Buchkritik „Gelebtes leben“ von Emma Goldman

Die 1931 im englischen Original erschienene Autobiografie mit dem Titel „Gelebtes Leben“ (Originaltitel „Living My Life“) der Anarchistin Emma Goldman (1869-1940) ist über 900 Seiten dick, aber jede Seite lohnt sich.

Erwachen und Lehrjahre einer Anarchistin
Goldman wuchs in Kaunas (heute Litauen, damals Russland) und in Königsberg (damals Deutschland) auf. Ab dem 13. Lebensjahr lebte sie in St. Petersburg. Im Buch berichtet offen über die schwierige Kindheit, u.a. durch die Schläge von ihrem Vater.
Im Alter von 17 Jahren übersiedelte sie 1885 in die USA zu ihrer Schwester nach Rochester (New York). Hier heiratete sie, aber die Ehe scheiterte schnell.
Goldmans politisches Erweckungserlebnis ist die Hinrichtung von vier Anarchisten im Dezember 1887, denen die Behörden ohne Beweise einen Bombenanschlag am 4. Mai 1886 auf dem Haymarket in Chicago in die Schuhe geschoben hatten.
Die 17-jährige Goldman ist wie viele andere empört über den „Justizmord an Anarchisten“ und wird selber zur Anarchistin. Allerdings geht es ihr nicht nur um graue Theorie sondern auch um Praxis und Reflexion verinnerlichter Normen und Zwänge: „Für mich war der Anarchismus nicht bloß eine Theorie für eine ferne Zukunft, er war ein lebendiger Versuch, uns von inneren wie äußeren Verboten und den zerstörerischen Schranken zu befreien, die die Menschen voneinander zu trennen.“ (Seite 510-11)

Goldman ist jung und will das Leben genießen. Der berühmte Spruch „Wenn ich nicht tanzen kann, ist es nicht meine Revolution!“ taucht in dem Buch zwar nirgendwo wortwörtlich auf, aber an einer Stelle im Buch schildert sie eine dazu passende Szene: „Eines Abends nahm mich ein junger Vetter von Sascha beiseite. Mit ernster Miene, so als wollte er den Tod eines teuren Genossen bekannt geben, flüsterte er mir zu, dass es sich für einen Agitator nicht gehörte zu tanzen. Jedenfalls nicht so unbekümmert und überschwänglich. Es wäre unwürdig für jemanden, der eine treibende Kraft in der anarchistischen Bewegung werden wollte. Meine Leichtigkeit schadete der Bewegung.
Die schamlose Einmischung des Jungen machte mich wütend. Ich sagte, er sollte sich um seine eigene Angelegenheiten kümmern, ich wäre es leid, ständig die Sache vorgehalten zu bekommen. Ich konnte nicht glauben, dass eine Sache, die für ein Ideal stand, für Anarchie, für Zufriedenheit und Freiheit von Konventionen und Vorurteilen, die Verleugnung des Lebens und der Freude fordern könnte.“
(Seite 63)

Im Jahr 1889 geht sie nach New York. Die anarchistische Szene in New York sammelte sich damals um die Blätter „Freiheit“ und „Autonomie“ herum, in Stamm-Kneipen und in kleinen Gruppen. Die Szene ist vor allem in den deutschen, russischen und jüdisch-jiddischsprachigen Einwanderer-Milieus verwurzelt. Das Blatt „Freiheit“ wurde von dem, aus Deutschland stammenden, Anarchisten Johann Most (1846-1906) herausgegeben. Most wird zu Goldmans Förderer und Lehrmeister. Doch Most will Goldman besitzen und ein Kind von ihr. Aber Goldman war eine selbstbewusste und selbstständige Frau, die sich gegen eine Mutter-Rolle entschied, obwohl sie Kinder mochte: „Immer mehr war ich zu der Überzeugung gekommen, dass es in meinem Leben keine lange harmonische Liebe geben würde, nicht Frieden, sondern Kampf würde mein Schicksal sein. In einem solchen Leben war kein Platz für ein Kind.“ (Seite 180)
Sie weist Most also ab und dieser reagiert mit Eifersucht und Hass. Er äußert sich sogar immer wieder antisemitisch, wie Goldman entsetzt fest stellen muss.
Emma reagiert resolut auf ihre Weise auf den Hass von Most: Sie peitscht ihn in der Öffentlichkeit aus.

Anfangs beschreibt Goldman noch einen naiven Glauben an die Propaganda der Tat, auch durch Attentate. Offen und ehrlich beschreibt sie wie sie mit ihrem Mitstreiter Alexander „Sascha“ Berkman (1870-1936), den sie 1889 kennen lernte, im Jahr 1892 einen Bombenanschlag auf einen Fabrik-Besitzer plante, der bei Arbeitskämpfen zehn Tote und 60 Verletzte zu verantworten hatte. Als es mit der Bombe nicht klappt, versucht Berkman als Einzelner den Industriellen zu erschießen, verletzt ihn aber nur. Dafür wird er zu 22 Jahren Gefängnis verurteilt, kommt aber 1906 nach 14 Jahren frei. Goldman hält ihm über die Gefängnismauern die Treue. Trotz gewisser Konflikte bleiben sie politische Verbündete.

Im Jahr 1895 geht sie für eine Ausbildung nach Europa (London, Wien). In England trifft sie erstmals Kropotkin und in Wien besucht sie die Vorlesungen von Sigmund Freud.
In Wien macht sie eine Ausbildung zur Geburtshelferin und als solche arbeitet sie nach ihrer Rückkehr, vor allem für arme Familien. Zwischendurch verdient sie ihren Lebensunterhalt auch als Masseurin oder Managerin einer russischen Theatertruppe
Schlussendlich verdient sie aber ihr Geld vor allem durch ihre Tätigkeit als Rednerin und Publizistin. Dabei ist sie in Bezug auf ihre Themen variantenreich. In ihren Reden behandelt sie neben Anarchismus Themen wie Gefängnisse, Atheismus, Redefreiheit, Erziehung, Ehe und freie Liebe, Militarismus und Wehrpflicht, Sexualaufklärung und Geburtenkontrolle und Homosexualität, aber auch mit Dramen wie „Ein Volksfeind“ von Schriftstellers Henrik Ibsen beschäftigt sie sich.
Ab 1906 gab sie mit Anderen die Zeitschrift „Mother Earth“ heraus, die 1917 verboten wurde.
Goldmann tritt zunehmend als Agitatorin auf. Damit gerät sie in den Fokus der bürgerlichen Presse, die oft Hass-Kampagnen gegen die „rote Emma“ führen. Erst das persönliche Zusammentreffen belehrt manche eines besseren: „Dank des Polizeiknüppels hatten sie gemerkt, dass Emma Goldman weder eine Attentäterin noch eine Hexe noch ein Sonderling war, sondern eine Frau, die wegen ihres sozialen Ideals von den Behörden unterdrückt wurde.“ (Seite 419)
Ständig wird sie mit Attentaten in Verbindung gebracht, mit denen sie nichts zu tun hat. Ein „Criminal Anarchy Law“ versucht die gesamte anarchistische Bewegung zu kriminalisieren. Sie wird unzählige Male verhaftet und einmal von einer Bürgerwehr in San Diego fast gelyncht.
Zwar wird Emma Goldman immer wieder das Opfer von Repression und Volksmob, aber das in den USA verbreitete Ideal der freien Rede führt dazu, dass sie auch von Pfarrern oder Professoren eingeladen wird, die keine Anarchisten sind sich aber ihre Reden anhören möchten.

Privat versucht sie das Ideal der freien Liebe zu leben, beschreibt aber immer wieder ehrlich wie sie an diesem Ideal scheitert. Offen schreibt sie über ihre Gefühle gegenüber verschiedenen Männer und ehrlich schildert sie verschiedene Liebschaften. Einen Teil ihrer Beziehungen zu Männern würde man heute wohl als ‚toxisch‘ beschreiben.

Goldsteins Autobiografie erzählt von vielen, inzwischen vergessenen, Kämpfen der Arbeiter*innen-Bewegung in den Vereinigten Staaten. Ihre Erzählungen erinnern auch daran wie korrupt und brutal die US-Demokratie damals war, in der fortwährend Arbeiter*innen ermordet wurden – nicht zu vergessen die Morde an Schwarzen, auch wenn Goldstein diese nur am Rande erwähnt. Hinzu kommen mehrere Justizmorde.

Im Gegensatz zu anderen jüdischen Linken verleugnet Goldman ihre jüdische Herkunft nicht, sondern bekennt sich offen zu ihr: „Mein Leben war mit dem der Juden verknüpft. Ihr geistiges Erbe war das meine, und ihre Werte war in meine Existenz eingegangen. Der ewige Kampf der Menschheit war tief in mir verwurzelt.“ (Seite 634)
Das Buch erzählt deswegen auch die Geschichte der jüdischen Arbeiter*innen-Bewegung in den Vereinigten Staaten. Sie schreibt etwa über jüdisch-proletarische Organisationen wie die Gewerkschaft „United Hebrew Trades“ (Jiddisch: „Fareynikte Yidishe Geverkshaftn“) oder die „Jewish Socialist Party“ in den USA. Ebenso schreibt sie aber auch über die jüdische Arbeiter*innen-Bewegung im Londoner Eastend, wo ein nichtjüdischer deutscher Anarchist diese Bewegung zu organisieren versuchte: „Der führende Kopf der Arbeit im East End war Rudolf Rocker, ein junger Deutscher, der das besondere Phänomen eines nichtjüdischen Herausgebers einer jiddischen Zeitung darstellte.“ (Seite 238)

Zerstörte Hoffnungen: Emma Goldman in der jungen Sowjetunion
Mit der Februar-Revolution 1917 blicken alle revolutionären Linken nach Russland, so auch Emma Goldman, die noch dazu aus Russland kommt: „Unerwartet brach ein Hoffnungsschimmer aus dem Osten hervor. Er kam aus Russland, dem Land der jahrhundertealten Zarenherrschaft. Der lang ersehnte Augenblick war gekommen – die Revolution!“ (Seite 542)
Ein paar Monate später folgt der als ‚Oktoberrevolution‘ verklärte Putsch der Bolschewisten unter Lenin gegen die sozialistisch-liberale Provisorische Regierung.
Goldman wird aus der Ferne eine Anhängerin der Bolschewiki und verteidigt deren Machtübernahme gegen die Anwürfe und Kritik.
Gleichzeitig traten die USA Anfang April 1917 auf Seiten der Entente in den Ersten Weltkrieg ein. Hurra-Patriotimus und militärische Mobilisierung grassieren im Land:
„Über das ganze Land verbreitete sich der Wahnsinn des Patriotismus.“ (Seite 585)
Ihr Radikal-Pazifismus immunisiert Goldman gegen diesen Sirenen-Gesang. Die Anarchist*innen wenden sich gegen die Kriegsbeteiligung, allerdings nicht alle. Goldman berichtet enttäuscht; dass ihr Vorbild Peter Kropotkin sich auf die Seite der Entente und gegen den preußisch-deutschen Militarismus stellte. Trotz dieser Kontroverse bricht sie aber nicht mit Kropotkin. Schon länger hatten Goldman und Berkman über eine Rückkehr nach Russland nachgedacht, um sich hier der Revolution anzuschließen. Die US-Behörden kommen ihrer Entscheidung zuvor, indem sie die beiden aus Russland stammenden Ausländer einfach nach Russland deportieren lassen. Die beiden werden am 21. Dezember 1919 auf Basis des „Anarchist Exclusion Act“ ausgewiesen und leben von Januar 1920 bis Dezember 1921 in der „Diktatur des Proletariats“. In der Abschiebe-Haft schreiben die beiden einen Abschiedsbrief an ihre Freund*innen: „Seid guten Mutes, Freunde und Genossen. Wir gehen leichten Herzens ins Gefängnis. Für uns ist es befriedigender, hinter Gittern zu sein, als frei mit einem Maulkorb zu leben. Unser Geist wird wird nicht entmutigt, unser Wille nicht gebrochen werden. Wir kehren zur rechten Zeit an unsere Arbeit zurück.
Dies ist unser Abschied von euch. Das Licht der Freiheit brennt heutzutage schwach. Aber verzweifelt nicht, Freunde. Haltet den Funken am Leben. Die Nacht kann nicht ewig dauern. Bald gibt es Risse in der Dunkelheit, und der Neue Tag wird auch in diesem Land anbrechen.
Möge jeder von uns fühlen, dass wir unser Scherflein zum großen Erwachen beitragen.
Emma Goldman, Alexander Berkman“
(Seite 594)

In Russland angekommen folgt schnell eine erste Ernüchterung. Doch lange versuchen Berkman und Goldman Ausreden und Erklärungen für die „Schandflecken, die so geschickt unter kommunistischer Schminke versteckt werden“ (Seite 673), zu finden. Am Anfang ist es die Blockade Sowjetrusslands und die Angriffe der Konterrevolution, die sie als Erklärung für staats-kommunistische Autokratie, Repression und Bürokratie bemühen.
Ihre Prominenz im Ausland sichert den beiden eine gewisse Sicherheit während einheimische Anarchist*innen bereits verfolgt, inhaftiert und erschossen werden. Aus heutiger Perspektive mutet es etwas seltsam an, dass die beiden trotz ihres Wissens über Massenhinrichtungen und Verfolgungen durch die „Tscheka“ (Geheimpolizei) so lange in ihren Zweifeln verharren und nicht früher endgültig mit dem autoritären Regime Lenins brechen. Dabei wird ihnen in Gesprächen mit Vertreter*innen des Sowjet-Regimes recht schnell deutlich deren menschenverachtende Perspektive klar.
Erschreckt stellt Goldman fest dass der berühmte Schriftsteller Maxim Gorki auf die russische Bevölkerung von oben herab schaut und über die einfache Bevölkerung als kulturlos, primitiv und barbarisch beschimpft. Sie zitiert Gorki mit folgenden Worten: „Ein Hundertmillionenvolk von grausamen Wilden, die mit barbarischen Methoden an der Leine gehalten werden müssen.“ (Seite 679)
Auch Lenin plädiert nach Goldmans Schilderung deutlich für ein autoritäres Handeln: „Im gegenwärtige Stadium sei alles Geschwätz über Freiheit in Russland nur ein Fressen für die Reaktion, die Russland in die Knie zu zwingen sucht. Nur Banditen würden sich dessen schuldig machen, und sie müssten hinter Schloss und Riegel gehalten werden.“ (Seite 699)
Mit diesen „Banditen“ meinte Lenin die Anarchist*innen, die sich nicht dem Allmachtanspruch der Bolschewiki unterworfen hatten. Kritik diffamiert Lenin als „bourgeoise Sentimentalität“, von der man sich frei zu machen habe. Dabei waren die Anarchist*innen in einem grundsätzlichen Dilemma gefangen: „Vor allem die Anarchisten säßen säßen zwischen den Stühlen. Weder konnten sie mit der furchtbaren Macht im Kreml Frieden schließen, noch konnten sie den Feinden Russlands die Hand reichen.“ (Seite 703-704)
Die Sowjet-Macht verfolgte Anarchist*innen, unterdrückte die Landbevölkerung, etablierte eine Günstlingswirtschaft für Partei-Genoss*innen und unterdrückte überhaupt alle Arten von Abweichungen. Goldman beschreibt zum Beispiel Razzien gegen Schwarzmärkte, die die Ärmsten in den Städten treffen. Selbst der berühmte Peter Kropotkin muss isoliert unter Hunger leiden.
Die Militarisierung der Arbeit, die Bürokratie und der Zentralismus erstickten jede Eigeninitiative und Kreativität.
Berkman und Goldman suchen sich eine Nische, in der sie relativ unabhängig sein können. Sie werden Teil eines Teams des Revolutionsmuseums in Petrovgrad, welches für das Museum wichtige Zeitdokumente im europäischen Teil Russlands zusammen trägt. Auf diesen Expeditionen stoßen die beiden in der Ukraine auch auf die Überlebenden eines antisemitischen Pogroms. Goldman erkennt: Viele Mitglieder der jüdischen Gemeinden Anhänger sind Anhänger der Sowjet-Regierung, weil diese tatsächlich anti-antisemitisch eingestellt ist und die mörderischen Pogrome verhindert.
Doch nach ihrer Rückkehr nach Petrovgrad (St. Petersburg / ab 1924: Leningrad) werden ihre letzten Hoffnungen auf die Oktoberrevolution in Blut ertränkt. Gemeint ist ein Streik in Petrovgrad, dem sich die Matrosen in Kronstadt im März 1921 anschließen. Dieser ‚Aufstand‘ wird von Lenin und Trotzki blutig niedergeschlagen.
Später stellen die beiden zudem entsetzt fest wie der antisemitische weiße General Slatschow-Krimski 1921 die Seiten wechselt, zu den Bolschewiki überläuft und von diesen zur Aufstandsbekämpfung eingesetzt wird.
Obwohl Berkman und Goldman selber lange Lenins Lug und Trug erlagen, beobachten sie wie internationale Delegationen von Arbeiter*innen-Bewegungen rund um den Globus nach Moskau kommen und dort getäuscht werden oder sich bewusst täuschen lassen: „Sowjetrussland war zum modernen sozialistischen Lourdes geworden. Blinde und Lahme, Taube und Stumme strömten dorthin, um die Wunderheilungen zu erleben.“ (Seite 835)
Ende 1921 verlassen Goldman und Berkman Russland und warnen Linke vor der bolschewistischen Diktatur. Viele staatsgläubigen Linken feinden sie für ihre libertäre Kritik am Bolschewismus an.

Wahrlich ein gelebtes Leben
Gerade am Anfang ihrer anarchistischen Laufbahn ist Goldman in ihrem Buch noch sehr pathetisch, im Laufe ihres Lebens kommt mehr Realismus dazu. Doch in vielem bleibt sie kompromisslos und konsequent, eine Idealistin bis zum Schluss.
Goldman beendet ihre Autobiografie mit den folgenden zwei Sätzen: „Mein Leben – ich hatte es gelebt mit seinen Höhen und Tiefen, in bitterer Trübsal und jauchzender Freude, in schwarzer Verzweiflung und fiebernder Hoffnung. Ich hatte den Kelch bis zum letzten Tropfen geleert. Ich hatte mein Leben gelebt.“ (Seite 905)
Sie ist auch nach dem Buch weiter konsequent geblieben. Sie blieb politisch aktiv und engagierte sich für das revolutionäre Spanien gegen den Franco-Faschismus.
Emma Goldman starb am 14. Mai 1940 in Toronto, Kanada. Das heißt der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und die Vernichtung des größten Teil des europäischen Judentums, aus dem sie kam und zu dem sie sich bekannte, blieben ihr glücklicherweise erspart.
Ihre Autobiografie verdient die Lektüre aller, die sich für Zeit-, linke Bewegungs-, Frauen-, jüdische und anarchistische Geschichte interessieren.

Emma Goldman: Gelebtes Leben, Hamburg, 3. Auflage 2018 (Original: 1931)

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Redebeitrag auf der Anti-AfD-Kundgebung in Tübingen am 19. Juli 2025

Folgende Rede habe ich am 19. Juli 2025 im Rahmen einer Kundgebung gegen die AfD in Tübingen vorgetragen. Allerdings machte die AfD selber einen Rückzieher, tauchte also gar nicht auf.

Liebe Freund*innen der pluralen Gesellschaft, Liebe Antifaschist*innen,

[…]

Die AfD ist eine extrem rechte Partei, die 2013 gegründet wurde und sich seitdem sukzessive nach rechts radikalisiert hat. Spätestens 2015 hat sich mit der Strömung um Björn Höcke herum ein offen faschistischer Flügel herausgebildet.
Nun hatte die AfD geplant eine Kundgebung in Tübingen abzuhalten. Das hat sie sich in Tübingen seit den Bundestagswahlen 2017 nicht mehr getraut. Auch zu den Europa- und Kommunalwahlen 2024 oder den Bundestagswahlen 2025 hat die AfD sich nicht in die Stadt Tübingen gewagt. Stattdessen hat sie nur Infostände in Mössingen oder Rottenburg veranstaltet. Sie weiß dass sie in Tübingen auf viel Widerstand treffen wird. Anhänger*innen hat sie hier vergleichsweise wenige, wie auch die Wahlergebnisse in der Stadt zeigen. Deswegen ist davon auszugehen, dass die AfD mit ihrer Kundgebung gar nicht direkt potenzielle Wähler*innen erreichen wollte. Sie wollte eher provozieren und Aufmerksamkeit erzeugen.
Vermutlich sollten Bilder erzeugt werden, die sie medial in den sozialen Netzwerken für ihre Narrative verwenden kann. Wahrscheinlich sollte es eine Mischung aus Opfer-Narrativ und Pathos werden. Die sharepics und Kurzfilme dazu hätten eine viel stärkere Breitenwirkung entfaltet als die Kundgebung an sich. Diese hätte aller Voraussicht nach durch den Gegenprotest ziemlich isoliert da gestanden.

Bundesweit wächst die Zustimmung zur AfD, auch wenn eine Regierungsbeteiligung auf Bundes- oder Landesebene derzeit eher unwahrscheinlich zu sein scheint. Doch täuschen wir uns nicht. Eine Regierungsbeteiligung der AfD wäre sicher der worst case, aber der Schaden ist nicht erst angerichtet, wenn die AfD in eine Regierung kommt. Ihren Einfluss entfaltet sie auch dann, wenn sie in der Opposition sitzt. Immer wieder jubelt die AfD: „AfD wirkt!“ Etwa wenn die Merz-CDU Grenzkontrollen wieder einführt.
Die AfD hat auch ohne Regierungsbeteiligung Diskursmacht.
Die AfD bestimmt immer öfter die Agenda. Statt über Renten, Klimawandel, Artensterben wird über Grenzkontrollen, Sicherheit und Windräder diskutiert. Sie schafft es leider erfolgreich soziale Themen zu ethnisieren oder für sich zu vereinnahmen.
Weitgehend unsichtbar bleibt ein indirekter Einfluss durch die AfD. Gemeint ist die vorauseilende Selbstzensur oder Selbsteinschränkung. Wenn die Angst vor der AfD und ihrer Diskursmacht dafür sorgen dass Veranstaltungen schon in der Planung gestrichen werden. Wenn Positionierungen ausbleiben oder so weich gekocht werden dass niemand mehr weiß, wer oder was gemeint ist.

Aber hier doch nicht!
Die AfD hat sich nicht getraut eine Kundgebung in Tübingen zu veranstalten. Große Teile der Stadtgesellschaft haben sich gegen die AfD positioniert. Also ist alles gut, oder? Ist in Tübingen die Welt also noch in Ordnung? Leider Nein! Immerhin haben wir einen Oberbürgermeister, der nach der Thüringen-Wahl im September 2024 ernsthaft der CDU empfahl mit der faschistischen Höcke-AfD zu koalieren.
Auch auf Kreis-Ebene ist die Welt alles andere als in Ordnung. In Rottenburg am Neckar befindet sich mit dem Kopp-Verlag ein Unternehmen, was beständig geistige Umweltverschmutzung verursacht.
Wer den Kopp-Verlag ’nur‘ für irgendwie seltsam oder verrückt hält unterschätzt das Problem.
Es handelt sich um ein gut gehendes Unternehmen mit 200 Mitarbeiter*innen. Einzelne Bücher schaffen es auf die Spiegel-Bestseller-Liste. Das Misch-Programm des Verlags macht eine differenzierte Kritik nötig. Bücher über Gartenbau oder das Kochen mischen sich mit Hetze gegen Muslime, Migrantinnen oder die Klimagerechtigkeitsbewegung. Hinzu kommen Bücher mit geschichtsrevisionistischen und verschwörungsideologischen Inhalt.
Durch Übersetzungen von verschwörungsideologischen oder extrem rechten Autoren findet durch den Verlag sogar ein Ideologie-Transfer statt. Etwa wenn die deutsche Übersetzung eines Buch des rechtspopulistischen argentinischen Präsidenten Javier Millei im Kopp-Verlag erscheint.
Der Kopp-Verlag hat durchaus auch Berührungspunkte zur AfD. Viele AfD-Mitglieder beziehen sich positiv auf Bücher des Verlags und mindestens sechs Buch-Autor*innen haben direkte Bezüge zum Kopp-Verlag. Mit Peter Böhringer sitzt sogar ein Kopp-Buchautor für die AfD im Bundestag.
Die Lektüre vieler Bücher aus diesem Verlag kann aber nicht nur der geistigen Gesundheit, sondern auch die körperliche Gesundheit nachhaltig schaden. Denn die Alternativmedizin-Konzepte in Buchform sind alles andere als harmlos. Es ist potenziell gesundheitsgefährdend wenn man glaubt Krebs „natürlich“ heilen zu können.
Kurzum: Der Kopp-Verlag aus dem Kreis Tübingen sorgt im gesamten deutschsprachigen Raum für eine Verbreitung extrem rechter Ideologeme und gefährlicher pseudo-medizinischer Behauptungen ohne wissenschaftliche Evidenz.
Der Kreis Tübingen ist also keine heile Welt, auch wenn die AfD-Wahlergebnisse hier vergleichsweise niedrig sind und die Gefährdungssituation durch rechte Übergriffe sicherlich geringer ist als in Bautzen oder Burladingen.
Doch irgendwann werden die Auswirkungen des Rechtsrucks auch hier ankommen. Deswegen müssen wir jetzt etwas tun!

Mehr und das richtige tun!
Wenn wir die AfD gesamtgesellschaftlich zurückdrängen wollen, genügt es nicht nur zu reagieren, wenn sie vor der Haustüre steht. Wir müssen mehr tun. Wir brauchen mittel- und langfristige Konzepte, denn wir haben es mit gesellschaftlichen Verschiebungen zu tun, der sich bei weitem nicht nur in Kundgebungen und Demonstrationen äußert. Alte Konzepte gehören auf den Prüfstand und überarbeitet.
Der Erfolg der AfD ist auch eine Niederlage ihrer Gegner*innen. Protest-Rituale müssen auf ihre Wirksamkeit geprüft werden, genauso wie wir die Versuche Menschen mit kritischen Informationen versuchen zu erreichen.
Wer nur mit Aufklärungs-Flyern gegen die AfD kämpft, die als Social-Media-Partei millionenfach Erfolge feiert, ist mit einem Messer zu einer Schießerei erschienen.
Gerne kurzfristige Interventionen, wo es nötig ist, aber wir brauchen langfristige Strategien und einen langen Atem um die AfD wieder zurückzudrängen.
Nicht nur reden bzw. Reden in Tübingen halten sondern auch was tun! Und wenn die AfD nicht zu uns kommt, müssen wir zur AfD kommen. Ganz konkret sollten wir in die Wahl-Hochburgen der AfD gehen oder dort die Menschen und Vereine unterstützen, die sich klar gegen die AfD positionieren.

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Buchkritik „Antisemitismus und die AfD“ von Stefan Dietl

Das Buch „Antisemitismus und die AfD“ von Stefan Dietl ist erst im April 2025 im Verbrecher-Verlag erschienen.
Der Autor schreibt am Anfang: „Das vorliegende Buch versteht sich als antifaschistisches Plädoyer dafür, endlich auch den beschriebenen blinden Fleck in der Auseinandersetzung mit der AfD ins Visier zu nehmen: den Antisemitismus.“ (Seite 10)
Tatsächlich blieb der Antisemitismus in der AfD bisher eher unbeleuchtet. Das wundert, da die extreme Rechte in Deutschland ja in der Tradition eines eliminatorischen Antisemitismus steht.

Dietl identifiziert verschiedene Varianten von Antisemitismus in der AfD. Einige davon sind in der Grund-Ideologie der AfD geradezu angelegt, etwa in ihrer Kritik an ‚globalistischen‘ und geheimen Eliten: „Letztlich enthalte die Konstruktion einer volksfeindlichen, globalistischen Elite »ein massives antisemitisches Potential, das sich leicht aktualisieren lässt und damit eine fundamentale Bedrohung für Jüdinnen und Juden darstellt«.“ (Seite 34-35)
Hier ist besonders der Anti-Soros-Antisemitismus zu nennen. Die Vorstellung von George Soros als allmächtigen, jüdischen Strippenzieher im Hintergrund hat die alten antismitischen Narrative um die Rothschilds ersetzt.
Auch das Verhältnis zu Israel sei, so Dietl, nicht so eindeutig wie der erste Blick vermuten lässt: „Trotz der plakativen pro-israelischen Inszenierungen der AfD auf Bundesebene finden sich zahlreiche Beispiele des israelbezogenenen Antisemitismus in der Partei.“ (Seite 39)
Auch in der neoliberalen Partei-Strömung entdeckt Dietl antisemitisches Potenzial. Besonders wenn die Vorstellungen vom ungehemmten Kapitalismus nicht ohne Krisen ablaufen werden schnell geheime Eliten verantwortlich gemacht.
Generell wird Antisemitismus von der AfD nur dann kritisch thematisiert wenn er ‚rassifiziert‘ also outgesourct werden kann: „Dabei zeichnet die AfD ein Bild, in dem Antisemitismus in erster Linie als Gefahr von außen präsentiert wird.“ (Seite 79)
Vor allem Muslimen wird von der AfD gerne Antisemitismus zugeschrieben. Dabei geht es aber nicht um die Kritik eines islamisierten Antisemitismus, sondern um eine Instrumentalisierung zugunsten des eigenen rassistischen Programms: „Bestimmende programmatische Leitidee der AfD ist weder Religionskritik im Allgemeinen noch Kritik am Islam im Besonderen, sondern schlichter Rassismus.“ (Seite 80)
Dass die Regime-verharmlosende „Deutsch-Iranische Parlamentarier-Gruppe“ mehrheitlich von AfD-Bundestagsabgeordneten unter Roger Beckamp gestellt wird, zeigt auch noch einmal dass es der AfD nicht um eine grundsätzliche Islamismus-Kritik geht.
Auch die christliche Rechte in der AfD, die sich sehr philosemitisch gibt, ist nur bedingt ein Freund des Judentums. Wie Dietl ausführt folgen die pro-jüdischen und pro-israelischen Evangelikalen einem antijüdischen Messianismus.
Ein weiteres Einfallstor ist der Anti-Modernismus in der AfD: „Die heterogene Wähler*innenschaft der AfD verbindet der Gedanke, sich in einem gemeinsamen Abwehrkampf gegen die fortschreitende Moderne zu befinden.“ (Seite 91)

Dietl resümiert: „Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Antisemitismus integraler Bestandteil des politischen Denkens der AfD ist. Entgegen der öffentliche Wahrnehmung sind die antisemitischen Ausfälle von AfD-Politiker*innen keineswegs Einzelfälle.“ (Seite 107)
„Antisemitisches Gedankengut findet sich nicht nur bei einigen wirren innerparteilichen Außenseitern, sondern ist im politischen Zentrum der AfD fest verankert. Im Zuge der sich als Erfolgsrezept erwiesenen Radikalisierung der Partei seit ihrer Gründung fielen auch die Hemmungen vor explizit judenfeindlichen Positionierungen.“ (Seite 108)

Insgesamt argumentiert Stefan Dietl überzeugend. Er enttarnt die Selbstdarstellung der AfD als „Garant jüdischen Lebens“ als Selbstinszenierung.
Ein wenig mehr hätte man noch auf die Funktion der Schuldrelativierung eingehen können, denn um ihren deutschen Nationalismus ‚ungestört‘ ausleben zu können, müssen AfD und Co. die deutsche Schuld auch an der Shoah relativieren.
Das Buch ist kurz und liest sich schnell. Hoffentlich ist es ein erster Schritt bei der Analyse, Kritik und Thematisierung des Antisemitismus in und um die AfD.

Stefan Dietl: Antisemitismus und die AfD, Berlin 2025.

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Buchkritik „Ökotopia“ von Ernest Callenbach

Das Buch „Ökotopia“ von Ernest Callenbach trägt den Untertitel „Notizen und Reportagen von William Weston aus dem Jahre 1999“ und ist im englischen Original 1975 erschienen. Die (west-)deutsche Ausgabe erschien 1978.

In dem Buch wird eine ökologische Utopie beschrieben. Die Handlung spielt in der damaligen Zukunft, nämlich im Jahr 1999. Zwanzig Jahre nach der Abspaltung des US-Nordwestens (Nordkalifornien, Oregon, Washington) betritt der US-Reporter William Weston den unabhängigen Staat „Ökotopia“. Nach einem geplanten Bevölkerungsrückung leben hier 14 Millionen Menschen. Unter der regierenden „Survivalist Party“ wurde ein neues und ‚ökotopisches‘ Gesellschaftsmodell entwickelt.
Es wird nur noch mit Pfeil und Bogen gejagt, Kunststoff ist verboten, das Verpackungs-Problem ist damit gelöst, man lebt autofrei und es gibt in vielen Orten einen „Grundbedarfsladen“.
Der Konsum von Marihuana ist legalisiert – damals noch eine Utopie: „Eines der gewagtesten Experimente der neuen Regierung bestand ja darin, Marihuana ausdrücklich zu einem gewöhnlichen Genußmittel zu erklären. Man hob nicht nur das gesetzliche Verbot auf, sondern verteilte sogar kostenlosen Samen bester Qualität im Rahmen einer Kampagne, die den »selbstgemachten Joint« fördern sollte. Das Ergebnis war, daß jedes Haus, jede Wohnung im eigenen Garten oder im Blumenkasten Hanf anpflanzen kann. Es ist, als hätten wir bei uns in der Küche einen Freibier-Hahn.“ (Seite 215)
Auch in Bezug auf die Geschlechtergerechtigkeit ist man egalitär: „In vielen dieser Familien teilt man sich nicht nur die Versorgungs- und Haushaltspflichten, sondern auch die Kindererziehung; dabei scheinen Männer und Frauen zwar gleich viel Zeit zu investieren, jedoch in einer eigentümlichen Verteilung der Befugnisse. Allgemein hat sich die Gleichberechtigung im ökotopianischen Leben in erstaunlichem Maße durchgesetzt – Frauen üben verantwortliche Berufe aus, erhalten gleiche Bezahlung und bestimmen nicht zuletzt den Kurs der Survivalist Party.“ (Seite 87-88)
Um einen – vom Autoren anscheinend als notwendig angesehene – Triebabfuhr anzubieten gibt es Kriegsspiele von jungen Männern, bei denen es 50 Tote pro Jahr gibt.
Die Wirtschaft ist dezentralisiert und in Teilen wird eine ‚Waldgesellschaft‘ beschrieben. Jede Bürgerin und jeder Bürger muss z.B. einen „Walddienst“ ableisten, um Bauholz zu erhalten
Es gibt ein Vererbungsverbot, es herrscht die 20-Stunden-Woche und es gibt eine Arbeiterselbstverwaltung. Außerdem herrscht untereinander eine offene Zärtlichkeit.
Die herrschende Ökoreligiösität ist für unreligiöse Leser*innen allerdings etwas gewöhnungsbedürftig.

Leider tragen Teile der Utopie aus kritischer Sicht reaktionäre Züge. Der Autor schildert eine nämlich auch eine Art Apartheid. Innerhalb von Ökotopia gibt es Ethnostaaten. Der Journalist Peter Bier kritisiert diese ethnopluralistische Utopie zu Recht: „Stattdessen skizziert Callenbach eine Struktur, die an das politische System Südafrikas mit den Homelands erinnert. Ökotopia ist ein Apartheidsstaat: Stadtviertel mit überwiegend schwarzer Bevölkerung oder ehemalige Chinatowns bilden eigene Ministaaten. Dazu gibt es ein größeres Gebiet namens ‚Soul-City‘ für Schwarze, was an das Klischee erinnert, Schwarze seien besonders begabt für Musik und Tanz. Für Lateinamerikaner_innen ist in Ökotopia ebenfalls ein eigener Staat geplant, allerdings müssen noch Umsiedlungen vorgenommen werden.“
(Peter Bierl: Grüne Braune. Umwelt-, Tier- und Heimatschutz von rechts, Münster 2014, Seite 67-68)
Dem Buch insgesamt attestiert Bierl zu Recht eine „krude Mischung aus emanzipatorischen und rechten Vorstellungen“ zu beinhalten.

Literarisch ist das Buch eher eine Art Zweck-Roman und damit keine Feinkost. Die Handlung dient der Darstellung der Utopie des Autors.
Bei gebotener kritischer Distanz lässt sich diese Öko-Utopie aus dem vordigitalen Zeitalter aber trotzdem lesen.
Sie ist allerdings nur noch antiquarisch erhältlich.

Ernest Callenbach: Ökotopia. Notizen und Reportagen von William Weston aus dem Jahre 1999, Berlin 1984.

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Buchkritik „50 Jahre pervers“ von Rosa von Praunheim

Die 1993 erschienene Autobiografie „50 Jahre pervers“ schildert die „sentimentalen Memoiren“ des Autors Rosa von Praunheim, dem 1942 geborenen „Vater der Schwulenbewegung“.
Das Buch ist im besten Sinne schamlos und provokant geschrieben und es fängt bereits auf den ersten Seiten so an:
„Ich liebe Schwänze und freche Frauen.
Ich liebe Sensationen, Provokationen und Unverschämtheiten.
Ich liebe das Abenteuer, die Unruhe und harte Muskeln, ich hasse Anpasser und Feiglinge und finde Hausfrauen und Beamte exotisch.
Ich liebe mich, meine Energie und mein Arschloch.“

(Seite 11)
Die expliziten Schilderungen von Sex sind keine Mangelware in dem Buch. Auf zwei vollen Buchseiten präsentiert der Autor sogar sein Sextagebuch aus dem Jahr 1982.

Von Praunheims Geschichte ist eng verwoben mit der Geschichte der westdeutschen Schwulenbewegung. Nach seiner Kindheit und Jugend wird er Künstler und beginnt an der „Berliner Hochschule für bildende Künste“ zu studieren. Das damalige Westberlin beschreibt er wie folgt: „Damals war Berlin noch eine Insel der Freaks und Ausgestoßenen, der Minderheiten, Politclowns, Drogendealer und Schwulenhauptstadt. Damals gab es nur wenige Spekulanten und Werbeagenturen, die die Stadt überfluteten.“ (Seite 290)
In Berlin gründete er 1971 die „Homosexuelle Aktion Westberlin“ (HAW) mit, eine der ersten homosexuellen Selbstorganisationen der Nachkriegszeit. Auch stellte er die ersten Räumlichkeiten für das Berliner SchwuZ zur Verfügung. Außerdem ist er beteiligt am ersten CSD in Berlin 1973, an dem 600 Personen teilnahmen.

Von Beruf ist der Aktivist Film- und Theaterregisseur, Produzent, Autor und Dozent. Seine Filme sind meist Autoren- und Avantgardefilme, oft sehr experimentell. In über 50 Jahren drehte er über 150 Kurz- und Langfilme. Seine Dokumentarfilme haben eine aufklärerische Stoßrichtung. Etwa der 1971 entstandene Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“, der 1973 im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gezeigt wurde – mit Ausnahme von Bayern. In dem Film kommt es auch zum ersten Kuss zwischen zwei Männern, der im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde
Neben Berlin und München ist Rosa von Praunheim auch in den New York, Los Angeles und Washington ansässig. Auch dort taucht er in die schwule Subkultur ein und holt sich Inspiration.
Viele seiner Filme sind als eher künstlerische Fime kommerzielle Flops, weil sie nicht massentauglich sind. Wirklich wohlhabend wird er nicht. Im Buch schildert er wie er immer wieder sehr prekäre Zeiten durchsteht. Dass er seine Filme aber nicht auf den kommerziellen Erfolg ausrichtet, lässt ihn unabhängig und kreativ bleiben.
Trotzdem trifft und kennt er viele BRD-Prominente, was er nicht verschweigt. Manche Abschnitte im Buch lesen sich wie ein namedropping. So kennt er zum Beispiel Rainer Werner Fassbinder, Nina Hagen oder Wolf Biermann.

Im Konflikt mit akademischen und bürgerlichen Schwulen
Mit der akademisch geprägten 1968er-Bewegung kann er als Nicht-Akademiker nicht so viel anfangen: „Ich hatte lange einen Akademikerhaß. Selbst in der Studentenbewegung um ’68 fand ich die Szene eingebildet und elitär. Ich habe mich nie daran beteiligt. In der frühen Schwulenbewegung haßte ich schnell die Studenten, weil sie sich aus Angst vor Sex, dem Kampf auf der Straße und radikalen Forderungen in theoretische Argumente flüchteten.“ (Seite 36-37)

Er ist Teil der Bewegung, aber er legt sich auch immer wieder mit ihr an. Er selber schildert es als eine Art Zweifronten-Kampf: „Unsere Kritik ging in zwei Richtungen: gegen die repressive Gesellschaft und gegen die Feigheit der Schwulen. Ich wollte auch meine Wut auf diejenigen Schwulen loswerden, die sich passiv von Rockern in Parks verprügeln ließen, die aus den Toiletten rannten, statt dem zu helfen, der blutend in der Pisse lag. Ich hatte zu lange unter der eitlen und verklemmten Szene in Bars, Klappen und Schwimmbädern gelitten und unter der unpolitischen oder sogar konservativen Haltung vieler Schwuler.“ (Seite 120)
In seinem Konflikt mit bürgerlichen Schwulen outet er in der Öffentlichkeit immer wieder schwule Prominente gegen ihren Willen.

Die Katastrophe Aids
Das Virus verbreitete sich in den 1980er Jahren rasend schnell, besonders unter schwulen und bisexuellen Männern. Wie ein Meteorit schlägt Aids in die aufblühende schwule Subkultur ein.
Hier macht das Buch der nachgeborenen und nicht-schwulen Generation klar, welche Katastrophe Aids für die Schwulen darstellte und wie viele Tote sie in der schwulen Szene forderte. Der Vergleich mit dem Holocaust, den auch von Praunheim verwendet, ist sicherlich historisch falsch, aber er gibt das Lebensgefühl von damals wieder.
Rosa von Praunheim versucht über Aufklärung der Ausbreitung von Aids entgegen zu arbeiten. Im Januar 1985 rief der Regisseur im Berliner Schwulenzentrum die erste Aids-Aktionsgruppe ins Leben. Im selben Jahr organisierte er das erste große Aids-Benefiz in Deutschland im Berliner Tempodrom. Sein Film „Ein Virus kennt keine Moral“ (1986) war der erste deutsche Film über Aids. Er wird zum „Aids-Aufklärer der Nation“.
Seit Beginn der HIV-Epidemie war von Praunheim strikter Vertreter von Safer Sex, auch wenn er selber vereinzelt schwach geworden ist. Sein Safer Sex ließt ihn die Epedemie überleben.
Auch hier kam er in Konflikt mit Teilen der schwulen Szene. Diese wollten ihre Orgienräume nicht schließen und beklagten eine „Kondomisierung der Gesellschaft“. Das kritisiert Rosa von Praunheim: „Mir erschien es zynisch, daß die meistem Schwule das Prinzip der sexuellen Freiheit um jeden Preis hochhielten und die reale Gefahr des Virus herunter spielten.“ (Seite 315)

Problematische Verharmlosung der Pädophilen
Bei einem Randaspekt im Buch ist es schwer ihn zu thematisieren und gleichzeitig keine homophoben Klischees zu füttern. Im Zuge einer allgemeinen sexuellen sexueller Minderheiten versuchten in den 1970er und 1980er Jahren auch Pädophile sich an diese Emanzipation dran zu hängen. In dem 1993 erschienenen Buch klingen diese Versuche noch nach, als im allgemeinen Klima einer Enttabuisierung auch diese Gruppe offener auftrat. Etwa als der Autor fordert: „Wir müssen schnell lernen, auch Minderheiten unter den Schwulen zu verstehen und zu lieben. Wir müssen auch Knabenliebhaber, Lederleute oder Transvestiten unter uns akzeptieren.“ (Seite 139)
So ist es höchst problematisch, wenn er schreibt: „Für mich war das Thema Sex mit Kindern und Jugendlichen etwas völlig Neues. […] Oft schaffen erst Verbot und Kriminalität die Tragödie. Das wichtigste, wie bei allen Tabus, ist Reden, sich informieren, Schweigen und Schamgefühl durchbrechen.“ (Seite 240)
Es geht hier aber nicht um die Enttabuisierung des Themas an sich, sondern auch um die Enttabuisierung der damit verbundenen Handlungen. Leider erkennt Rosa von Praunheim nicht, dass es sich im Gegensatz zu anderen tabuisierten Formen von Begehren nicht um eine Interaktion zwischen zwei oder mehr mündigen Individuen handelt. Er geht damit den Pädophilen auf den Leim, die versuchen ihre eigene Agenda in eine sexuelle Emanzipations-Bewegung hinein zu schmuggeln. Etwas, was übrigens auch in der Grünen Partei der 1980er Jahre geschehen ist.
Dieses Thema flackert nur an wenigen Stellen im Buch auf, die Kritik daran soll aber nicht unter den Tisch fallen gelassen werden.

Fazit: Unbedingt lesen!
Die Autobiografie von Rosa von Praunheim schildert ein für Nachgeborene und Heterosexuelle unbekanntes Kapitel westdeutscher Geschichte.
Manches würde man heute wohl anders schreiben. So verwendet der Autor vereinzelt das rassistische N-Wort für Schwarze und das Z-Wort für Sinti und Roma.
Wer darüber hinweg lesen kann, die/der erfährt viel Neues und Unbekanntes. Besonders die Schilderung der Aids-Katastrophe für schwule Männer ist sehr eindrücklich.
Wer das Buch antiquarisch aufstöbert, sollte es unbedingt lesen!

Rosa von Praunheim: 50 Jahre pervers. Die sentimentalen Memoiren des Rosa von Praunheim, Köln 1993.

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Buchkritik „Unser Deutschland-Märchen“ von Dinçer Güçyeter

Das 2022 erschienene Buch „Unser Deutschland-Märchen“ ist schwer zu charakterisieren. Es hat stark autobiografische und biografische Züge, da der Autor die meisten Abschnitte aus seiner Sicht und der fiktiven Sicht seiner Mutter Fatma schreibt.
Es geht um das Ankommen, Arbeiten und Aufwachsen in (West-)Deutschland. Fatma kommt als so genannte ‚Gastarbeiterin‘ nach Westdeutschland und Dinçer bezeichnet sich selbst als ‚Gastarbeiterkind‘. Hinzu kommen surreale Texte und Lieder, sowie Kapitel aus den Perspektiven weiterer Menschen, sowie mit Schwarzweiß-Fotografien aus dem Familienbilderalbum des Autoren. Es ist also eine Art semi-autobiografische Episoden-Erzählung.
Dabei nimmt die Perspektive der Mutter den größeren Teil des Buches ein. Dinçer Güçyeter setzt seiner Mutter also eine Art literarisches Denkmal.
Fatma hat es nicht leicht, als Frau, als Türkin und als Arbeiterin. Sie kommt mit 13 Jahren nach Deutschland, in eine für sie fremde Gesellschaft. Ihr Mann, Yilmaz, wird eher als Taugenichts beschrieben. Ständig verspekuliert sich und hat deswegen Schulden. Wie allgemein die türkischen Männer in Deutschland im Buch eher schlecht wegkommen. Viele sitzen in der Kneipe von Yilmaz und trinken und spielen. Die Arbeit dagegen machen die Frauen, so auch Fatma. Erst hat sie einen Putz-Job, später arbeitet sie in einer Schuhfabrik und als Fabrikarbeiterin bei Mercedes und gleichzeitig auf dem Feld. Hier erntet sie u.a. Spargel: „Nach meiner Schicht sammle ich alle Frauen vor ihrer Haustür ein, wir fahren zusammen nach Grefrath, verteilen uns wie Ameisen im Feld und stechen den goldenen Spargel aus seinem Versteck. Ich verstehe nicht so ganz, warum Deutschland diese Wurzelart so heilig ist, aber egal, Hauptsache, ich kann damit Geld verdienen.“ (Seite 55-56)
Sie muss auch arbeiten, um die Schulden ihres Mannes abzustottern und für ihre beiden Söhne, den 1979 geborenen Dinçer und den 1982 geborenen Özgür, sorgen. Auch die Care-Arbeit bleibt an ihr bzw. an den Frauen hängen. Mit der Schwiegermutter, der Schwägerin und weiteren ist es ein achtköpfiger Haushalt, den Fatma aufopferungsvoll versorgt und managt.
Das Buch zeigt in seinen Frauenperspektiven das Patriarchat kritisch auf. Auch Rassismus wird thematisiert. Der Alltagsrassismus aber auch die rassistische Gewalt. So heißt es etwa über die Zeit nach den tödlichen Brandanschlägen in Solingen und Mölln: „Die nächsten Nächte habe ich schlaflos am Fenster verbracht, jeder Schatten umzingelte meinen Körper mit einer neuen Angst.“ (Seite 125)
Die Mutter schuftet für ein besseres Leben für ihre Kinder, engt sie aber auch ein, in ihrer Rollen-Erwartung an diese. Dinçer versucht dem gerecht zu werden, und arbeitet seit dem achten Lebensjahr mit. Er soll Arbeiter werden und beginnt auch eine Ausbildung als Dreher. Das härtet den Träumer ab, aber eigentlich will er Literat werden, auch wenn das kein sicherer Beruf ist. Es kommt zum Bruch mit der Mutter als er anfängt seinen eigenen Träumen zu folgen. Trotz des Ausbruchs aus seinem Milieu, bleiben viele Prägungen zurück: „Wenn du als Gastarbeiterkind die gesamte Jugend damit verbracht hast, deinen Lehrern, den Vorarbeitern, Dozenten etwas zu beweisen, dann steckt diese Kerbe tief im Fleisch, und für den Rest des Lebens kämpfst du damit, die Wunde zu heilen, dich zu befreien.“ (Seite 191)

Das Buch ist auch ein literarische Liebeserklärung des Autors an seine Mutter. Es ist ein Buch aus migrantischer, teilweise weiblicher Perspektive über das Ankommen in Westdeutschland. Es ist individuell und steht doch auch stellvertretend für Millionen Biografien.
Besonders die poetische Sprache – der Autor schreibt auch Gedichte – ist schön.
Ein Lesetipp!

Dinçer Güçyeter: Unser Deutschlandmärchen, Berlin 2022.

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Buchkritik „33 Bögen und ein Teehaus“ von Mehrnousch Zaeri-Esfahani

Die 140 Seiten der autobiografischen Erzählung „33 Bögen und ein Teehaus“ von Mehrnousch Zaeri-Esfahani lesen sich schnell und gut. Die Autorin beschreibt darin ihr Aufwachsen im Iran, ihre Flucht und ihr Ankommen in Westdeutschland.
Geboren im Jahr 1974, wächst Zaeri-Esfahani in einer liberalen und wohlhabenden Familie in der Stadt Isfahan auf. Ihr Vater ist Arzt und ihre Mutter Krankenschwester.
Im Jahr 1979 wird der Schah gestürzt und sein Regime durch eine Theokratie ersetzt. Der Tugendterror der Mullahs setzt ein. Immer mehr wird verboten, selbst Frauengesang, Schach und Mensch-ärgere-Dich-nicht. Überall wachen die Pasderan (Religionswächter) über die Einhaltung der religiösen Verbote. Die Autorin schreibt: „Die Pasderan waren überall! Sie waren immer zu viert und tauchten wie aus dem Nichts auf. Wie Krokodile, die ungesehen unter der Wasseroberfläche lauern und dann, wenn sie ihrem Opfer nah genug sind, mit ihrem tödlichen Maul je zuschnappen.“ (Seite 33)
Seit dem Alter von sechs Jahren musste sie im Iran ein Kopftuch tragen und ist der Propaganda und den Schlägen im Schulunterricht ihrer Mädchenschule ausgeliefert.
Im Jahr 1980 bricht der Iran-Irak-Krieg aus, der bis 1988 andauert. Das Regime rekrutiert Jungen ab 12 Jahren als Kindersoldaten.
Zaeri-Esfahanis beschließt zu fliehen, um ihren ältesten Sohn vor diesem Schicksal zu schützen. Die sechsköpfige Familie aus den beiden Eltern und vier Kindern tarnt die Flucht als normale Reise.
Sie stranden in Istanbul. Von hier aus gelangen sie über ein DDR-Visum nach Ostberlin.
„Er [ihr Vater] erklärte mir, dass so ein Visum für uns Flüchtlinge wertvoller sei als ein Sechser im Lotto. Er sagte, dieses kleine Papier würde unser ganzes Leben verändern.“ (Seite 74)
Die DDR-Behörden ärgerten damals Westdeutschland damit, dass sie Flüchtlinge mit einem Visum kurz aufnahmen und dann in den Westen abschoben. So hatte es die Familie von Zaeri-Esfahani auch geplant. Ihre Flucht nach Westdeutschland ist damit auch ein Ergebnis des Ost-West-Konfliktes.
Zu Weihnachten 1985 treffen sie in Westberlin ein, werden nach Karlsruhe verschoben und landen schließlich in Heidelberg.
Hier versucht sich die kleine Mehrnousch an die neuen Gegebenheiten anzupassen: „Es galt, all die komischen Dinge zu verstehen, die die komischen Fremden in diesem komischen Land taten.“ (Seite 12)
Thema und die Kinder-Perspektive erinnern an Marjams Satrapis „Persepolis“. Es geht auch um Ausgrenzung und Rassismus, aber nicht nur.
Die Lektüre lohnt sich sehr. Allerdings hätte man gerne noch gelesen wie das Leben von Mehrnousch in der Bundesrepublik weiter verlaufen ist.

Mehrnousch Zaeri-Esfahani: 33 Bögen und ein Teehaus, Hamburg 2018.

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Buchkritik „Die rechte Mobilmachung“ von Patrick Stegemann und Sören Musyal

Fünf Jahre sind im Online-Zeitalter Jahrzehnte. Das 2020 erschienene Buch „Die rechte Mobilmachung. Wie radikale Netzaktivisten die Demokratie angreifen“ von Patrick Stegemann und Sören Musyal ist natürlich veraltet, denn es beschreibt eine Zeit vor Corona, vor der russischen Vollinvasion in der Ukraine, vor der Trump-Wiederwahl, vor dem Rechtsruck von Elon Musk und vor der Popularität von Tiktok im Westen.
Trotzdem hilft das Buch immer noch die digitalen Raum-Gewinne der extremen Rechten besser nachzuvollziehen. Denn schon vor fünf Jahren war der Erfolg der extremen Rechten unübersehbar:
„Die extreme Rechte ist heute weltweit in der Lage, über ihre Kernzielgruppen hinaus ihre Botschaften zu platzieren. Sie kann damit Wahlen beeinflussen, und sie kann mitbestimmen, worüber ganze Gesellschaften sprechen.“ (Seite 16)

Das Autoren-Duo zeichnet die Entwicklung der rechten Politisierung von Online-Subkulturen von Gamern nach. Dabei gehen sie auch auf die Incel-Subkultur und den Gamergate 2014 ein. Dieser war eine „gewaltvolle Art der Zensur“, als männliche Gamer versuchten eine Spiele-Entwicklerin und ihre Verteidiger*innen mit einem shitstorm zum Schweigen zu bringen.
Der Gamergate macht die extreme Rechte auf das Potenzial reaktionärer Gamer aufmerksam und sie stieß dazu, weil sie hier Kulturkampf-Potenzial witterte. Es entstand eine rechte „hochpolitisierte Ironiekultur“. Am Anfang vieler Radikalisierungsbiografien stand und steht nämlich ein destruktiver Humor, der sich hinter der Ironie zu verstecken versucht. In Wahrheit sind es aber oft menschenverachtende und extreme rechte Aussagen, die da durch Bilder oder Kommentare zum Vorschein kommen.
Es kam in den 2010er Jahren zu einer Annäherung von extrem rechten chan-Kulturen und organisierten Rechtsextremismus. In den weitgehend unmoderierten chan-Foren rechtsradikalisieren sich junge Männer und ziehen in den „digitalen Partisanenkampf“. Ein rechtsextremes Netzmilieu entstand, was sich im „Infokrieg“ sieht und „Trollterrorismus“ und „Memetic Warfare“ betreibt.
„Die einschlägigen Boards waren einst Orte, an denen sich anonyme Nutzer ihres Frauenhasses und Rassismus versicherten. Nun sind sie zu Foren geworden, in denen eine politische Agenda vorgetragen und verfolgt wird.“ (Seite 48-49)
Die Autoren schreiben bei der Online-Radikalisierung wahlweise von Rampe, Pipeline oder Radikalisierungspfad.
Politisches Trolling wird als Spiel getarnt bzw. ist wie ein Spiel aufgebaut. Je erfolgreicher man ist, desto mehr Anerkennung bekommt man. Eine „Gamifizierung der Politik“ findet statt, etwa im „Great Meme War“ von 2016. Rechte und rassistische Memes stellen dabei eine „Ästhetisierung menschenverachtender Politik“ dar.
Dabei harmonieren Memes grundsätzlich gut mit den rechten Parolen, weil sie einerseits einfache Feindbilder transportieren und sich andererseits hinter dem vermeintlichen Humor oder nicht-ganz-ernst-gemeint verstecken können, wenn es Kritik gibt.
Die extreme Rechte ist aber auch online eigentlich nur eine lautstarke Minderheit, die es allerdings aber schafft „Dominanz im Diskurs vor[zu]täuschen“ (Seite 80).

Demokratie-schädlicher Algorithmus
Der „Infokrieg“ ist auch ein Krieg der Emotionen, die die Infokrieger versuchen durch Trollen und Memes anzusprechen.
„Deswegen sind organisierte Hassattacken und Shitstorms nicht nur »normal« für die rechten Infokriegerinnen, sondern notwendig.“ (Seite 80-81) Besonders beliebt ist das „Negative Campaigning“, also das man politische Gegner*innen dämonisiert. Auch angewandt wird „Doxing“, das Veröffentlichen privater Daten, oder das Kapern von Hashtags.
Das grundsätzliche Problem ist, dass der Algorithmus vieler Plattformen von Zuspitzung und Polarisierung lebt und damit gilt: „Viralität ist Populismus“.
„In den vergangenen Jahren ist beides zusammengewachsen: eine politische extreme Rechte, die Zuspitzung und Spaltung will und auf Verschleierung setzt, und soziale Medien, die genau auf diese Art der Kommunikation befeuern.“ (Seite 121)
Um Menschen möglichst lange auf ihren Plattformen zu halten wird ihnen gezeigt was sie anspricht oder emotional extrem berührt. Da ein Algorithmus nichts mit Ethik zu tun hat, sind die Folgen egal. Die Autoren beschreiben im Buch an einer Stelle, wie ein Youtube-Algorithmus unabsichtlich zur Herausbildung einer pädophilen Struktur führte. Der Algorithmus erkannte dass einige Menschen aus ihrer pädophilen Neigung heraus gerne Videos mit jungen nackten oder wenig bekleideten Personen ansahen und zeigte ihnen immer mehr dieser Videos. In den Kommentarspalten zu besonders beliebten Videos fanden dann die Personen mit pädophilen Neigungen zueinander, bestärkten sich und tauschten Kontakte aus. So entstand aus einem Youtube-Algorithmus ein Pädophilen-Ring.

In der Szene etablieren sich auch rechte Influencer*innen, von denen mehrere im Buch porträtiert wurden. Die rechten Influencer*innen arbeiten auch stark mit einer Emotionalisierung:
„Die Aufgabe rechter Influencer*innen ist es, immer wieder an diese Gefühle der Gegnerschaft nach außen und Gemeinschaft nach innen zu appellieren: Der Feind, der bekämpft werden muss, und die eigene tragende Rolle dabei stehen fortwährend im Mittelpunkt.“ (Seite 81)

Rechte Trolle für Trump und AfD
Rechte Chan-Trolle unterstützten Trumps Wahl-Kampagne 2016, die AfD zur Bundestagswahl 2017 und andere rechte Parteien im Wahlkampf. Die rechte Online-Kultur ist zwar international, aber trotzdem gibt es manchmal nationale kulturelle Eigenheiten die eine 1:1-Übertragung verhindern. So war beispielsweise die Verwendung der, von rechts gekaperten, Symbolfigur „Pepe, der Frosch“ nicht auf den Wahlkampf in Frankreich übertragbar, weil hier Frösche eine spezifische Bedeutung haben.
Die Autoren schreiben von den „drei Dopings der AfD: Influencer*innen, Vorfeldorganisationen und Fakes“ (Seite 231).
Die rechte Trollarmee ist dabei eine Art digitaler Narrensaum der extremen Rechten, der aber nur bedingt kontrollierbar oder in eine Strategie rechter politischer Parteien eingebunden ist. Stegemann und Musyal resümieren: „Der Erfolg der AfD ist also nicht Ergebnis einer besonders klugen Medienstrategie. Die AfD ist schlicht Teil des rechten Infokrieges. Sie teilt die extreme Idee von Öffentlichkeit, die in klarer Opposition zur demokratischen Mehrheitsgesellschaft steht. Entscheidender Teil dieser Strategie ist es, die eigene Community von anderen Medien zu entfremden.“ (Seite 241)

Zwar ist inzwischen aus der Facebook-Partei AfD eine Tiktok-Partei geworden, trotzdem ist die Lektüre des Buches noch immer hilfreich um den Online-Siegeszug der extremen Rechten nachzuvollziehen.

Patrick Stegemann, Sören Musyal: Die rechte Mobilmachung. Wie radikale Netzaktivisten die Demokratie angreifen, Berlin 2020

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Buchkritik „Das Deutsche Demokratische Reich“ von Volker Weiß

Mit viel Gewinn habe ich das in diesem Jahr erschienene Buch „Das Deutsche Demokratische Reich“ von Volker Weiß gelesen. Der seltsam wirkende Titel verweist auf die Patchwork-Nostalgie der extremen Rechten, die sich je nach Bedarf sowohl auf verschiedene Aspekte der deutschen Geschichte beziehen.
Dabei geht es um etwas, was als ‚Resignifikation‘ bezeichnet wird. Darunter ist die Umschreibung der kollektiven Erinnerung zu verstehen. Weiß führt aus wie dieses Projekt mit dem zunehmenden Erfolg der extremen Rechten an Resonanzraum gewonnen hat:
„Das Projekt der »historisch-fiktionalen Gegenerzählung«, mit der die extreme Rechte seit Langem ihren Zugriff auf die Geschichte gestaltet, hat durch die erweiterten Resonanzräume der Strömung erheblich an Lautstärke hinzugewonnen.“ (Seite 8)
So ist eine Art rechter antikommunistische DDR-Nostalgie entstanden, die oft mit einer rechten Dekadenzkritik und dem Feindbild Westen einher geht.
Diese Tendenz führt auch in die Arme des russischen Nationalismus, dessen antiwestlichem Weltbild man sich immer stärker annähert. Dabei kommt es zu einem „wilden crossover“, auch zwischen Imperialismus und Antiimperialismus. Den russischen Imperialismus ignoriert man, den amerikanischen verdammt man. Russland lockt die deutsche Rechte dabei mit dem „Ostpreußen-Köder“, also der angeblichen Möglichkeit die Oblast Kaliningrad, das ehemalige Nord-Ostpreußen, zurückzubekommen.

Der Autor widmet sich auch den Versuch aus den Nazis Linke zu machen, um Schuld auf den politischen Gegner abzuwälzen. Eine Betrachtung, die auch im Musk-Weidel-Gespräch im Januar 2025 auftauchte, als Weidel die Nazis als „Kommunisten“ bezeichnete.
In diesem Zusammenhang spürt Weiß einem vorgeblichen Goebbels-Zitat nach, was scheinbar ein linkes Verständnis der Nazis belegt. Das Zitat entpuppt sich aber als verkürztes Zitat eines niedersächsischen NS-Nationalrevolutionärs.

Weiter geht Weiß darauf ein, dass schon der ‚konservative Revolutionär‘ Moeller van den Bruck (1876-1925) Begriffe neu besetzt hat, z.B. als er aus dem Sozialismus einen „Deutschen Sozialismus“ machte, der allerdings gar nicht sozialistisch war. Bereits in der Weimarer Republik versuchte also die extreme Rechte sich an einer Resignifikation. Gegen die starke Arbeiter*innen-Bewegung versuchte die Rechte sich Zeichen und Begriffe der Linken aneignen ohne ihr aber beizutreten. Denn im Gegensatz zur Linken waren soziale Gerechtigkeit und Egalitarismus nicht ihr Ziel. Die Rechte verstand ihren ‚Sozialismus‘ nur als Absage an eine Klientelpolitik, aber sie ließ die gesellschaftlichen Verhältnisse unangetastet.

Nach der Wende von 1989/90 kommt es zum Paradox einer antikommunistischen DDR-Nostalgie. Die extreme Rechte nimmt positiven Bezug auf antiliberale Traditionslinien der DDR. Es entsteht „der Osten der Rechten“, der allerdings sehr fiktional und widersprüchlich ist. Etwa wenn man sich gleichzeitig sowohl positiv auf die DDR-Kultur als auch auf die Bürgerrechtsbewegung bezieht. Oder wenn man einerseits gegen Angela Merkel ihre FDJ-Sozialisation anführt und andererseits die DDR-sozialisierte Bevölkerung durch die emotionale Ansprache eines kulturellen Erinnerungsraums versucht anzusprechen, z.B. in Bezug auf die populären Simson-Motorräder.
Die extreme Rechte versucht ‚ostdeutsch‘ als rechte Marke zu etablieren. Der Osten sei noch ‚rein‘, nämlich ohne Migration und Schuldkult.
Ähnliches passiert auch jenseits des Atlantik in der US-Rechten, die traditionell antikommunistisch und russlandfeindlich eingestellt war. Auch sie hat in Teilen mit Blick auf den Nationalismus und Traditionalismus des Putins-Regimes ein positives Russland-Bild entwickelt.
Gegen Ende des Buchs enthüllt der Autor dass sein Buchtitel aus einer Rede von Jürgen Elsässer in Jena am 3. Oktober 2023 stammt. In dieser macht er sich im Prinzip für eine Separation Ostdeutschlands als eine Art ‚Rassereinheitsreservat‘ und antiwestlicher Ostblock stark.
Im Verlauf der Lektüre wird immer klarer wie die extreme Rechte durch Umdeutung und Umschreibung der deutschen Geschichte versucht über eine Relativierung zur Revision zu gelangen.

Von dem eigenwilligen Titel sollte man sich nicht abschrecken lassen. Wer wissen will wie „ die extreme Rechte Geschichte und Demokratie zerstört“ – so der Untertitel – muss dieses neue und schlaue Buch von Volker Weiß lesen.

Volker Weiß: Das Deutsche Demokratische Reich. Wie die extreme Rechte Geschichte und Demokratie zerstört, Stuttgart 2025

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Sammelband zur Geschichte des Epplehaus in Tübingen erschienen

Im Februar 2025 ist dieser Sammelband erschienen:
Elias Raatz, Lucius Teidelbaum: Wir hol’n jetzt unser Haus! Über 50 Jahre Tübinger Jugendzentrum Epplehaus zwischen Hausbesetzung, Selbstverwaltung und Subkultur, Villingen-Schwenningen 2025
ISBN 978-3-98809-035-5

Meine Beiträge in dem Buch sind:

  • mit Elias Raatz: Vorwort, Seite 8-9
  • Ballettmeister, Hilfsbremser und Pfarrer. 1863-1972: Die ersten Jahre im Jugendzentrum, Seite 33
  • Das Epplehaus lebt weiter. 2001-2025: Das Epplehaus im 21. Jahrhundert, Seite 72-77
  • Trouble in Paradise. Seit 1972: Konflikte und Probleme in der Selbstverwaltung, Seite 78-82
  • Eine Schule der Basisdemokratie. Seit 1972: Station in der Sozialisierung junger Menschen, Seite 88-89
  • Das Epplehaus als Feindbild. Seit 1972: Rechte Angriffe und Anfeindungen gegen linkes Zentrum, Seite 90-92
  • mit Larissa Roth: „Auch mal ohne seitenlange Marxzitate“. Seit 2007: Linke Bildungsarbeit von „Input“, Seite 98-99
  • Alerta, alerta, antifascista! Antifaschismus und das Epplehaus, Seite 106-107
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