Buchkritik: „Radio Sarajevo“ von Tijan Sila

Ich mag die Bücher von Tijan Sila, deswegen habe ich mich gefreut als ein guter Freund mir dessen neues Buch „Radio Sarajevo“ geschenkt hat.
Gerade die oft nach dem 24. Februar 2022 getätigten falsche Aussagen dass mit dem Ukraine-Krieg erstmals seit 1945 in Europa wieder Krieg herrsche, zeigen das der bosnische Bürgerkrieg bei vielen Menschen wieder in Vergessenheit geraten zu sein scheint. Von anderen, kleineren Kriegen und Konflikten in Europa (Nordirland, Transnistrien, Krajina, Kosovo, Kaukasus) ganz zu schweigen.
Silas Beschreibung ist aber keine kühle Konfliktbeschreibung sondern ein autobiografischer Rückblick. Denn Sila beschreibt seine eigenen Kinder-Kriegs-Erinnerungen, inklusive Kriegskindheits-Traumata.
Es geht konkret um die Belagerung der bosnischen Hauptstadt Sarajevo ab 1992 durch serbisch-nationalistische Truppen.
Der Krieg in Bosnien bricht im April 1994 aus und hatte sich den Erwachsenen schon länger angekündigt, wie der Autor in seiner Rückschau fest stellt. Trotzdem sind alle dann doch überrascht als der Krieg tatsächlich da war und er ging auch nicht schnell vorbei, sondern er hält bis Dezember 1995 an. Sarajevo wird für drei Jahre eine belagerte Stadt, in der der Autor bis Ende 1994 mit seiner Familie lebt.
Das ehemalige sozialistisch Jugoslawien zerfällt, oder wie es der Sila beschreibt:
„Die Geschichte ist über Jugoslawien hinweggefegt, als seien die Landesgrenzen nur eine Spur im Sand gewesen und das kommunistische Ethos mit Kreide auf Asphalt geschrieben.“ (Seite 41)
Scharfschützen und Granaten-Beschuss werden zum Alltag und machen diesen zum Hindernislauf.
Kriegsgeräusche nisten sich in den Ohren der Bevölkerung Sarajevos ein:
„Das Gewehrfeuer hallte ununterbrochen von den Frontlinien, ein Lärm, als würde es Bratpfannen regnen; Wölkchen berstender Flakpatronen bedeckten den Himmel wie Leopardenflecken.“ (Seite 61)
Trotzdem wird aus dem Krieg irgendwann eine Art von Alltag: Der Kriegsalltag. Mit der Zeit passt man sich an, es bleibt einem auch nichts anderes übrig. Sein Vater arbeitet für das Rote Kreuz und eine adventistische Organisation als Übersetzer. So erfährt man am Rande im Buch dass die Caritas Hilfsgüter in Sarajevo nur gegen Taufschein herausgegeben hat, also Nicht-Christ*innen gezielt benachteiligte. Seine Eltern sind als zwei Universitäts-Dozenten sowieso im Platten-Viertel eher Außenseiter, aber der Krieg trifft seine Akademiker-Eltern noch unvorbereiteter als Andere. So haben die beiden z.B. in ihrer Speisekammer Gesamtausgaben berühmter Schriftsteller statt Lebensmittel gelagert. Trotz ihrer akademischen Bildung beschreibt Sila wie ihn seine Eltern, vor allem der Vater, schlagen und wie diese Art der schwarzen Pädagogik fast überall in seinem Viertel angewandt wird. Bis zu dessen Tod verband ihn deswegen offenbar eine Art Hassliebe mit seinem Vater. Die Belagerung verursacht Unter- und Mangelernährung. So verbreitet sich Skorbut. Für Mehl oder Feuerholz werden auf dem Schwarzmarkt obszöne Preise verlangt. In die Schule, die nach einem halben Jahr Pause wieder los geht, müssen Schüler*innen Holzscheite als ‚Schulgeld‘ mitbringen.
Der Autor beschreibt wie er sich mit einer Straßenclique aus seinem Viertel herum treibt, von denen einige durch die Belagerung verletzt oder getötet werden, andere werden zu Klebstoffschnüfflern. Eine Zeit lang führt seine Clique einen Handel mit in Ruinen gefundenen Porno-Heften mit UN-Blauhelm-Soldaten.
Er beschreibt auch wie die organisierte Kriminalität sich im belagerten Sarajevo ausbreitete und kleine warlords sich etablieren.
Wie der Titel schon andeutet spielt Musik eine wichtige Rolle für den Autoren. Ein kleines Radio und die nötigen Batterien lassen ihn dem Alltagsfrust und -grauen entfliehen. Denn trotz aller oberflächlicher Gewöhnung bedeutet der Krieg Grauen.
„Ich fühlte, dass zu leben vor allem bedeutete, Grauen auszuhalten.“ (Seite 62)
Sila sieht zerfetzte Leichen und träumt nachts davon.
Ende 1994 beschließen seine Eltern endlich nach Deutschland zu fliehen. Heute ist der bosnische Geflüchtete ein Schriftsteller und Lehrer.
Das Buch ist kurz, lohnt sich aber, auch wegen seiner Kinder-Perspektive auf den Bosnien-Krieg.

Tijan Sila: Radio Sarajevo, München 2023

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