Buchkritik: „Dakhil – Inside Arabische Clans“ von Mohamed Ahmad Chahrour und Marcus Staiger

Es gibt Bücher, an denen einen vor allem das Wissen in ihrem Inneren interessiert. Das Buch „Inside Arabische Clans“ von Marcus Staiger und Mohamed Ahmad Chahrour gehört auf jeden Fall mit dazu. Die beiden Autoren melden mit ihrem Buch zu den als „Clan“ fremd definierten Großfamilien eine Korrektur des öffentlich erzeugten Bild an.

Im Jahr 2021 wurden 0,18% der Kriminalität dem Bereich „Clan-Kriminalität“ zugeordnet. Eigentlich handelt es sich also um ein Promille-Phänomen. Aber da im öffentlichen Diskurs viel über kriminelle Clan-Familien gesprochen wird, ist es ein politisches Thema. Während Rechte und auch große Teile der politischen Mitte das Thema rassistisch instrumentalisieren, kritisieren viele Linke diese rassistische Instrumentalisierung und erklären das Thema für quasi nicht existent. Ob es das Phänomen von kriminellen arabischen Familien nicht gibt, konnte der Rezensent vor der Lektüre nicht sagen. Grundsätzlich zeigt ja die Familien-Struktur einiger Mafia-Familien das so etwas durchaus existieren kann.

Ihr selbst gestelltes Ziel beschreibt das Autoren-Duo wie folgt: „Das Anliegen dieses Buches ist es, ein authentisches Porträt der in Deutschland lebenden Großfamilien zu liefern. Wir möchten mit unserer Arbeit die Persönlichkeiten hinter dem übertriebenen medialen Interesse zeigen. Ein Interesse, das zwischen Hype, Mythos und Hetze variiert.“ (Seite 19)

Zum Buch gibt es den Begleit-Podcast „Clanland“, der ziemlich populär war. Insgesamt hat das Duo 40 Interviews geführt. Etwas anstrengend bei der Lektüre ist dass sie den Clan-Begriff einerseits kritisieren, andererseits verwenden sie ihn stellenweise als normalen Begriff.

Geschichte der Mardallis im Libanon und ihrer Ausgrenzung in Deutschland
Im ersten Teil des Buches erzählen sie die Geschichte der Bevölkerungs- oder Volksgruppe der Mardalli nach. Die meisten verstehen sich als Kurd*innen, die aber aus dem Libanon stammen, arabischsprachig sind und meist der muslimischen Konfession der Schiit*innen angehören.
Diese Gruppe verfügt über eine zwei- und dreifache Vertreibungserfahrung, weil sie in den 1920ern und 1960ern aus der Türkei geflohen sind und innerhalb des Libanons. Ein Teil der Gruppe lebte zwischenzeitlich in den Elendsvierteln von Beirut. In den 1980er Jahren flohen sie vor dem Bürgerkrieg im Libanon nach Deutschland. Ihr Schicksal ist auch ein Ergebnis kolonialer Grenzziehungen.
Als die Gruppe in Deutschland ankam, rutschte sie kollektiv in die ungünstige juristische Situation nur Duldung bzw. Ketten-Duldung. In den 1980er Jahren wurden die Kinder der Familien in Flüchtlings-Klassen gesteckt, um sie von der einheimischen Bevölkerung zu separieren.
Ihre Kontakte mit einheimischen Deutschen beschränkten sich damals vor allem auf Behörden, was auch nicht gerade dafür sorgte, sich angekommen zu fühlen, und das war ja auch der Zweck. Es fand eine kollektive Ausgrenzung statt: „Die Leute waren als Flüchtlinge gebrandmarkt. Sie hatten die falschen Papiere, um an einem gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Sie hatten die falschen Adressen, die falschen Nachnamen, die falsche Sprache. Sie waren in einem Wartezimmer abgestellt, aus dem sie niemand mehr abholen wollte.“ (Seite 110)
Das Gefühl des ‚Gäste-Status‘ existiert bis heute: „Und irgendwann fingen wir an, uns an das Leben als Gast in Deutschland zu gewöhnen. Als Gast – denn wenn wir auf unsere Eltern hören, sind wir das bis heute. Das sagen sie uns immer wieder, und ich glaube, aus der Sicht vieler Deutscher sind wir das auch immer noch: Gäste.“ (Seite 70)
Dadurch entstand ein Widerspruch zwischen kapitalistischer Leistungsgesellschaft und Verbots-Bürokratie. Es kam zu Depressionen, vor allem bei den Männern, weil sie ihre traditionelle Ernährerrolle nicht erfüllen konnten.
Durch Arbeitsverbot und ungenügende Versorgung wird Kriminalität begünstigt. Es bildet sich Kriminalität bei manchen heraus, wofür von den Behörden und Medien aber alle in Sippenhaft genommen werden.
Von dem berühmten ‚Abrutschen auf die schiefe Bahn‘ sind vor allem Männer betroffen. Doch auch bei den kriminell gewordenen Männern verschwindet 80% der Kriminalität nach dem Jugendalter, scheint also stark von Adoleszenz beeinflusst zu sein.
In dem sehr interessanten Interview mit Helmuth Schweitzer benennt dieser die Frauen der Gemeinschaft auch deswegen als Hoffnungsträger.

Im Buch findet sich ein Interview-Zitat, was noch einmal den bundesdeutschen Integrations-Diskurs sehr treffend kritisiert: „Deutsch sein, wenn man nicht wirklich deutsch ist, kann ziemlich anstrengend sein. Eigentlich ist es fast unmöglich. Eigentlich gar nicht möglich. Die Frage, wo man denn „eigentlich“ herkommt, symbolisiert diese Unmöglichkeit. Wenn Deine Haare ein wenig zu schwarz sind, deine Augen ein wenig zu dunkel, dann kannst Du nicht wirklich deutsch sein. Das weiß man doch. Du bist halt Ausländerin, dann bleibst Du halt Ausländer. Doch auch hier gibt es noch einen Unterschied. Den Unterschied zwischen dem guten Ausländer und dem schlechten Ausländer, zwischen denjenigen, die sich integrieren wollen und nicht so sind wie die, und den anderen, die eben genauso sind. Das ist ziemlich vage formuliert und besagt überhaupt gar nichts, außer das Integration ein anderes Wort für „Ausländer raus“ ist – nämlich alles Ausländische raus aus den Ausländern. Der gute Ausländer hat das nämlich geschafft. Er hat den Ausländer in sich rausgeschmissen und sich vollkommen angepasst.“ (Seite 409)

Die angeblichen ‚Clans‘ und ihr Zerrspiegel
Auf einer Sach-Ebene arbeiten Chahrour und Staiger heraus, dass bundesweit keine verbindliche Definition von Clan-Kriminalität existiert. Juristisch ist es auch höchst fragwürdig, da Familien nicht als „kriminelle Vereinigung“ definiert werden können.
Der diffuse Clan-Begriff in Medien und bei Behörden, das zeigen Staiger und Chahrour, beruht auf Pauschalisierungen und Generalisierungen. Menschen mit demselben Familien-Namen werden Generalverdacht. Verwandtschaftsverhältnisse und scheinbare Verwandtschaftsverhältnisse werden mit Kriminalitäts-Verdächtigungen verknüpft. Eine Familie, also ein ‚Clan‘, wird mit einer Verbrecherbande gleich gesetzt.
In dem Buch wird aus einer Schulungs-Broschüre der Essener Polizei zitiert: „Auf eine stetige Abgrenzung zwischen Clan-Mitgliedern, die kriminell in Erscheinung getreten sind, und solchen, die es nicht sind, muss an dieser Stelle verzichtet werden. Zum einen, weil grundlegende Denkmuster häufig auch bei Familienmitgliedern verankert sind, die nicht kriminell auffällig sind, und zum anderen, weil auch bei Kenntnis über Kriminalität einzelner Familienmitglieder der Rest schweigt. “ (Seite 234)

Der Begriff ‚Clan‘ taugt nicht zur Analyse, da er konstruiert wurde. Arabische Großfamilien wurden so zu (‚kriminellen‘) Clans gemacht. Nichtsdestotrotz gibt es in der benannten Gemeinschaft auch Kriminalität.
Verbrechen wird von den beiden Autoren allgemein wie folgt erklärt: „Unserer Ansicht nach sind Verbrechen ein Ausdruck der kapitalistischen Zwangsverhältnisse in brutaler Offenheit. Unterdrückungsverhältnisse ohne den Deckmantel der bürgerlichen Gesetzgebung.“ (Seite 296)
Allerdings, darauf weisen die Autoren hin, werden im Diskurs organisierte und nicht-organisierte Kriminalität vermischt. Insgesamt wurden, laut Buch 8% der organisierten Kriminalität, einer „ethnisch abgeschotteten Subkultur“ zugerechnet. D.h. zum Beispiel Motorrad-Banden stellen eine weitaus wichtigere Gruppe im Bereich organisierte Kriminalität dar.

Im Buch wird auch die Verantwortung der Medien thematisiert, die den Clan-Begriff popularisiert haben. Das Framing bestimmter Großfamilien als „kriminelle Clans“ bringt Quote.
Die Bilder von den Clans sickern auch in die Popkultur (z.B. in die Serie „4 Blocks“) ein. Es kommt zu einer Dialektik von Fiktion und Realität. Die Fremdzuschreibung des dargestellten Kriminellen wird ein Rollen-Modell, was manche annehmen.
Tatsächlich kriminelle oder gewaltbereite Mitglieder mancher Familien wurden im Straßenrap wie Staiger aufzeigt für Streitereien und Street Credibility von Rappern quasi ‚angeworben‘.

Sehr schön zeigen die beiden auch den Charakter des Zerrbildes vor den Familien als Projektionsfläche für eigene (verbotene) Wünsche auf: „Insofern ist diese »archaische Familienstruktur«, als die sie oft bezeichnet wird, die ideale Projektionsfläche für eine scheinbar aufgeklärte Gesellschaft, die diese anachronistischen Verhältnisse zugleich verachtet und auf eine ganz verrückte Art in ihrer eigenen Lebenswelt vermisst.“ (Seite 302)

Die starke mediale Präsenz verursacht ein gestörtes Sicherheitsgefühl der deutschen Mehrheitsbevölkerung. Es kommt zu Reaktionen aus der Politik, die sich davon eine positive Resonanz bei Wahlen verspricht. Ergebnis sind z.B. häufige Razzien in Shisha-Bars, die damit als kriminelle Orte markiert werden. Wozu das im schlimmsten Fall führt, hat der Amokläufer von Hanau am 19. Februar 2020 gezeigt.

Fazit: verzerrte Perspektive erzeugt falsche Bilder
Die als „Clans“ fremd definierten deutsch-libanesischen Groß-Familien sind keine kriminellen Netzwerke mit tausenden Angehörigen wie italienische Mafia-Familien, die weitaus kleiner sind. Die Zuordnung geschieht über Herkunft und Nachnamen von außen und ist konstruiert.
Es gibt auch Großfamilien mit kriminellen Mitgliedern, aber diese Gruppen sind weitaus kleiner. Die Zuordnung per Herkunft oder Nachname entspringt einer rassistischen Fehleinschätzung und hat Diskriminierung zur Folge.

Der Autor Markus Staiger geht einem manchmal mit seiner cooler-Mann-Masche auf die Nerven. Zur Selbstkritik scheint er auch nicht fähig zu sein. Denn Staiger erwähnt nirgendwo dass er 2014 in seinem Roman „Die Hoffnung ist ein Hundesohn“ das von ihm bei anderen kritisierte Klischee-Bild der kriminellen Araber undifferenziert selber verwendet.

Etwas anstrengend ist auch das Chahrour den Traditionalismus, z.B. religiöse arrangierte Ehen, seiner Gruppe stark verteidigt bzw. entschuldigt.

Leider enthält das Buch auch deutlich israelfeindliche Tendenzen. So wird etwa behauptet Israel praktiziere eine Apartheid System gegenüber den Araber*innen. Zur Vertreibung fast aller arabischen Juden und Jüdinnen aus den mehrheitlich muslimischen und arabischen Ländern findet sich dagegen kein Wort.

Wer über so etwas hinweg sehen kann, wird auch noch mit einem sehr anstrengenden Schreib-Stil und schreckliche Textsetzung (z.B. bei den Zeilenumbrüchen) konfrontiert. Im Kern enthält das Buch eigentlich eine spannende Gegendarstellung zu den verzerrten medialen Diskursen und dem Rassismus der Behörden.
Dabei bieten die beiden Autoren keine einfache Antworten an. Rassismus und Ausgrenzung werden als wichtige Faktoren benannt, aber sie werden nicht monokausal für die Kriminalität einer Minderheit der Minderheit gesetzt.
Gerne hätte man sich noch mehr zu den Männlichkeits-Rollenbildern gewünscht, da sie vermutlich ein weiterer wichtiger Faktor bei den Gesetzes-Verstößen mancher Familien-Mitglieder sind.

Exkurs des Rezensenten
Interessant wäre mal zu schauen ob mit dem Begriff der Clan-Kriminalität nicht eine modernisierte Variante des Rassismus gegen die Roma-Minderheiten (Antiziganismus) durch die Behörden darstellt. Die Minderheit wurde ja auch jahrzehntelang gesondert polizeilich beobachtet und erfasst („Zigeuner-Akten“), nur auf Grund eines Kriminalitäts-Vorwurf gegen ganze Familien oder die gesamte Ethnie.

Marcus Staiger, Mohamed Ahmad Chahrour: Dakhil – Inside Arabische Clans, Wien 2022

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