Buchkritik „Schnee“ von Orhan Pamuk


Im Jahr 2002 veröffentlichte der türkische Autor Orhan Pamuk seinen Roman „Schnee“. Vier Jahre später bekam er den Nobelpreis verliehen.
In dem Buch besucht der 42-jährige Dichter Ka die Stadz Kars in Ostanatolien. Ka entstammt einer wohlhabenden Istanbuler Familie und kehrt nach 12 Jahren im Exil in Deutschland in die Türkei zurück.
In Kars soll er für eine Zeitung über eine Serie von Selbstmorden unter jungen Frauen schreiben, die sich Selbstmord begingen, weil sie gezwungen wurden in der Universität das Kopftuch abzulegen.
Schnell stellt sich heraus das die jungen Frauen zwar islamistisch waren, aber auch unter den extrem patriarchalen Verhältnissen in ihren Familien litten. Das Kopftuch-Tragen war für tatsächlich sie eher eine Form von Selbstständigkeit.
Die Stadt Kars ist eine Grenzstadt und war 1877-1918 russisch. Im Buch werden die architektonischen Hinterlassenschaften Russlands ebenso beschrieben wie die der vertriebenen und ermordeten Armenier der Stadt. Damit rüttelt Pamuk an den Tabu des Völkermords an den Armenier*innen in der türkischen Gesellschaft.
Die Stadt ist nicht nur abgeschieden, sie wird durch heftigen Schneefall vollkommen abgeschnitten.
Im von der Außenwelt abgeschnittenen Kars kommt es zu einem kemalistischen Militärputsch, angeleitet durch einen Schauspieler, der sich mit einem Offizier verbündet hat. Der Putsch und die darauf folgenden Säuberungen mit hunderten Festnahmen gegen kurdische Nationalisten (PKK) und türkische Islamisten sollen deren bevorstehenden Wahlsieg verhindern. Neben dem Militär ist der „Nationale Nachrichtendienst“ an den Säuberungen beteiligt.
Der Dichter Ka wird in die Ereignisse verstrickt. Ursprünglich ist Ka ein Marxist, der aber schon länger eher unpolitisch geworden ist. In Kars entsteht bei ihm durch Naturbeobachtung eine Art Gottesliebe, weil er im Schnee Allah entdeckt haben will.
Durch seine Verbindungen zu den verschiedenen Parteien wird Ka in die Ereignisse hineingezogen.
Er selber will in Kars seine Jugendfreundin Ipek wieder treffen, die mit ihrem Vater und ihrer Schwester in Kars lebt. Tatsächlich beginnt er mit Ipek eine Affäre und versucht sie zu überreden ihn in sein Exil nach Frankfurt zu begleiten um dort mit ihm zusammen zu leben.
Gleichzeitig schreibt Ka inspiriert von den Ereignissen Gedichte.
Der Aufenthalt Kas in Kars ist kurz und der Militärputsch dauert nur drei Tage, kostet aber 29 Menschen das Leben.
Dieser Aufenthalt von Ka wird aus der Rück-Perspektive von einem Ich-Erzähler namens Orhan, dem Alter Ego des Autors, erzählt. Orhan ist ein Freund des Dichters Ka und versucht den Ereignissen im Jahr 1995 vier Jahre später nachzuspüren.
Zweiter Handlungsort neben Kars ist Frankfurt/Main, wo Ka vereinsamt als Dichter im Exil lebt.

Pamuk schildert in seinem Roman die Zustände in der Türkei anhand der türkisch/kurdischen Grenzstadt Kars wie in einer Schneekugel: Klein, übersichtlich und isoliert. Auch in der Türkei bekämpften sich damals Islamisten und Laizisten bzw. Kemalisten und das Militär putschte in der Angst vor einem Erfolg der Islamisten, die heute die autoritäre Erdogan-Regierung stellen. Auch die Konflikte in der Osttürkei/Westkurdistan werden am Beispiel von Kars dargestellt. Keine der Konflikt-Parteien wird dabei von Pamuk idealisiert oder sympathisch dargestellt.
Die Handlung im Roman ist stellenweise ironisch-humoristisch. So gibt es z.B. eine „Grenzstadtzeitung“ mit einer Auflage von 380 Exemplaren, die häufig schon Berichte über Ereignisse abdruckt, die (noch) gar stattgefunden haben.
Der Roman ist stellenweise sehr melancholisch gehalten, weil sein Hauptprotagonist auch eine Liebesleidgeschichte erlebt und seine Gefühlswetterwechsel ausführlich beschrieben werden. Dadurch bekommt der Roman manchmal unnötige Längen.
Insgesamt ist „Schnee“ ein hurmorvoller literarischer Mikrokosmos der Türkei, der sehr lesenswert ist.

Orhan Pamuk: Schnee, Frankfurt/Main, 5. Auflage Juli 2008.

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