Buchkritik „Ökotopia“ von Ernest Callenbach

Das Buch „Ökotopia“ von Ernest Callenbach trägt den Untertitel „Notizen und Reportagen von William Weston aus dem Jahre 1999“ und ist im englischen Original 1975 erschienen. Die (west-)deutsche Ausgabe erschien 1978.

In dem Buch wird eine ökologische Utopie beschrieben. Die Handlung spielt in der damaligen Zukunft, nämlich im Jahr 1999. Zwanzig Jahre nach der Abspaltung des US-Nordwestens (Nordkalifornien, Oregon, Washington) betritt der US-Reporter William Weston den unabhängigen Staat „Ökotopia“. Nach einem geplanten Bevölkerungsrückung leben hier 14 Millionen Menschen. Unter der regierenden „Survivalist Party“ wurde ein neues und ‚ökotopisches‘ Gesellschaftsmodell entwickelt.
Es wird nur noch mit Pfeil und Bogen gejagt, Kunststoff ist verboten, das Verpackungs-Problem ist damit gelöst, man lebt autofrei und es gibt in vielen Orten einen „Grundbedarfsladen“.
Der Konsum von Marihuana ist legalisiert – damals noch eine Utopie: „Eines der gewagtesten Experimente der neuen Regierung bestand ja darin, Marihuana ausdrücklich zu einem gewöhnlichen Genußmittel zu erklären. Man hob nicht nur das gesetzliche Verbot auf, sondern verteilte sogar kostenlosen Samen bester Qualität im Rahmen einer Kampagne, die den »selbstgemachten Joint« fördern sollte. Das Ergebnis war, daß jedes Haus, jede Wohnung im eigenen Garten oder im Blumenkasten Hanf anpflanzen kann. Es ist, als hätten wir bei uns in der Küche einen Freibier-Hahn.“ (Seite 215)
Auch in Bezug auf die Geschlechtergerechtigkeit ist man egalitär: „In vielen dieser Familien teilt man sich nicht nur die Versorgungs- und Haushaltspflichten, sondern auch die Kindererziehung; dabei scheinen Männer und Frauen zwar gleich viel Zeit zu investieren, jedoch in einer eigentümlichen Verteilung der Befugnisse. Allgemein hat sich die Gleichberechtigung im ökotopianischen Leben in erstaunlichem Maße durchgesetzt – Frauen üben verantwortliche Berufe aus, erhalten gleiche Bezahlung und bestimmen nicht zuletzt den Kurs der Survivalist Party.“ (Seite 87-88)
Um einen – vom Autoren anscheinend als notwendig angesehene – Triebabfuhr anzubieten gibt es Kriegsspiele von jungen Männern, bei denen es 50 Tote pro Jahr gibt.
Die Wirtschaft ist dezentralisiert und in Teilen wird eine ‚Waldgesellschaft‘ beschrieben. Jede Bürgerin und jeder Bürger muss z.B. einen „Walddienst“ ableisten, um Bauholz zu erhalten
Es gibt ein Vererbungsverbot, es herrscht die 20-Stunden-Woche und es gibt eine Arbeiterselbstverwaltung. Außerdem herrscht untereinander eine offene Zärtlichkeit.
Die herrschende Ökoreligiösität ist für unreligiöse Leser*innen allerdings etwas gewöhnungsbedürftig.

Leider tragen Teile der Utopie aus kritischer Sicht reaktionäre Züge. Der Autor schildert eine nämlich auch eine Art Apartheid. Innerhalb von Ökotopia gibt es Ethnostaaten. Der Journalist Peter Bier kritisiert diese ethnopluralistische Utopie zu Recht: „Stattdessen skizziert Callenbach eine Struktur, die an das politische System Südafrikas mit den Homelands erinnert. Ökotopia ist ein Apartheidsstaat: Stadtviertel mit überwiegend schwarzer Bevölkerung oder ehemalige Chinatowns bilden eigene Ministaaten. Dazu gibt es ein größeres Gebiet namens ‚Soul-City‘ für Schwarze, was an das Klischee erinnert, Schwarze seien besonders begabt für Musik und Tanz. Für Lateinamerikaner_innen ist in Ökotopia ebenfalls ein eigener Staat geplant, allerdings müssen noch Umsiedlungen vorgenommen werden.“
(Peter Bierl: Grüne Braune. Umwelt-, Tier- und Heimatschutz von rechts, Münster 2014, Seite 67-68)
Dem Buch insgesamt attestiert Bierl zu Recht eine „krude Mischung aus emanzipatorischen und rechten Vorstellungen“ zu beinhalten.

Literarisch ist das Buch eher eine Art Zweck-Roman und damit keine Feinkost. Die Handlung dient der Darstellung der Utopie des Autors.
Bei gebotener kritischer Distanz lässt sich diese Öko-Utopie aus dem vordigitalen Zeitalter aber trotzdem lesen.
Sie ist allerdings nur noch antiquarisch erhältlich.

Ernest Callenbach: Ökotopia. Notizen und Reportagen von William Weston aus dem Jahre 1999, Berlin 1984.

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Buchkritik „50 Jahre pervers“ von Rosa von Praunheim

Die 1993 erschienene Autobiografie „50 Jahre pervers“ schildert die „sentimentalen Memoiren“ des Autors Rosa von Praunheim, dem 1942 geborenen „Vater der Schwulenbewegung“.
Das Buch ist im besten Sinne schamlos und provokant geschrieben und es fängt bereits auf den ersten Seiten so an:
„Ich liebe Schwänze und freche Frauen.
Ich liebe Sensationen, Provokationen und Unverschämtheiten.
Ich liebe das Abenteuer, die Unruhe und harte Muskeln, ich hasse Anpasser und Feiglinge und finde Hausfrauen und Beamte exotisch.
Ich liebe mich, meine Energie und mein Arschloch.“

(Seite 11)
Die expliziten Schilderungen von Sex sind keine Mangelware in dem Buch. Auf zwei vollen Buchseiten präsentiert der Autor sogar sein Sextagebuch aus dem Jahr 1982.

Von Praunheims Geschichte ist eng verwoben mit der Geschichte der westdeutschen Schwulenbewegung. Nach seiner Kindheit und Jugend wird er Künstler und beginnt an der „Berliner Hochschule für bildende Künste“ zu studieren. Das damalige Westberlin beschreibt er wie folgt: „Damals war Berlin noch eine Insel der Freaks und Ausgestoßenen, der Minderheiten, Politclowns, Drogendealer und Schwulenhauptstadt. Damals gab es nur wenige Spekulanten und Werbeagenturen, die die Stadt überfluteten.“ (Seite 290)
In Berlin gründete er 1971 die „Homosexuelle Aktion Westberlin“ (HAW) mit, eine der ersten homosexuellen Selbstorganisationen der Nachkriegszeit. Auch stellte er die ersten Räumlichkeiten für das Berliner SchwuZ zur Verfügung. Außerdem ist er beteiligt am ersten CSD in Berlin 1973, an dem 600 Personen teilnahmen.

Von Beruf ist der Aktivist Film- und Theaterregisseur, Produzent, Autor und Dozent. Seine Filme sind meist Autoren- und Avantgardefilme, oft sehr experimentell. In über 50 Jahren drehte er über 150 Kurz- und Langfilme. Seine Dokumentarfilme haben eine aufklärerische Stoßrichtung. Etwa der 1971 entstandene Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“, der 1973 im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gezeigt wurde – mit Ausnahme von Bayern. In dem Film kommt es auch zum ersten Kuss zwischen zwei Männern, der im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde
Neben Berlin und München ist Rosa von Praunheim auch in den New York, Los Angeles und Washington ansässig. Auch dort taucht er in die schwule Subkultur ein und holt sich Inspiration.
Viele seiner Filme sind als eher künstlerische Fime kommerzielle Flops, weil sie nicht massentauglich sind. Wirklich wohlhabend wird er nicht. Im Buch schildert er wie er immer wieder sehr prekäre Zeiten durchsteht. Dass er seine Filme aber nicht auf den kommerziellen Erfolg ausrichtet, lässt ihn unabhängig und kreativ bleiben.
Trotzdem trifft und kennt er viele BRD-Prominente, was er nicht verschweigt. Manche Abschnitte im Buch lesen sich wie ein namedropping. So kennt er zum Beispiel Rainer Werner Fassbinder, Nina Hagen oder Wolf Biermann.

Im Konflikt mit akademischen und bürgerlichen Schwulen
Mit der akademisch geprägten 1968er-Bewegung kann er als Nicht-Akademiker nicht so viel anfangen: „Ich hatte lange einen Akademikerhaß. Selbst in der Studentenbewegung um ’68 fand ich die Szene eingebildet und elitär. Ich habe mich nie daran beteiligt. In der frühen Schwulenbewegung haßte ich schnell die Studenten, weil sie sich aus Angst vor Sex, dem Kampf auf der Straße und radikalen Forderungen in theoretische Argumente flüchteten.“ (Seite 36-37)

Er ist Teil der Bewegung, aber er legt sich auch immer wieder mit ihr an. Er selber schildert es als eine Art Zweifronten-Kampf: „Unsere Kritik ging in zwei Richtungen: gegen die repressive Gesellschaft und gegen die Feigheit der Schwulen. Ich wollte auch meine Wut auf diejenigen Schwulen loswerden, die sich passiv von Rockern in Parks verprügeln ließen, die aus den Toiletten rannten, statt dem zu helfen, der blutend in der Pisse lag. Ich hatte zu lange unter der eitlen und verklemmten Szene in Bars, Klappen und Schwimmbädern gelitten und unter der unpolitischen oder sogar konservativen Haltung vieler Schwuler.“ (Seite 120)
In seinem Konflikt mit bürgerlichen Schwulen outet er in der Öffentlichkeit immer wieder schwule Prominente gegen ihren Willen.

Die Katastrophe Aids
Das Virus verbreitete sich in den 1980er Jahren rasend schnell, besonders unter schwulen und bisexuellen Männern. Wie ein Meteorit schlägt Aids in die aufblühende schwule Subkultur ein.
Hier macht das Buch der nachgeborenen und nicht-schwulen Generation klar, welche Katastrophe Aids für die Schwulen darstellte und wie viele Tote sie in der schwulen Szene forderte. Der Vergleich mit dem Holocaust, den auch von Praunheim verwendet, ist sicherlich historisch falsch, aber er gibt das Lebensgefühl von damals wieder.
Rosa von Praunheim versucht über Aufklärung der Ausbreitung von Aids entgegen zu arbeiten. Im Januar 1985 rief der Regisseur im Berliner Schwulenzentrum die erste Aids-Aktionsgruppe ins Leben. Im selben Jahr organisierte er das erste große Aids-Benefiz in Deutschland im Berliner Tempodrom. Sein Film „Ein Virus kennt keine Moral“ (1986) war der erste deutsche Film über Aids. Er wird zum „Aids-Aufklärer der Nation“.
Seit Beginn der HIV-Epidemie war von Praunheim strikter Vertreter von Safer Sex, auch wenn er selber vereinzelt schwach geworden ist. Sein Safer Sex ließt ihn die Epedemie überleben.
Auch hier kam er in Konflikt mit Teilen der schwulen Szene. Diese wollten ihre Orgienräume nicht schließen und beklagten eine „Kondomisierung der Gesellschaft“. Das kritisiert Rosa von Praunheim: „Mir erschien es zynisch, daß die meistem Schwule das Prinzip der sexuellen Freiheit um jeden Preis hochhielten und die reale Gefahr des Virus herunter spielten.“ (Seite 315)

Problematische Verharmlosung der Pädophilen
Bei einem Randaspekt im Buch ist es schwer ihn zu thematisieren und gleichzeitig keine homophoben Klischees zu füttern. Im Zuge einer allgemeinen sexuellen sexueller Minderheiten versuchten in den 1970er und 1980er Jahren auch Pädophile sich an diese Emanzipation dran zu hängen. In dem 1993 erschienenen Buch klingen diese Versuche noch nach, als im allgemeinen Klima einer Enttabuisierung auch diese Gruppe offener auftrat. Etwa als der Autor fordert: „Wir müssen schnell lernen, auch Minderheiten unter den Schwulen zu verstehen und zu lieben. Wir müssen auch Knabenliebhaber, Lederleute oder Transvestiten unter uns akzeptieren.“ (Seite 139)
So ist es höchst problematisch, wenn er schreibt: „Für mich war das Thema Sex mit Kindern und Jugendlichen etwas völlig Neues. […] Oft schaffen erst Verbot und Kriminalität die Tragödie. Das wichtigste, wie bei allen Tabus, ist Reden, sich informieren, Schweigen und Schamgefühl durchbrechen.“ (Seite 240)
Es geht hier aber nicht um die Enttabuisierung des Themas an sich, sondern auch um die Enttabuisierung der damit verbundenen Handlungen. Leider erkennt Rosa von Praunheim nicht, dass es sich im Gegensatz zu anderen tabuisierten Formen von Begehren nicht um eine Interaktion zwischen zwei oder mehr mündigen Individuen handelt. Er geht damit den Pädophilen auf den Leim, die versuchen ihre eigene Agenda in eine sexuelle Emanzipations-Bewegung hinein zu schmuggeln. Etwas, was übrigens auch in der Grünen Partei der 1980er Jahre geschehen ist.
Dieses Thema flackert nur an wenigen Stellen im Buch auf, die Kritik daran soll aber nicht unter den Tisch fallen gelassen werden.

Fazit: Unbedingt lesen!
Die Autobiografie von Rosa von Praunheim schildert ein für Nachgeborene und Heterosexuelle unbekanntes Kapitel westdeutscher Geschichte.
Manches würde man heute wohl anders schreiben. So verwendet der Autor vereinzelt das rassistische N-Wort für Schwarze und das Z-Wort für Sinti und Roma.
Wer darüber hinweg lesen kann, die/der erfährt viel Neues und Unbekanntes. Besonders die Schilderung der Aids-Katastrophe für schwule Männer ist sehr eindrücklich.
Wer das Buch antiquarisch aufstöbert, sollte es unbedingt lesen!

Rosa von Praunheim: 50 Jahre pervers. Die sentimentalen Memoiren des Rosa von Praunheim, Köln 1993.

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Buchkritik „Unser Deutschland-Märchen“ von Dinçer Güçyeter

Das 2022 erschienene Buch „Unser Deutschland-Märchen“ ist schwer zu charakterisieren. Es hat stark autobiografische und biografische Züge, da der Autor die meisten Abschnitte aus seiner Sicht und der fiktiven Sicht seiner Mutter Fatma schreibt.
Es geht um das Ankommen, Arbeiten und Aufwachsen in (West-)Deutschland. Fatma kommt als so genannte ‚Gastarbeiterin‘ nach Westdeutschland und Dinçer bezeichnet sich selbst als ‚Gastarbeiterkind‘. Hinzu kommen surreale Texte und Lieder, sowie Kapitel aus den Perspektiven weiterer Menschen, sowie mit Schwarzweiß-Fotografien aus dem Familienbilderalbum des Autoren. Es ist also eine Art semi-autobiografische Episoden-Erzählung.
Dabei nimmt die Perspektive der Mutter den größeren Teil des Buches ein. Dinçer Güçyeter setzt seiner Mutter also eine Art literarisches Denkmal.
Fatma hat es nicht leicht, als Frau, als Türkin und als Arbeiterin. Sie kommt mit 13 Jahren nach Deutschland, in eine für sie fremde Gesellschaft. Ihr Mann, Yilmaz, wird eher als Taugenichts beschrieben. Ständig verspekuliert sich und hat deswegen Schulden. Wie allgemein die türkischen Männer in Deutschland im Buch eher schlecht wegkommen. Viele sitzen in der Kneipe von Yilmaz und trinken und spielen. Die Arbeit dagegen machen die Frauen, so auch Fatma. Erst hat sie einen Putz-Job, später arbeitet sie in einer Schuhfabrik und als Fabrikarbeiterin bei Mercedes und gleichzeitig auf dem Feld. Hier erntet sie u.a. Spargel: „Nach meiner Schicht sammle ich alle Frauen vor ihrer Haustür ein, wir fahren zusammen nach Grefrath, verteilen uns wie Ameisen im Feld und stechen den goldenen Spargel aus seinem Versteck. Ich verstehe nicht so ganz, warum Deutschland diese Wurzelart so heilig ist, aber egal, Hauptsache, ich kann damit Geld verdienen.“ (Seite 55-56)
Sie muss auch arbeiten, um die Schulden ihres Mannes abzustottern und für ihre beiden Söhne, den 1979 geborenen Dinçer und den 1982 geborenen Özgür, sorgen. Auch die Care-Arbeit bleibt an ihr bzw. an den Frauen hängen. Mit der Schwiegermutter, der Schwägerin und weiteren ist es ein achtköpfiger Haushalt, den Fatma aufopferungsvoll versorgt und managt.
Das Buch zeigt in seinen Frauenperspektiven das Patriarchat kritisch auf. Auch Rassismus wird thematisiert. Der Alltagsrassismus aber auch die rassistische Gewalt. So heißt es etwa über die Zeit nach den tödlichen Brandanschlägen in Solingen und Mölln: „Die nächsten Nächte habe ich schlaflos am Fenster verbracht, jeder Schatten umzingelte meinen Körper mit einer neuen Angst.“ (Seite 125)
Die Mutter schuftet für ein besseres Leben für ihre Kinder, engt sie aber auch ein, in ihrer Rollen-Erwartung an diese. Dinçer versucht dem gerecht zu werden, und arbeitet seit dem achten Lebensjahr mit. Er soll Arbeiter werden und beginnt auch eine Ausbildung als Dreher. Das härtet den Träumer ab, aber eigentlich will er Literat werden, auch wenn das kein sicherer Beruf ist. Es kommt zum Bruch mit der Mutter als er anfängt seinen eigenen Träumen zu folgen. Trotz des Ausbruchs aus seinem Milieu, bleiben viele Prägungen zurück: „Wenn du als Gastarbeiterkind die gesamte Jugend damit verbracht hast, deinen Lehrern, den Vorarbeitern, Dozenten etwas zu beweisen, dann steckt diese Kerbe tief im Fleisch, und für den Rest des Lebens kämpfst du damit, die Wunde zu heilen, dich zu befreien.“ (Seite 191)

Das Buch ist auch ein literarische Liebeserklärung des Autors an seine Mutter. Es ist ein Buch aus migrantischer, teilweise weiblicher Perspektive über das Ankommen in Westdeutschland. Es ist individuell und steht doch auch stellvertretend für Millionen Biografien.
Besonders die poetische Sprache – der Autor schreibt auch Gedichte – ist schön.
Ein Lesetipp!

Dinçer Güçyeter: Unser Deutschlandmärchen, Berlin 2022.

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Buchkritik „33 Bögen und ein Teehaus“ von Mehrnousch Zaeri-Esfahani

Die 140 Seiten der autobiografischen Erzählung „33 Bögen und ein Teehaus“ von Mehrnousch Zaeri-Esfahani lesen sich schnell und gut. Die Autorin beschreibt darin ihr Aufwachsen im Iran, ihre Flucht und ihr Ankommen in Westdeutschland.
Geboren im Jahr 1974, wächst Zaeri-Esfahani in einer liberalen und wohlhabenden Familie in der Stadt Isfahan auf. Ihr Vater ist Arzt und ihre Mutter Krankenschwester.
Im Jahr 1979 wird der Schah gestürzt und sein Regime durch eine Theokratie ersetzt. Der Tugendterror der Mullahs setzt ein. Immer mehr wird verboten, selbst Frauengesang, Schach und Mensch-ärgere-Dich-nicht. Überall wachen die Pasderan (Religionswächter) über die Einhaltung der religiösen Verbote. Die Autorin schreibt: „Die Pasderan waren überall! Sie waren immer zu viert und tauchten wie aus dem Nichts auf. Wie Krokodile, die ungesehen unter der Wasseroberfläche lauern und dann, wenn sie ihrem Opfer nah genug sind, mit ihrem tödlichen Maul je zuschnappen.“ (Seite 33)
Seit dem Alter von sechs Jahren musste sie im Iran ein Kopftuch tragen und ist der Propaganda und den Schlägen im Schulunterricht ihrer Mädchenschule ausgeliefert.
Im Jahr 1980 bricht der Iran-Irak-Krieg aus, der bis 1988 andauert. Das Regime rekrutiert Jungen ab 12 Jahren als Kindersoldaten.
Zaeri-Esfahanis beschließt zu fliehen, um ihren ältesten Sohn vor diesem Schicksal zu schützen. Die sechsköpfige Familie aus den beiden Eltern und vier Kindern tarnt die Flucht als normale Reise.
Sie stranden in Istanbul. Von hier aus gelangen sie über ein DDR-Visum nach Ostberlin.
„Er [ihr Vater] erklärte mir, dass so ein Visum für uns Flüchtlinge wertvoller sei als ein Sechser im Lotto. Er sagte, dieses kleine Papier würde unser ganzes Leben verändern.“ (Seite 74)
Die DDR-Behörden ärgerten damals Westdeutschland damit, dass sie Flüchtlinge mit einem Visum kurz aufnahmen und dann in den Westen abschoben. So hatte es die Familie von Zaeri-Esfahani auch geplant. Ihre Flucht nach Westdeutschland ist damit auch ein Ergebnis des Ost-West-Konfliktes.
Zu Weihnachten 1985 treffen sie in Westberlin ein, werden nach Karlsruhe verschoben und landen schließlich in Heidelberg.
Hier versucht sich die kleine Mehrnousch an die neuen Gegebenheiten anzupassen: „Es galt, all die komischen Dinge zu verstehen, die die komischen Fremden in diesem komischen Land taten.“ (Seite 12)
Thema und die Kinder-Perspektive erinnern an Marjams Satrapis „Persepolis“. Es geht auch um Ausgrenzung und Rassismus, aber nicht nur.
Die Lektüre lohnt sich sehr. Allerdings hätte man gerne noch gelesen wie das Leben von Mehrnousch in der Bundesrepublik weiter verlaufen ist.

Mehrnousch Zaeri-Esfahani: 33 Bögen und ein Teehaus, Hamburg 2018.

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Buchkritik „Die rechte Mobilmachung“ von Patrick Stegemann und Sören Musyal

Fünf Jahre sind im Online-Zeitalter Jahrzehnte. Das 2020 erschienene Buch „Die rechte Mobilmachung. Wie radikale Netzaktivisten die Demokratie angreifen“ von Patrick Stegemann und Sören Musyal ist natürlich veraltet, denn es beschreibt eine Zeit vor Corona, vor der russischen Vollinvasion in der Ukraine, vor der Trump-Wiederwahl, vor dem Rechtsruck von Elon Musk und vor der Popularität von Tiktok im Westen.
Trotzdem hilft das Buch immer noch die digitalen Raum-Gewinne der extremen Rechten besser nachzuvollziehen. Denn schon vor fünf Jahren war der Erfolg der extremen Rechten unübersehbar:
„Die extreme Rechte ist heute weltweit in der Lage, über ihre Kernzielgruppen hinaus ihre Botschaften zu platzieren. Sie kann damit Wahlen beeinflussen, und sie kann mitbestimmen, worüber ganze Gesellschaften sprechen.“ (Seite 16)

Das Autoren-Duo zeichnet die Entwicklung der rechten Politisierung von Online-Subkulturen von Gamern nach. Dabei gehen sie auch auf die Incel-Subkultur und den Gamergate 2014 ein. Dieser war eine „gewaltvolle Art der Zensur“, als männliche Gamer versuchten eine Spiele-Entwicklerin und ihre Verteidiger*innen mit einem shitstorm zum Schweigen zu bringen.
Der Gamergate macht die extreme Rechte auf das Potenzial reaktionärer Gamer aufmerksam und sie stieß dazu, weil sie hier Kulturkampf-Potenzial witterte. Es entstand eine rechte „hochpolitisierte Ironiekultur“. Am Anfang vieler Radikalisierungsbiografien stand und steht nämlich ein destruktiver Humor, der sich hinter der Ironie zu verstecken versucht. In Wahrheit sind es aber oft menschenverachtende und extreme rechte Aussagen, die da durch Bilder oder Kommentare zum Vorschein kommen.
Es kam in den 2010er Jahren zu einer Annäherung von extrem rechten chan-Kulturen und organisierten Rechtsextremismus. In den weitgehend unmoderierten chan-Foren rechtsradikalisieren sich junge Männer und ziehen in den „digitalen Partisanenkampf“. Ein rechtsextremes Netzmilieu entstand, was sich im „Infokrieg“ sieht und „Trollterrorismus“ und „Memetic Warfare“ betreibt.
„Die einschlägigen Boards waren einst Orte, an denen sich anonyme Nutzer ihres Frauenhasses und Rassismus versicherten. Nun sind sie zu Foren geworden, in denen eine politische Agenda vorgetragen und verfolgt wird.“ (Seite 48-49)
Die Autoren schreiben bei der Online-Radikalisierung wahlweise von Rampe, Pipeline oder Radikalisierungspfad.
Politisches Trolling wird als Spiel getarnt bzw. ist wie ein Spiel aufgebaut. Je erfolgreicher man ist, desto mehr Anerkennung bekommt man. Eine „Gamifizierung der Politik“ findet statt, etwa im „Great Meme War“ von 2016. Rechte und rassistische Memes stellen dabei eine „Ästhetisierung menschenverachtender Politik“ dar.
Dabei harmonieren Memes grundsätzlich gut mit den rechten Parolen, weil sie einerseits einfache Feindbilder transportieren und sich andererseits hinter dem vermeintlichen Humor oder nicht-ganz-ernst-gemeint verstecken können, wenn es Kritik gibt.
Die extreme Rechte ist aber auch online eigentlich nur eine lautstarke Minderheit, die es allerdings aber schafft „Dominanz im Diskurs vor[zu]täuschen“ (Seite 80).

Demokratie-schädlicher Algorithmus
Der „Infokrieg“ ist auch ein Krieg der Emotionen, die die Infokrieger versuchen durch Trollen und Memes anzusprechen.
„Deswegen sind organisierte Hassattacken und Shitstorms nicht nur »normal« für die rechten Infokriegerinnen, sondern notwendig.“ (Seite 80-81) Besonders beliebt ist das „Negative Campaigning“, also das man politische Gegner*innen dämonisiert. Auch angewandt wird „Doxing“, das Veröffentlichen privater Daten, oder das Kapern von Hashtags.
Das grundsätzliche Problem ist, dass der Algorithmus vieler Plattformen von Zuspitzung und Polarisierung lebt und damit gilt: „Viralität ist Populismus“.
„In den vergangenen Jahren ist beides zusammengewachsen: eine politische extreme Rechte, die Zuspitzung und Spaltung will und auf Verschleierung setzt, und soziale Medien, die genau auf diese Art der Kommunikation befeuern.“ (Seite 121)
Um Menschen möglichst lange auf ihren Plattformen zu halten wird ihnen gezeigt was sie anspricht oder emotional extrem berührt. Da ein Algorithmus nichts mit Ethik zu tun hat, sind die Folgen egal. Die Autoren beschreiben im Buch an einer Stelle, wie ein Youtube-Algorithmus unabsichtlich zur Herausbildung einer pädophilen Struktur führte. Der Algorithmus erkannte dass einige Menschen aus ihrer pädophilen Neigung heraus gerne Videos mit jungen nackten oder wenig bekleideten Personen ansahen und zeigte ihnen immer mehr dieser Videos. In den Kommentarspalten zu besonders beliebten Videos fanden dann die Personen mit pädophilen Neigungen zueinander, bestärkten sich und tauschten Kontakte aus. So entstand aus einem Youtube-Algorithmus ein Pädophilen-Ring.

In der Szene etablieren sich auch rechte Influencer*innen, von denen mehrere im Buch porträtiert wurden. Die rechten Influencer*innen arbeiten auch stark mit einer Emotionalisierung:
„Die Aufgabe rechter Influencer*innen ist es, immer wieder an diese Gefühle der Gegnerschaft nach außen und Gemeinschaft nach innen zu appellieren: Der Feind, der bekämpft werden muss, und die eigene tragende Rolle dabei stehen fortwährend im Mittelpunkt.“ (Seite 81)

Rechte Trolle für Trump und AfD
Rechte Chan-Trolle unterstützten Trumps Wahl-Kampagne 2016, die AfD zur Bundestagswahl 2017 und andere rechte Parteien im Wahlkampf. Die rechte Online-Kultur ist zwar international, aber trotzdem gibt es manchmal nationale kulturelle Eigenheiten die eine 1:1-Übertragung verhindern. So war beispielsweise die Verwendung der, von rechts gekaperten, Symbolfigur „Pepe, der Frosch“ nicht auf den Wahlkampf in Frankreich übertragbar, weil hier Frösche eine spezifische Bedeutung haben.
Die Autoren schreiben von den „drei Dopings der AfD: Influencer*innen, Vorfeldorganisationen und Fakes“ (Seite 231).
Die rechte Trollarmee ist dabei eine Art digitaler Narrensaum der extremen Rechten, der aber nur bedingt kontrollierbar oder in eine Strategie rechter politischer Parteien eingebunden ist. Stegemann und Musyal resümieren: „Der Erfolg der AfD ist also nicht Ergebnis einer besonders klugen Medienstrategie. Die AfD ist schlicht Teil des rechten Infokrieges. Sie teilt die extreme Idee von Öffentlichkeit, die in klarer Opposition zur demokratischen Mehrheitsgesellschaft steht. Entscheidender Teil dieser Strategie ist es, die eigene Community von anderen Medien zu entfremden.“ (Seite 241)

Zwar ist inzwischen aus der Facebook-Partei AfD eine Tiktok-Partei geworden, trotzdem ist die Lektüre des Buches noch immer hilfreich um den Online-Siegeszug der extremen Rechten nachzuvollziehen.

Patrick Stegemann, Sören Musyal: Die rechte Mobilmachung. Wie radikale Netzaktivisten die Demokratie angreifen, Berlin 2020

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Buchkritik „Das Deutsche Demokratische Reich“ von Volker Weiß

Mit viel Gewinn habe ich das in diesem Jahr erschienene Buch „Das Deutsche Demokratische Reich“ von Volker Weiß gelesen. Der seltsam wirkende Titel verweist auf die Patchwork-Nostalgie der extremen Rechten, die sich je nach Bedarf sowohl auf verschiedene Aspekte der deutschen Geschichte beziehen.
Dabei geht es um etwas, was als ‚Resignifikation‘ bezeichnet wird. Darunter ist die Umschreibung der kollektiven Erinnerung zu verstehen. Weiß führt aus wie dieses Projekt mit dem zunehmenden Erfolg der extremen Rechten an Resonanzraum gewonnen hat:
„Das Projekt der »historisch-fiktionalen Gegenerzählung«, mit der die extreme Rechte seit Langem ihren Zugriff auf die Geschichte gestaltet, hat durch die erweiterten Resonanzräume der Strömung erheblich an Lautstärke hinzugewonnen.“ (Seite 8)
So ist eine Art rechter antikommunistische DDR-Nostalgie entstanden, die oft mit einer rechten Dekadenzkritik und dem Feindbild Westen einher geht.
Diese Tendenz führt auch in die Arme des russischen Nationalismus, dessen antiwestlichem Weltbild man sich immer stärker annähert. Dabei kommt es zu einem „wilden crossover“, auch zwischen Imperialismus und Antiimperialismus. Den russischen Imperialismus ignoriert man, den amerikanischen verdammt man. Russland lockt die deutsche Rechte dabei mit dem „Ostpreußen-Köder“, also der angeblichen Möglichkeit die Oblast Kaliningrad, das ehemalige Nord-Ostpreußen, zurückzubekommen.

Der Autor widmet sich auch den Versuch aus den Nazis Linke zu machen, um Schuld auf den politischen Gegner abzuwälzen. Eine Betrachtung, die auch im Musk-Weidel-Gespräch im Januar 2025 auftauchte, als Weidel die Nazis als „Kommunisten“ bezeichnete.
In diesem Zusammenhang spürt Weiß einem vorgeblichen Goebbels-Zitat nach, was scheinbar ein linkes Verständnis der Nazis belegt. Das Zitat entpuppt sich aber als verkürztes Zitat eines niedersächsischen NS-Nationalrevolutionärs.

Weiter geht Weiß darauf ein, dass schon der ‚konservative Revolutionär‘ Moeller van den Bruck (1876-1925) Begriffe neu besetzt hat, z.B. als er aus dem Sozialismus einen „Deutschen Sozialismus“ machte, der allerdings gar nicht sozialistisch war. Bereits in der Weimarer Republik versuchte also die extreme Rechte sich an einer Resignifikation. Gegen die starke Arbeiter*innen-Bewegung versuchte die Rechte sich Zeichen und Begriffe der Linken aneignen ohne ihr aber beizutreten. Denn im Gegensatz zur Linken waren soziale Gerechtigkeit und Egalitarismus nicht ihr Ziel. Die Rechte verstand ihren ‚Sozialismus‘ nur als Absage an eine Klientelpolitik, aber sie ließ die gesellschaftlichen Verhältnisse unangetastet.

Nach der Wende von 1989/90 kommt es zum Paradox einer antikommunistischen DDR-Nostalgie. Die extreme Rechte nimmt positiven Bezug auf antiliberale Traditionslinien der DDR. Es entsteht „der Osten der Rechten“, der allerdings sehr fiktional und widersprüchlich ist. Etwa wenn man sich gleichzeitig sowohl positiv auf die DDR-Kultur als auch auf die Bürgerrechtsbewegung bezieht. Oder wenn man einerseits gegen Angela Merkel ihre FDJ-Sozialisation anführt und andererseits die DDR-sozialisierte Bevölkerung durch die emotionale Ansprache eines kulturellen Erinnerungsraums versucht anzusprechen, z.B. in Bezug auf die populären Simson-Motorräder.
Die extreme Rechte versucht ‚ostdeutsch‘ als rechte Marke zu etablieren. Der Osten sei noch ‚rein‘, nämlich ohne Migration und Schuldkult.
Ähnliches passiert auch jenseits des Atlantik in der US-Rechten, die traditionell antikommunistisch und russlandfeindlich eingestellt war. Auch sie hat in Teilen mit Blick auf den Nationalismus und Traditionalismus des Putins-Regimes ein positives Russland-Bild entwickelt.
Gegen Ende des Buchs enthüllt der Autor dass sein Buchtitel aus einer Rede von Jürgen Elsässer in Jena am 3. Oktober 2023 stammt. In dieser macht er sich im Prinzip für eine Separation Ostdeutschlands als eine Art ‚Rassereinheitsreservat‘ und antiwestlicher Ostblock stark.
Im Verlauf der Lektüre wird immer klarer wie die extreme Rechte durch Umdeutung und Umschreibung der deutschen Geschichte versucht über eine Relativierung zur Revision zu gelangen.

Von dem eigenwilligen Titel sollte man sich nicht abschrecken lassen. Wer wissen will wie „ die extreme Rechte Geschichte und Demokratie zerstört“ – so der Untertitel – muss dieses neue und schlaue Buch von Volker Weiß lesen.

Volker Weiß: Das Deutsche Demokratische Reich. Wie die extreme Rechte Geschichte und Demokratie zerstört, Stuttgart 2025

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Sammelband zur Geschichte des Epplehaus in Tübingen erschienen

Im Februar 2025 ist dieser Sammelband erschienen:
Elias Raatz, Lucius Teidelbaum: Wir hol’n jetzt unser Haus! Über 50 Jahre Tübinger Jugendzentrum Epplehaus zwischen Hausbesetzung, Selbstverwaltung und Subkultur, Villingen-Schwenningen 2025
ISBN 978-3-98809-035-5

Meine Beiträge in dem Buch sind:

  • mit Elias Raatz: Vorwort, Seite 8-9
  • Ballettmeister, Hilfsbremser und Pfarrer. 1863-1972: Die ersten Jahre im Jugendzentrum, Seite 33
  • Das Epplehaus lebt weiter. 2001-2025: Das Epplehaus im 21. Jahrhundert, Seite 72-77
  • Trouble in Paradise. Seit 1972: Konflikte und Probleme in der Selbstverwaltung, Seite 78-82
  • Eine Schule der Basisdemokratie. Seit 1972: Station in der Sozialisierung junger Menschen, Seite 88-89
  • Das Epplehaus als Feindbild. Seit 1972: Rechte Angriffe und Anfeindungen gegen linkes Zentrum, Seite 90-92
  • mit Larissa Roth: „Auch mal ohne seitenlange Marxzitate“. Seit 2007: Linke Bildungsarbeit von „Input“, Seite 98-99
  • Alerta, alerta, antifascista! Antifaschismus und das Epplehaus, Seite 106-107
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Comic-Kritik „Die drei Leben der Hannah Arendt“ von Ken Krimstein

Die Graphic Novel „Die drei Leben der Hannah Arendt“ ist eine Comic-Biografie des US-Künstlers Ken Krimstein über Hannah Arendt (1906-1975). Sie ist 2018 im Original und 2019 auf Deutsch erschienen. Der Original-Titel lautete „The three escapes of Hannah Arendt“. Am Ende des Comics wird nochmal auf die fiktiven Anteile hingewiesen: „Diese Graphic Novel stellt keine Biographie Hannah Arendts im wissenschaftlichen Sinne dar. Es handelt sich um eine Interpretation ihres Lebens, eines biographische Fiktion mit textlich tradierten Anleihen aus ihrem Werk […].“ (Seite 237)
Der Zeichen-Stil ist schlicht und reduziert, ja fast skizzenhaft und Schwarzweiß bis auf die Kleidung Arendts, die in Grün gehalten ist.
Am Anfang wird die Kindheit und Jugend von Hannah Arendt im ostpreußischen Königsberg (heute: Kaliningrad) geschildert. Offenbar ist sie bereits als Jugendliche eine Art Genie, die sich selber Altgriechisch beibringt. Andererseits organisiert sie Streik an ihrer Schule, weswegen sie auch von der Schule fliegt.
Als Jüdin lernt sie von ihrer Mutter sich gegen Antisemitismus zur Wehr zu setzen.
Sie studiert in Marburg Philosophie und hat ihre bekannte Liaison mit dem doppelt so alten Professor Martin Heidegger (1889-1976).
Schließlich heiratet sie 1929 Günter Stern (1902-1992), Sohn eines Ehepaars deutsch-jüdischer Psychologen. Die Ehe scheiterte allerdings 1937.
Arendt war dann für die zionistische Bewegung aktiv und floh nach der Machtübergabe an die Nazis 1933 ins Exil in Paris. Wenig später folgt ihre Mutter. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Frankreich wird sie 1939 nach Gurs in Süd-Frankreich deportiert, anfangs eine Internierungslager für „feindliche Ausländer“ und später ein Konzentrationslager der Deutschen.
Sie flieht nach der Kapitulation Frankreichs und taucht unter. Sie schafft es in die USA zu gelangen, wo sie sich in New York niederlässt.
Hier wird sie Teil des jüdisch-liberalen Bürgertums und 1951 schließlich US-Bürgerin. Im Jahr 1951 erscheint auch ihr berühmtes Werk „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“.
Ihr Artikel-Serie über „Eichmann in Jerusalem“ 1961 sorgt für viel Kritik in ihrem jüdischen Umfeld und isoliert sie.
Der Comic gibt auch Teile ihrer philosophischen Gedanken und Sinnsuche wieder und wie sie sich von der Philosophie abwandte, weil diese Heideggers Überlaufen zu den Nazis nicht verhindert hatte.
Die Lektüre lohnt sich unbedingt, sowohl für historisch wie auch für Arendt-Interessierte!

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Buchkritik „Incels“ von Veronika Kracher

Mit einiger Verspätung habe ich das Buch „Incels. Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults“ von Veronika Kracher gelesen, was bereits 2020 erschienen ist und meines Wissens die erste ausführliche kritische Beschreibung der Incel-Bewegung auf Deutsch war.
Kracher erläutert am Buchanfang, was Incels sind: „Incels […] ist die Kurzform für »Involuntary Celibate«, also unfreiwillig im Zölibat Lebende. Es handelt sich um junge Männer, die der so genannte Blackpill-Ideologie anhängen, das nihilistischere Derivat der verschwörungstheoretischen und antifeministischen Redpill-Ideologie.
Die Redpill-Ideologie ist, kurz skizziert, eine maskulinistische Verschwörungsideologie, die besagt, dass der weiße, heterosexuelle und cisgeschlechtliche Mann inzwischen der große Verlierer unserer Zeit ist, in der die Welt vom Feminismus beherrscht wird, der wiederum eine jüdische Erfindung sei. Deswegen müsse sich der Mann auf ursprünglich männliche Werte zurückbesinnen und, da Männlichkeit sich für diese Redpiller über Abwertung von Weiblichkeit konstituiert, wo sie hingehören: in die Küche und ins Ehebett. Die Redpill-Ideologie ist die Ideologie narzisstisch gekränkter Männer, die panische Angst vor dem Verlust ihrer Hegemonie haben, die nun einmal auf der Unterdrückung und Ausbeutung anderer basiert.“
(Seite 11)

Die Autorin zeichnet die Entstehung und Radikalisierung dieser Bewegung nach. Tragischerweise wurde der Begriff ‚Incel‘ 1993 von einer queeren Frau eingeführt. Er sollte unfreiwillige Sexlose im Internet in Foren zusammen führen, um sich auszutauschen und zu unterstützen. Doch aus der gemischtgeschlechtlichen Selbsthilfe wurde ein männlicher „toxischer Kult“ (Kracher), der Frauen und „dem“ Feminismus die Schuld an der unfreiwilligen Enthaltsamkeit gab. Dahinter wurde von den Incels nicht selten eine Verschwörung ausfindig gemacht, z.B. des (‚jüdischen‘) Kulturmarxismus.
Grundlage dieser Entwicklung ist ein patriarchales Anspruchsdenken, wonach Frauen Männer zur Verfügung stehen hätten. Die Abweisung durch Frauen erzeugt daher eine narzistische Kränkung und Hass.
Obwohl es sich bei den Incels um eine, aus einer Online-Community entstandene, Bewegung oder Kult handelt, so ist es der Autorin wichtig darauf hinzuweisen, dass „der durchschnittliche Mann und der Incel ideologisch gar nichts so weit voneinander entfernt sind.“ (Seite 13)

Es entstand in den letzten Jahren eine eigene Subkultur, die u.a. über Memes kommuniziert und eine eigene Sprache entwickelt hat. So werden z.B. vermeintliche Alpha-Männer als „Chads“ und normschöne Frauen als „Stacys“ bezeichnet.
Mithilfe von teuren Seminaren so genannter ‚PickUp-Artists‘, die Manipulation und Übergriffigkeit lehren, oder mit Schönheits-OPs versucht man sich zu helfen.
Einige Incels greifen aber auch Frauen und Paare an, um sie zu ‚bestrafen‘. Einige wenige begingen sogar tödliche Amokläufe. Bis zum Erscheinen des Buchs 2020 gab es in den USA und Kanada über 50 Todesopfer durch misogyne Incel-Amokläufe. Auch wenn es die Taten Einzelner waren, so wurden sie durch die Incel-Online-Community angestachelt und in ihrem Frauenhass bestärkt. Frauen werden dort z.B. als „Femoids“ oder „Löcher“ bezeichnet, was eine Dehumanisierung zur Folge hat.
Diese Foren und Reddidt-Threads fungieren als verstärkende Echokammern für Frauenhass, Selbsthass und pathologisches Opferdasein. Mittel sind oft Zynismus, Fatalismus und ein Nihilismus bzw. Blackpill-Nihilismus. Zynismus und Nihilismus führen zu einer „moralischen Transgression“ („moralischen Grenzüberschreitung“). Oft anfangs noch ironisch gemeint, um „Normies“ (Normale) zu triggern, verfestigt sich die Verachtung für bestimmte Gruppen.

Amokläufer wie Eliot Rodger, der in der community zu den „Supreme Gentlemen“ gezählt wird, genießen Helden-Status. Doch Rodger ist kein Held, sondern ein Mörder. Er ermordete am 23. Mai 2014 sechs Menschen und verletzte weitere 14.
Für ihr Buch hat sich Kracher durch Rodgers 137 Seiten langes Manifest („My Twisted World“) gelesen und arbeitet Merkmale der Incel-Indentität heraus. Sie sieht bei ihm, wie bei anderen radikalisierten Incels, einerseits eine Sehnsucht nach Frauen und andererseits auch eine Ablehnung von Frauen. Mit Rückgriff auf die Psychoanalyse stellt sie bei vielen Incels eine gestörte Ich-Entwicklung fest.
Auch bei Klaus Theweleit und dem Modell des autoritären Charakters von Adorno und Horkheimer findet sie hilfreiche Ansätze zur Analyse der Incels.
Immer wieder betont sie, dass sich der Incel-Kult nicht im luftleeren Raum entwickelt hätte, sondern mit Patriarchat, Neoliberalismus und kapitalistische Entfremdung im Zusammenhang stehen würde.
Gegen den Selbsthass empfiehlt sie mehr Selbstliebe als Gegenmittel und ansonsten fordert sie: „Letztendlich ist der einzige konsequente Kampf gegen die Incel-Ideologie der Kampf für eine solidarische, egalitäre und von den Zwängen der patriarchalen Kapitalismus befreite Welt.“ (Seite 228)

Ich fand die Lektüre spannend und informativ. Manchmal, wenn sie der recherchierte Hass zu die Autorin zu sehr anstrengt hat, dann verwendete sie im Buch – verständlicherweise – einen ironischen bzw. sarkastischen Stil.
Mein größter Kritikpunkt ist das hässliche Cover, was mehrere Froschgesichter darstellen soll und auf die Altright-Ikone „Pepe der Frosch“ verweist.
Ein paar Fragen sind bei mir zurück geblieben. Etwa, ob das Zusammentreffen von Incels ausschließlich online stattfindet oder ob es auch Offline-Treffen gab?
Zwar erwähnt Kracher an einer Stelle die Bewunderung eines Teils der Incels für das IS-Kalifat, aber die Ähnlichkeit zum Hass auf Zärtlichkeit durch religiöse Tugendwächter hätte mich noch weiter interessiert. Ebenso erwähnt sie die Rolle von neuen sozialen Medien oder Mainstream-Pornografie, die falsche Bilder von Frauen und Sexualität erzeugen würden. Die durch Tinder und Co. verstärkte Oberflächlichkeit bzw. die damit verbundenen Schönheitsbilder als grundsätzliches Problem in der über-medialisierten Postmoderne hätten mich auch noch mehr interessiert.
Die Klage über den Verlust der ‚echten‘ Männlichkeit ist übrigens fester Bestandteil des neurechten Antiliberalismus, der dem gesellschaftspolitischen Liberalismus vorwirft alle alten Traditionen und Werte zu zerstören.

Die Lektüre ist durch die Zitate stellenweise anstrengend, aber wichtig.

Veronika Kracher: Incels. Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults, Mainz 2020

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Buchkritik „Mein Mann, der Kommunist“ von Philip Roth

Bisher hatte ich von Philip Roth (1933-2018) die drei Bücher „Nemesis“, „Verschwörung gegen Amerika“ und „Der menschliche Makel“ mit Genuß und Gewinn gelesen. Dazu kam nun ein viertes hinzu. Sein Buch „Mein Mann, der Kommunist“ war ein Bücherkisten-Fund.

Der 1998 erschienene Roman schildert das Schicksal des jüdischen Arbeiters, Radiostars und Kommunisten Ira Ringold. Erzählt wird es von dessen älteren Bruder Murry seinem ehemaligen Schüler Nathan Zuckerman, einem literarischen Alter Ego von Roth. Zuckerman kommt aus dem unteren Mittelschichts-Judentum an der Ostküste, welches gerade dabei ist sich aus den Einwanderervierteln heraus zu arbeiten.
Die Geschichte spielt als Rückblick größtenteils in der McCarthy-Ära der 1950er-Jahre. Der Körper-große Ira wird durch seine Verkörperung von Abraham Lincoln zum Schauspieler und schließlich zum Radio-Sprecher der Sendung „Frei und tapfer“.
Zuvor wurde er während des Zweiten Weltkriegs durch den Arbeiter Johnn O’Day zum Partei-Kommunismus bekehrt. Bald aber schon setzt in den USA die Jagd auf Kommunistinnen und vermeintliche Kommunistinnen ein. Es werden Listen mit Verdächtigen angelegt, die oft ihre Anstellung verlieren, und das „Komitee für unamerikanische Umtriebe“ führt Verhöre durch, deren Beurteilungen Karrieren beenden kann.
Dem Hauptprotagonisten Ira Ringold gelingt als „Iro Risin“ der Ausftieg zum Radio-Star. Gleichzeitig heiratet er mit Eve Frame, eine ältere ehemalige Stummfilm-Berühmtheit. Eve stammt selber aus einer jüdischen Familie, versucht das aber zu verheimlichen. Ihr antijüdischer Selbsthass führt zu einem Antisemitismus, der sich immer wieder impulsiv Bahn bricht. Drei ihrer Ehen sind gescheitert und ihr einziges Kind, ihre Tochter Sylphit, hält Eve in emotionalen Geiselhaft.
Gleichzeitig nehmen in Iras Leben die Widersprüche zu: Er ist Arbeiter, Idealist und Kommunist, führt gezwungenermaßen mit seiner Frau ein großbürgerliches Privatleben, in dem er aber eher ein Zuschauer ist. Ira ist ein Riese mit großen Händen, der in Newark, New Jersey, als Jude unter italienischen Arbeiterinnen aufgewachsen ist und musste sich in dieser rauen Umgebung im Wortsinne durchschlagen. Er passt nicht zu dem ehemaligen Hollywood-Starlette, einer „berühmte[n] Schönheit, die wie ein Teebeutel in aristokratische Arroganz getaucht ist […]“ (Seite 107). Vor allem Eves Tochter lehnt ihn ab. Der Konflikt mit seiner Frau und seiner Stieftochter spitzt sich zu und Ira stürzt sich in Affären. Es kommt 1951 zur Trennung. Eve rächt sich an Ira, indem sie den republikanischen Politiker Bryden Grant und seine Frau Katrina van Tassel Grant in ihrem Namen ein Buch mit dem Titel „Mein Mann, der Kommunist“ schreiben und im Jahr 1952 veröffentlichen lässt. Dieses Rufmord-Dokument stürzt Ira in den Abgrund. Das alles erfährt Nathan Zuckerman Jahrzehnte nach Iras Tod von dessen Bruder Murray Ringold. Auch er ist ein Opfer des grassierenden Antikommunismus, verliert zeitweise seinen Job als English-Lehrer und wird Staubsaugervertreter, um über die Runden zu kommen. Das Buch beinhaltet mit dem Porträt Iras ein Psychogramm eines Mannes, der ein Gewaltproblem hat, und der wütend ist, auch über erfahrenen Antisemitismus. Aber „Amerika war ein Paradies für zornige Juden.“ (Seite 204) So wird Ira Partei-gläubiger Kommunist Der 1950 ausgebrochene Koreakrieg und eine allgemeine Atomkriegsangst treiben ihn an, bis 1953/56 die kommunistische Utopie für viele US-Kommunistinnen implodiert als Stalins Verbrechen und sein Antisemitismus sichtbarer werden.

Der Roman ist ein lesenswertes Buch, was neben dem Psychogramm des Hauptprotagonisten auch ein Porträt der McCarthy-Ära 1946-56 bietet.

Philip Roth: Mein Mann, der Kommunist, Reinbek 2021

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