Buchkritik „Rückkehr nach Reims“ von Didier Eribon

Das Buch „Rückkehr nach Reims“ von dem französischen Soziologen Didier Eribon ist bereits 2016 (im Original 2009) auf Deutsch erschienen.
Der Autor Didier Eribon stammt aus einer Arbeiter*innen-Familie in Reims. Die titelgebende ‚Rückkehr‘ ist daher eine Rückkehr zu den eigenen Wurzeln.
Eribon beschreibt seine Familie. Seine Großmutter war Analphabetin, sein Onkel lebte als Landstreicher und seine Mutter war ein uneheliches Kind. Sein Vater schuftete als Hilfsarbeiter von 14 bis 65 in der Fabrik und seine Mutter war anfangs Putz- und Waschfrau.
Der Autor geht relativ weit zurück in seiner Fabrikarbeiter-Familiengeschichte. Er beschreibt die Einschläge durch den Weltkrieg oder wie sich seine Großmutter als Dienstmädchen der Avancen der Ehemänner erwehren muss.
Er plädiert dafür Familie nicht statisch zu sehen, da das Ideal von der Vater-Mutter-Kinder-Familie schon immer von der Wirklichkeit durch Verwerfungen durcheinandergewirbelt wurde. Das zeigt er anschaulich an seiner eigenen Familie.
Eribon ist der erste Akademiker seine Familie und ihm gelingt Dank seiner Bildungs-Karriere der soziale Aufstieg. Gleichzeitig kommt es zu einer Abwendung von seinem proletarischen Herkunftsmilieu, verstärkt durch seine Homosexualität. Er flieht regelrecht aus Milieu und Familie. Mit seinem Aufstieg beginnt Eribon seine Herkunft als Arbeiterkind zu verleugnen.
Er selbst schreibt:
„Um mich selbst neu zu erfinden, musste ich mich zuallererst abgrenzen.“
(Seite 52)
Zwar wird Eribon im Zuge der linken Studierenden-Bewegung im Selbstverständnis ein Marxist bzw. Trotzkist, aber das Proletariat ist im linksakademischen Milieu nur eine sehr abstrakte Kategorie. Sie ist eher ein mythisches Objekt und wird nicht als ein handelndes Subjekt wahr genommen.
„Ich glorifizierte die Arbeiterklasse, um mich leichter von den realen Arbeitern abgrenzen zu können. Wenn ich Marx und Trotzki las, glaubte ich, Teil der Avantgarde zu sein; viel eher markierten meine Lektüren aber den Eintritt in die Welt der Privilegierten […].“
(Seite 81)
Eribon dagegen kennt die Arbeiter*innen persönlich, was ihn in einen Zwiespalt führt :
„Politisch stand ich auf der Seite der Arbeiter, verfluchte aber gleichzeitig meine Herkunft aus ihrer Welt. Dass ich mich auf der Seite des »Volkes« verortete, hätte sicher weit weniger heftige Gewissensbisse und Zweifel in mir ausgelöst, wenn dieses »Volk« nicht meine eigene Familie, das heißt meine Vergangenheit und damit auch meine Gegenwart, gewesen wäre.“
(Seite 65)
Als Soziologie kehrt er nach Reims zurück, um sich mit seiner Herkunft und dem proletarischen Milieu auseinanderzusetzen.

Eribon weist darauf hin dass im Bürgertum die Abgrenzung von der Arbeiterklasse, er schreibt stellenweise auch von „populären Klassen“, und das Herabschauen auf sie der Distinktion dienen. Dies geschieht auch über die so genannte Hochkultur:
„Wie oft konnte ich in meinem späteren Leben als »kultivierte Person« die Selbstzufriedenheit besichtigen, die Ausstellungen, Konzerte und Opern vielen ihren Besuchern bereiten. Dieses Überlegenheitsgefühl, das aus ihrem ewigen diskreten Lächeln ebenso spricht wie aus ihrer Körperhaltung, dem kennerhaften Jargon, dem ostentativen Wohlgefühl … In all diesen Dingen kommt die soziale Freude darüber zum Ausdruck, den kulturellen Konventionen zu entsprechen und zum privilegierten Kreis derer gehören, die sich darin gefallen, dass sie mit »Hochkultur« etwas anfangen können.“
(Seite 98)
Dieser Klassismus muss dem Bürgertum und der Elite gar nicht bewusst sein:
„Die Herrschenden merken nicht, dass ihre Welt nur einer partikularen, situierten Wahrheit entspricht (so wie ein Weißer sich nicht seines Weißseins und ein Heterosexueller sich nicht seiner Heterosexualität bewusst ist).“
(Seite 92)

Das Buch hat auch insofern eine starke politische Dimension, da die autochthone Arbeiter*innen-Klasse in Frankreich immer mehr rechts wählt.
Zuvor hatten Arbeiter*innen die früher starke „Kommunistische Partei Frankreichs“ gewählt, allerdings weniger aus einem Glauben an die Weltrevolution, sondern eher als eine Art ‚Vernunftkommunisten‘.
„Für Arbeiter und Leute aus armen Verhältnissen bestand das Linkssein vor allem darin, ganz pragmatisch das abzulehnen, worunter man im Alltag litt. Es ging um Protest, nicht um ein von globalen Perspektiven inspiriertes politisches Projekt.“
(Seite 38)
Doch die Wähler*innen der französischen Kommunist*innen wechseln zum extrem rechte „Front National“ (FN). Sie sind aber nicht offene, sondern eher verdeckte FN-Sympathisant*innen.
„Man könnte sagen, dass die Stimme für die Kommunisten eine positive Selbstaffirmation darstellt, die für den Front National eine negative. Der Bezug zu parteilichen Strukturen und Wortführern, zu einem kohärenten Parteiprogramm und zu dessen Übereinstimmung mit der eigenen Klassenidentität ist im ersten Fall sehr stark und sogar maßgeblich, im zweiten zweitrangig oder inexistent.“
(Seite 125)
Eribon erklärt sich die Hinwendung zum Nationalismus und Rassismus als Selbstaufwertung durch Abwertung „der Anderen“ und als eine „Art politischer Notwehr der unteren Schichten“

Gleichzeitig kritisiert er den „neokonservativen Diskurs der Linken“. Die linken Eliten hätten die Arbeiter*innen-Klasse verraten. Für sie und den Rest der Gesellschaft ist die Arbeiter*innen-Klasse zum Teil keine eigenständige Kategorie mehr.
Dabei ist die Arbeiterklasse nicht verschwunden. Sie ist nur zeitweise aus dem Diskurs verschwunden. Das Leugnen von Klassenkonflikten lässt diese jedoch noch lange nicht verschwinden.

Das Buch ist eine Mischung aus Autobiografie und soziologischen Essay. Manchmal ist es schade dass die Empirie fehlt. Dafür ist es gerade durch die persönlichen Bezüge des Autors spannend geschrieben und zeigt dass Wissenschaft erzählend und ganz und gar nicht trocken sein muss.

Didier Eribon: Rückkehr nach Reims, 2017.

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