikstuck zeigt sie mir die Handbewegung. Sie kann es noch. Auch in dieser Welt, in der wir fertig abgepackte, eingeschweißte Hühnerbrüste bei Real kaufen oder gleich Chickennuggets bei McDonalds holen.“

(Seite 70)

Der Roman ist auch eine Geschichte dieser Bevölkerungs-Gruppe, die der Spielball der Mächtigen war: „Sie haben uns angesiedelt, umgesiedelt, ausgesiedelt, spätausgesiedelt. Nein, das Letztere haben wir selbst getan. Nachdem wir Anträge und Anträge zu Anträgen stellten. […] Spätausgesiedelt haben wir uns. Nachdem wir sehr leise waren. Immer leise. Nachdem wir uns nur auf uns verließen.“
(Seite 52)
Doch die Ankunft in Deutschland ist schwer. Es gibt viele Unterschiede zwischen den „Unseren“ und den „Hiesigen“. Manches sind kleine Dinge, wie die Begeisterung für die russlanddeutsche Sängerin Helene Fischer: „Ja, wir lieben Helene, und wir scheren uns nicht darum, dass die Hiesigen sie verachten. Dass sie ihnen zu glatt ist, zu glänzend, zu verschlossen. Unmerklich (aber ich merke es doch) pressen sie die Lippen zusammen und atmen durch die Nase aus, wenn vor ihnen jemand eine CD von ihr auf das Kassenband legt.“
(Seite 116)
In Deutschland gilt die Gruppe als ‚die Russen‘, während sie in der Sowjetunion als Deutsche diskriminiert wurden: „Die Hiesigen denken, wir seien nur hier, weil wir einen deutschen Schäferhund gehabt haben. Hahahahaha. Ich bin zu müde, ihnen zu erklären, dass wir hier sind, weil Deutschland an uns etwas gut zu machen hatte. Zu müde, vom fünften Punkt im sowjetischen Pass zu erzählen und davon, was es bedeutete, wenn dort deutsch stand.“
(Seite 79-80)
Immer wieder brechen die Narben im Familien- und Gruppen-Gedächtnis auf. Neben der Deportation und der kollektiven Anfeindung als „Fascisti“ war das die Zwangsarbeit in der so genannten „Trudarmee“. Das war eine Arbeitsarmee, in der Minderheiten, darunter sehr viele Russlanddeutsche, 1942 bis 1946 erzwungene Arbeit leisten mussten, darunter auch viele Frauen.

Doch die Gruppe besteht aus Individuen wie etwa Vitali, der auf die Ausgrenzung mit Muskeln-Aufbau und einem Kampfhund reagiert hat, vor dem sich Nanusha fürchtet.
Sie entdeckt auch Gemeinsamkeiten mit der Kurdin Felek, der in ihrer türkischen Heimat auch verboten wurde ihre Muttersprache zu sprechen, und die auch in dem Hochhaus lebt.
Viele Russlanddeutsche in dem Buch sind religiös. Manche sind glaubensstrenge Baptisten. Andere haben seltsame, vermutlich heidnische Rituale aus Sibirien mitgebracht. Denn ein Teil der Spätaussiedler*innen scheint in Sibirien zu einem Waldvolk geworden zu sein. Der nahe Wald beim Hochhaus scheint ihnen vertrauter als die nahe gelegene Stadt.

Das Buch ist eine zarte Annäherung an eine große Bevölkerungsgruppe in Deutschland, die mit ihrer Geschichte häufig unsichtbar bleibt. Immer wieder werden auch Gedichte eingeschoben. Es werden auch Probleme wie Suchtkrankheiten, AfD- und Putin-Nähe oder autoritäre Erziehungsstile erwähnt.
Das Buch mit seinen knapp 180 Seiten lohnt sich sehr, ist aber mit 20 Euro verhältnismäßig teuer.

Birgit Mattausch: Bis wir Wald werden, Stuttgart 2023.

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Buchkritik: „Gefangen & Wohnungslos“ von Klaus Jünschke

Der Interview-Band „Gefangen und wohnungslos. Gespräche mit Obdachlosen in Haft“ ist dieses Jahr erschienen. Herausgeber und Organisator des Interview-Sammelbands ist Klaus Jünschke, ein Ex-RAF-Mitglied, welches sich später von der RAF distanzierte, und Sachbuchautor wurde. Seit 1993 leitet er Gesprächsgruppen in der JVA in Köln.
Jünschkes analytisches Vorwort ist besonders lesenswert. Darin geht er auch auf die lange Tradition der Verfolgung und Kriminalisierung von Wohnungslosen ein und „obwohl diese Gesetze abgeschafft wurden, sind die Wohnungslosen die am meisten kriminalisierte soziale Gruppe in Deutschland.“
(Seite 33)
Er definiert noch einmal, was überhaupt Wohnungslosigkeit ist: „Als wohnungslos gilt, wer über keinen mietvertraglich abgesicherten oder eigenen Wohnraum verfügt und bei Verwandten oder Bekannten oder in Einrichtungen der Gemeinden oder Freier Wohlfahrtsverbände untergekommen ist.“
(Seite 7)
Obdachlose sind dagegen eine Teilgruppe von Wohnungslosen, nämlich die Menschen, die direkt auf der Straße leben und in öffentlichen Räumen übernachten.
Insgesamt gab es laut dem im Dezember 2022 vorgestellten Wohnungslosenbericht der Bundesregierung 262.000 Wohnungslose und darunter noch einmal 38.500 Obdachlose.
Obwohl Wohnungslose gesamtgesellschaftlich also eine verhältnismäßig kleine Gruppe darstellen (0,3%), sind sie unter Gefangenen stark überrepräsentiert. So waren 14% aller Strafgefangenen und Sicherheitsverwahrten in der Bundesrepublik bei Haftantritt wohnungslos. Die allermeisten davon waren Männer, die vor allem eine marginalisierte Männlichkeit vertreten. Unter den 5.296 wohnungslosen Gefangenen im März 2022, waren nur 234 Frauen, also 4%. Aber ein Buch zur Erfahrung obdachloser Frauen komme noch, verspricht Jünschke.
Die im Buch wiedergegebenen Interviews entstammen einer Erzählwerkstatt in der JVA Köln und in der JVA Siegen. Die Gespräche dabei wurden in Kleingruppen von vier Männern vom Oktober 2022 bis Ende März 2023 geführt.
Insgesamt waren es 20 wohnungslose Männer. Alle davon waren suchtkrank und 18 waren deutsche Staatsbürger, davon wiederum zwei mit Migrationshintergrund. Alle saßen wegen Kleinkriminalität ein. Von den 20 Männern verbüßten acht eine Ersatzfreiheitsstrafe, d.h. sie saßen nur deswegen im Gefängnis, weil sie eine Strafe nicht zahlen konnten. Einer der Strafgefangenen erzählt z.B. dass er wegen seiner Notübernachtung in einer Sparkasse, um sich vor dem Erfrierungs-Tod zu schützen, beim zweiten Antreffen zu einer Geldstrafe verurteilt wurde.
Der Autor lässt klar durchblicken dass er das Hilfssystem der „Sozialbürokraten“, wie er sie nennt, für unzureichend hält und dem ‚Housing First‘-Ansatz den Vorzug gibt.

Interviews mit wohnungslosen und obdachlosen Strafgefangenen
Jünschke weist in seinem Vorwort auch darauf hin dass Gefängnis-Erfahrungen der Mehrheit der Gesellschaft unbekannt sind: „In unserer Gesellschaft gibt es keinen Begriff vom Leben in einer normalen Gefängniszelle, von der Existenz auf acht Quadratmetern in einem Raum, der innen keine Klinke an der Tür hat und der folglich nur verlassen werden kann, wenn von außen aufgeschlossen wird. Die Debatte um die Käfighaltung von Hühnern in den Legebatterien ist größer und öffentlicher als die Tatsache, dass Menschen in Zellen festgehalten werden.“
(Seite 16)
Im Prinzip werden also zwei in der bürgerlichen Mitte unbekannte Welten im Buch wiedergegeben: Wohnungslosigkeit und Gefängnis.
Es sind krasse Erfahrungsberichte mit dabei. Etwa von einem ehemaligen Heim-Kind, welches erzählt dass es im Heim in Flaschen gepinkelt hätte, weil man nach 20 Uhr sein Zimmer nicht mehr verlassen durfte.
Mehrere Teilnehmer an den Gesprächen berichten von Misshandlungen als Kinder. Die Heim-Kindheit war eine der Ausgangspunkte von Obdach- und Wohnungslosigkeit, andere waren eine Suchtkrankung, der Verlust eines geliebten Menschen oder eine Depression. Diese einzelnen Schicksal werden im Sozialdarwinismus gegen Obdachlose nicht gesehen, der nur die angebliche Verweigerung wahr nimmt. So berichtet ein Gerhard: „Du hörst aber auch oft, „warum gehst Du nicht arbeiten oder bist Du krank?“ Die fragen nicht, warum ist der denn da, irgendwas ist doch passiert. Die denken alle, der ist freiwillig ein versoffenes Schwein. Und jeder Obdachlose hat sein Schicksal, ich hab mit so vielen gesprochen. Da ist immer was Gravierendes gewesen.
(Seite 206)
Im Gespräch verraten die ehemaligen Wohnungslosen ihre Überlebenstechniken, etwa durch Kleinkriminalität oder (angebliche) Leistungserschleichung. Dabei sind sie auch selber oft Opfer von Diebstählen.
Das schwierige Leben auf der Straße führt schnell zu Gefängnis-Verurteilungen. Der Wohnunglose Gerhard fasst es gut zusammen: „Man steht als Obdachloser mit einem Bein im Gefängnis. Allein schon durch die Obdachlosigkeit. Du bist eine Randgruppe. Du bist nicht gerne gesehen, Du wirst gemieden, Du wirst auch beschimpft und bespuckt, alles. Du gerätst schnell in Schlägereien.“
(Seite 257)
Wegen dieser Randgruppen-Kriminalität sitzen die meisten ein. Meist sind es Vergehen ohne Geschädigte bzw. Not-Diebstähle. Ihre Verurteilung ist das, was man klassischerweise als ‚Klassen-Justiz‘ bezeichnen würde. Alles wird ihnen zu ihren Ungunsten ausgelegt, weil sie nicht als normale Bürger angesehen werden. So wirkt ein Diebstahl mit Taschenmesser wegen der Auslegung als Waffe strafverschärfend. Dabei ist ein Messer ein notwendiges Arbeitsgerät und oft auch ein Verteidigungsmittel auf der Straße. So erzählt ein Mike: „Ich hab einen Bekannten, der hat mal einen Obdachlosen einfach so angezündet. Aus Spaß. Der bereut das auch zutiefst, dass er das gemacht hat, aber es ist doch klar, dass sich ein Obdachloser ein Messer in die Tasche steckt, wenn sowas passiert.“
(Seite 147)
Gewalt spielt beim (Über-)Leben auf der Straße eine große Rolle. Auch die Erfahrung von Übergriffen durch die Polizei wird geschildert: „Gerhard: Als ich das erste Mal im PG [Polizeigewahrsam] war, haben sie mich noch im PG zusammengeschlagen. Ein Telefonbuch auf die Brust gelegt und mit dem Schlagstock draufgehauen. Mit zwei Mann.
Klaus: Mit dem Telefonbuch?
Gerhard: Das haben sie mir auf die Brust gelegt und dann mit dem Schlagstock.
Jimmy: Damit keine blauen Flecken kommen.“

(Seite 294)

Weiter berichten die Ex-Wohnunglosen von negativen Erfahrungen mit Notübernachtungen. Etwa von einer Übernachtungsstätte mit ausgehängter Tür.
Auch durch die Berichte wird noch einmal klar, dass Gefängnisse nicht der Resozialisierung dienen. So werden die ehemaligen Wohnungslosen häufig in die Obdachlosigkeit entlassen und damit werden sie fast schon zwangsweise wieder kriminell, besonders wenn Drogenkranke und psychisch Kranke aus der U-Haft entlassen werden, denn in der U-Haft gibt es kaum eine soziale Betreuung und Vorsorge.
Nicht ohne Grund ist das Leben auf der Straße kurz. Gewalt, Krankheit und die allgemeinen Lebensbedingungen sorgen dafür dass die Lebenserwartung von Obdachlosen bei 49 Jahren und damit 20 Jahre unter dem Durchschnitt liegt.

Jünschke fragt klug nach und kitzelt mit seinen Fragen oft einiges heraus, er gibt gute Tipps, ist aber manchmal etwas arg pädagogisch, auch wenn es vielleicht viele so brauchen.
Das Buch hat manchmal seine Längen, ist aber absolut lesenswert. Besonders das Vorwort lohnt sich.

Klaus Jünschke: Gefangen und wohnungslos. Gespräche mit Obdachlosen in Haft, 2023.

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Buchkritik: „Dakhil – Inside Arabische Clans“ von Mohamed Ahmad Chahrour und Marcus Staiger

Es gibt Bücher, an denen einen vor allem das Wissen in ihrem Inneren interessiert. Das Buch „Inside Arabische Clans“ von Marcus Staiger und Mohamed Ahmad Chahrour gehört auf jeden Fall mit dazu. Die beiden Autoren melden mit ihrem Buch zu den als „Clan“ fremd definierten Großfamilien eine Korrektur des öffentlich erzeugten Bild an.

Im Jahr 2021 wurden 0,18% der Kriminalität dem Bereich „Clan-Kriminalität“ zugeordnet. Eigentlich handelt es sich also um ein Promille-Phänomen. Aber da im öffentlichen Diskurs viel über kriminelle Clan-Familien gesprochen wird, ist es ein politisches Thema. Während Rechte und auch große Teile der politischen Mitte das Thema rassistisch instrumentalisieren, kritisieren viele Linke diese rassistische Instrumentalisierung und erklären das Thema für quasi nicht existent. Ob es das Phänomen von kriminellen arabischen Familien nicht gibt, konnte der Rezensent vor der Lektüre nicht sagen. Grundsätzlich zeigt ja die Familien-Struktur einiger Mafia-Familien das so etwas durchaus existieren kann.

Ihr selbst gestelltes Ziel beschreibt das Autoren-Duo wie folgt: „Das Anliegen dieses Buches ist es, ein authentisches Porträt der in Deutschland lebenden Großfamilien zu liefern. Wir möchten mit unserer Arbeit die Persönlichkeiten hinter dem übertriebenen medialen Interesse zeigen. Ein Interesse, das zwischen Hype, Mythos und Hetze variiert.“ (Seite 19)

Zum Buch gibt es den Begleit-Podcast „Clanland“, der ziemlich populär war. Insgesamt hat das Duo 40 Interviews geführt. Etwas anstrengend bei der Lektüre ist dass sie den Clan-Begriff einerseits kritisieren, andererseits verwenden sie ihn stellenweise als normalen Begriff.

Geschichte der Mardallis im Libanon und ihrer Ausgrenzung in Deutschland
Im ersten Teil des Buches erzählen sie die Geschichte der Bevölkerungs- oder Volksgruppe der Mardalli nach. Die meisten verstehen sich als Kurd*innen, die aber aus dem Libanon stammen, arabischsprachig sind und meist der muslimischen Konfession der Schiit*innen angehören.
Diese Gruppe verfügt über eine zwei- und dreifache Vertreibungserfahrung, weil sie in den 1920ern und 1960ern aus der Türkei geflohen sind und innerhalb des Libanons. Ein Teil der Gruppe lebte zwischenzeitlich in den Elendsvierteln von Beirut. In den 1980er Jahren flohen sie vor dem Bürgerkrieg im Libanon nach Deutschland. Ihr Schicksal ist auch ein Ergebnis kolonialer Grenzziehungen.
Als die Gruppe in Deutschland ankam, rutschte sie kollektiv in die ungünstige juristische Situation nur Duldung bzw. Ketten-Duldung. In den 1980er Jahren wurden die Kinder der Familien in Flüchtlings-Klassen gesteckt, um sie von der einheimischen Bevölkerung zu separieren.
Ihre Kontakte mit einheimischen Deutschen beschränkten sich damals vor allem auf Behörden, was auch nicht gerade dafür sorgte, sich angekommen zu fühlen, und das war ja auch der Zweck. Es fand eine kollektive Ausgrenzung statt: „Die Leute waren als Flüchtlinge gebrandmarkt. Sie hatten die falschen Papiere, um an einem gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Sie hatten die falschen Adressen, die falschen Nachnamen, die falsche Sprache. Sie waren in einem Wartezimmer abgestellt, aus dem sie niemand mehr abholen wollte.“ (Seite 110)
Das Gefühl des ‚Gäste-Status‘ existiert bis heute: „Und irgendwann fingen wir an, uns an das Leben als Gast in Deutschland zu gewöhnen. Als Gast – denn wenn wir auf unsere Eltern hören, sind wir das bis heute. Das sagen sie uns immer wieder, und ich glaube, aus der Sicht vieler Deutscher sind wir das auch immer noch: Gäste.“ (Seite 70)
Dadurch entstand ein Widerspruch zwischen kapitalistischer Leistungsgesellschaft und Verbots-Bürokratie. Es kam zu Depressionen, vor allem bei den Männern, weil sie ihre traditionelle Ernährerrolle nicht erfüllen konnten.
Durch Arbeitsverbot und ungenügende Versorgung wird Kriminalität begünstigt. Es bildet sich Kriminalität bei manchen heraus, wofür von den Behörden und Medien aber alle in Sippenhaft genommen werden.
Von dem berühmten ‚Abrutschen auf die schiefe Bahn‘ sind vor allem Männer betroffen. Doch auch bei den kriminell gewordenen Männern verschwindet 80% der Kriminalität nach dem Jugendalter, scheint also stark von Adoleszenz beeinflusst zu sein.
In dem sehr interessanten Interview mit Helmuth Schweitzer benennt dieser die Frauen der Gemeinschaft auch deswegen als Hoffnungsträger.

Im Buch findet sich ein Interview-Zitat, was noch einmal den bundesdeutschen Integrations-Diskurs sehr treffend kritisiert: „Deutsch sein, wenn man nicht wirklich deutsch ist, kann ziemlich anstrengend sein. Eigentlich ist es fast unmöglich. Eigentlich gar nicht möglich. Die Frage, wo man denn „eigentlich“ herkommt, symbolisiert diese Unmöglichkeit. Wenn Deine Haare ein wenig zu schwarz sind, deine Augen ein wenig zu dunkel, dann kannst Du nicht wirklich deutsch sein. Das weiß man doch. Du bist halt Ausländerin, dann bleibst Du halt Ausländer. Doch auch hier gibt es noch einen Unterschied. Den Unterschied zwischen dem guten Ausländer und dem schlechten Ausländer, zwischen denjenigen, die sich integrieren wollen und nicht so sind wie die, und den anderen, die eben genauso sind. Das ist ziemlich vage formuliert und besagt überhaupt gar nichts, außer das Integration ein anderes Wort für „Ausländer raus“ ist – nämlich alles Ausländische raus aus den Ausländern. Der gute Ausländer hat das nämlich geschafft. Er hat den Ausländer in sich rausgeschmissen und sich vollkommen angepasst.“ (Seite 409)

Die angeblichen ‚Clans‘ und ihr Zerrspiegel
Auf einer Sach-Ebene arbeiten Chahrour und Staiger heraus, dass bundesweit keine verbindliche Definition von Clan-Kriminalität existiert. Juristisch ist es auch höchst fragwürdig, da Familien nicht als „kriminelle Vereinigung“ definiert werden können.
Der diffuse Clan-Begriff in Medien und bei Behörden, das zeigen Staiger und Chahrour, beruht auf Pauschalisierungen und Generalisierungen. Menschen mit demselben Familien-Namen werden Generalverdacht. Verwandtschaftsverhältnisse und scheinbare Verwandtschaftsverhältnisse werden mit Kriminalitäts-Verdächtigungen verknüpft. Eine Familie, also ein ‚Clan‘, wird mit einer Verbrecherbande gleich gesetzt.
In dem Buch wird aus einer Schulungs-Broschüre der Essener Polizei zitiert: „Auf eine stetige Abgrenzung zwischen Clan-Mitgliedern, die kriminell in Erscheinung getreten sind, und solchen, die es nicht sind, muss an dieser Stelle verzichtet werden. Zum einen, weil grundlegende Denkmuster häufig auch bei Familienmitgliedern verankert sind, die nicht kriminell auffällig sind, und zum anderen, weil auch bei Kenntnis über Kriminalität einzelner Familienmitglieder der Rest schweigt. “ (Seite 234)

Der Begriff ‚Clan‘ taugt nicht zur Analyse, da er konstruiert wurde. Arabische Großfamilien wurden so zu (‚kriminellen‘) Clans gemacht. Nichtsdestotrotz gibt es in der benannten Gemeinschaft auch Kriminalität.
Verbrechen wird von den beiden Autoren allgemein wie folgt erklärt: „Unserer Ansicht nach sind Verbrechen ein Ausdruck der kapitalistischen Zwangsverhältnisse in brutaler Offenheit. Unterdrückungsverhältnisse ohne den Deckmantel der bürgerlichen Gesetzgebung.“ (Seite 296)
Allerdings, darauf weisen die Autoren hin, werden im Diskurs organisierte und nicht-organisierte Kriminalität vermischt. Insgesamt wurden, laut Buch 8% der organisierten Kriminalität, einer „ethnisch abgeschotteten Subkultur“ zugerechnet. D.h. zum Beispiel Motorrad-Banden stellen eine weitaus wichtigere Gruppe im Bereich organisierte Kriminalität dar.

Im Buch wird auch die Verantwortung der Medien thematisiert, die den Clan-Begriff popularisiert haben. Das Framing bestimmter Großfamilien als „kriminelle Clans“ bringt Quote.
Die Bilder von den Clans sickern auch in die Popkultur (z.B. in die Serie „4 Blocks“) ein. Es kommt zu einer Dialektik von Fiktion und Realität. Die Fremdzuschreibung des dargestellten Kriminellen wird ein Rollen-Modell, was manche annehmen.
Tatsächlich kriminelle oder gewaltbereite Mitglieder mancher Familien wurden im Straßenrap wie Staiger aufzeigt für Streitereien und Street Credibility von Rappern quasi ‚angeworben‘.

Sehr schön zeigen die beiden auch den Charakter des Zerrbildes vor den Familien als Projektionsfläche für eigene (verbotene) Wünsche auf: „Insofern ist diese »archaische Familienstruktur«, als die sie oft bezeichnet wird, die ideale Projektionsfläche für eine scheinbar aufgeklärte Gesellschaft, die diese anachronistischen Verhältnisse zugleich verachtet und auf eine ganz verrückte Art in ihrer eigenen Lebenswelt vermisst.“ (Seite 302)

Die starke mediale Präsenz verursacht ein gestörtes Sicherheitsgefühl der deutschen Mehrheitsbevölkerung. Es kommt zu Reaktionen aus der Politik, die sich davon eine positive Resonanz bei Wahlen verspricht. Ergebnis sind z.B. häufige Razzien in Shisha-Bars, die damit als kriminelle Orte markiert werden. Wozu das im schlimmsten Fall führt, hat der Amokläufer von Hanau am 19. Februar 2020 gezeigt.

Fazit: verzerrte Perspektive erzeugt falsche Bilder
Die als „Clans“ fremd definierten deutsch-libanesischen Groß-Familien sind keine kriminellen Netzwerke mit tausenden Angehörigen wie italienische Mafia-Familien, die weitaus kleiner sind. Die Zuordnung geschieht über Herkunft und Nachnamen von außen und ist konstruiert.
Es gibt auch Großfamilien mit kriminellen Mitgliedern, aber diese Gruppen sind weitaus kleiner. Die Zuordnung per Herkunft oder Nachname entspringt einer rassistischen Fehleinschätzung und hat Diskriminierung zur Folge.

Der Autor Markus Staiger geht einem manchmal mit seiner cooler-Mann-Masche auf die Nerven. Zur Selbstkritik scheint er auch nicht fähig zu sein. Denn Staiger erwähnt nirgendwo dass er 2014 in seinem Roman „Die Hoffnung ist ein Hundesohn“ das von ihm bei anderen kritisierte Klischee-Bild der kriminellen Araber undifferenziert selber verwendet.

Etwas anstrengend ist auch das Chahrour den Traditionalismus, z.B. religiöse arrangierte Ehen, seiner Gruppe stark verteidigt bzw. entschuldigt.

Leider enthält das Buch auch deutlich israelfeindliche Tendenzen. So wird etwa behauptet Israel praktiziere eine Apartheid System gegenüber den Araber*innen. Zur Vertreibung fast aller arabischen Juden und Jüdinnen aus den mehrheitlich muslimischen und arabischen Ländern findet sich dagegen kein Wort.

Wer über so etwas hinweg sehen kann, wird auch noch mit einem sehr anstrengenden Schreib-Stil und schreckliche Textsetzung (z.B. bei den Zeilenumbrüchen) konfrontiert. Im Kern enthält das Buch eigentlich eine spannende Gegendarstellung zu den verzerrten medialen Diskursen und dem Rassismus der Behörden.
Dabei bieten die beiden Autoren keine einfache Antworten an. Rassismus und Ausgrenzung werden als wichtige Faktoren benannt, aber sie werden nicht monokausal für die Kriminalität einer Minderheit der Minderheit gesetzt.
Gerne hätte man sich noch mehr zu den Männlichkeits-Rollenbildern gewünscht, da sie vermutlich ein weiterer wichtiger Faktor bei den Gesetzes-Verstößen mancher Familien-Mitglieder sind.

Exkurs des Rezensenten
Interessant wäre mal zu schauen ob mit dem Begriff der Clan-Kriminalität nicht eine modernisierte Variante des Rassismus gegen die Roma-Minderheiten (Antiziganismus) durch die Behörden darstellt. Die Minderheit wurde ja auch jahrzehntelang gesondert polizeilich beobachtet und erfasst („Zigeuner-Akten“), nur auf Grund eines Kriminalitäts-Vorwurf gegen ganze Familien oder die gesamte Ethnie.

Marcus Staiger, Mohamed Ahmad Chahrour: Dakhil – Inside Arabische Clans, Wien 2022

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