Buchkritik „Altes Land“ von Dörte Hansen

Das Buch „Altes Land“ der Schriftstellerin Dörte Hansen hat viel Lob erfahren – zu Recht! Die Handlung beinhaltet vor allem eine Familien-Geschichte, die über mehrere Generationen abläuft. Im Prinzip, ist es auch die Geschichte einer ‚Misch-Ehe‘. Hildegard von Famcke, später Hildegard Jacobi, ist eine gegen Kriegsende aus Ostpreußen geflohene Adelsangehörige, die es in das titelgebende ‚Alte Land‘, eine traditionelle Obstanbau-Region vor den Toren Hamburgs, verschlägt. Die ehemalige Adelige ist durch die Flucht traumatisiert und sozial degradiert. Die Ost-Flüchtlinge galten bei ihrer Ankunft bei vielen westdeutschen Einheimischen oft nur als „Polacken“ und man verbot den eigenen Kindern mit den „Polackenkindern“ zu spielen.
Hildegard von Famcke wird in einem Reet-gedeckten Bauernhaus zwangseinquartiert und geht mit dem Sohn der Hausherrin eine Beziehung, eine ‚Mischehe‘ ein. Damals gab es tiefe kulturelle Gräben zwischen den ostelbischen Geflüchteten und den einheimischen Plattdeutsch-sprechenden Bauern und Bäuerinnen. Die Beziehung zerbricht, aber die gemeinsame Tochter Vera, bleibt zurück und wächst beim Vater auf. Die Mutter heiratet erneut und fast standesgemäß in das gehobenere Hamburger Bürgertum ein.
Vera Eckhoff wächst bei ihrem Vater auf und wird eine selbstständige Frau, die nie dauerhaft liiert ist. Von Beruf ist sie Zahnärztin und außerdem frönt sie in ihrer freien Zeit der Jagd-Leidenschaft.
Das zweite Kind von Hildegard Jacobi ist Marlene, die den Physikprofessor Enno Hove ehelicht. Deren Tochter, Anne Hove, wiederum sucht nach einem abrupten Beziehungsende mit ihrem Sohn Leo Zuflucht im ‚Alten Land‘ bei ihrer Tante.
Damit entflieht sie auch dem ‚Kulturkampf‘ mit den Müttern von Hamburg-Ottensen – was in etwa die Entsprechung zu Berlin – Prenzlauer Berg sein dürfte: „Sie […] reihte sich ein in den Treck der Ottenser Vollwert-Mütter, die jeden Tag aus ihren Altbauwohnungen strömten, um ihren Nachwuchs zu lüften, die aus dem Bio-Supermarkt im Netz des Testsieger-Buggys, den Kaffeebecher in der Hand und im Fußsack aus reiner Schafwolle ein kleines, das irgendetwas Durchgespeicheltes aus Vollkorn in der Hand hielt.“ (Seite 24)
Diese Schicht wird von Hansen in ihrem Roman immer wieder sehr humorvoll dargestellt:
„Die Kinder, die in ihre Kurse kamen, konnten nichts dafür, dass sie Clara-Feline oder Nepomuk hießen hießen, dass ihre Eltern sie wie Preispokale durch die Straßen von Ottensen trugen und von einer Frühförderungsmaßnahme zur nächsten schleppten.“ (Seite 50)
Doch Anne ist anders als das Blankeneser Bio-Bürgertum: „Die Familienstillleben in den Cafes und Parks von Hamburg-Ottensen zeigten Anne, was sie nicht waren: ein fest verschnürtes Paket, Vater-Mutter-Kind, verwoben zu einem stabilen Familienstoff.“ (Seite 70)
„Der leicht verwahrloste Hobo-Look ihrer, der sich auch mit seht teuren Klamotten gut herstellen ließ, war für die Akademiker-Eltern in Hamburg-Ottensen ein Ausdruck ihres Erziehungsstils. Unangepasste und kreativ, wild und widerspenstig, so liebten sie ihre Töchter und Söhne. Eine solide Kruste Dreck an Gummistiefeln und Fingernägeln machte den Look erst perfekt. Das Letzte, was sie wollten, war ein adrettes, artiges Kind.“ (Seite 138)
Durch die beiden neuen Mitbewohner kommt Leben in das alte Bauernhaus und das einsame Leben von Vera Eckhoff wird durcheinander gewirbelt. Die harte Jägerin taut aber, besonders was Leo angeht, nach und nach auf. Zugleich nähert sie sich Heinrich Lührs, einem Nachbar und Witwer immer mehr an.
Anne Hove, die als Musiklehrerin arbeitet, aber Schreinerin gelernt hat, bringt währenddessen das Haus auf Vordermann bzw. Vorderfrau.

Doch das Großstadt-geplagte Hamburger Bürgertum hat ein Auge auf das ‚Alte Land‘ geworfen, wo die Welt scheinbar noch in Ordnung ist. Finanzkräftige Hamburger*innen beginnen alte Bauern-Häuser aufzukaufen und zu renovieren: „Diese verspannten Großstadt-Elsen mit ihren Sinnkrisen quengelten um marode Reetdachhäuser wie ihre Töchter früher um ein Pony. Es war so süß!“ (Seite 92-93) So wird das ‚Alte Land‘ erneut zum Ziel von Migration: „Alles, was dann noch kam, die Ausgebombten, Weggejagten, Großstadtmüden, die Landlosen und Heimatsucher, waren nur Flugsand und angespülter Schaum.“ (Seite 169-70) Dabei erleben die touristisch motivierten Großstadt-Teilzeitflüchtlinge nur das, was sie in ihren Landlust-Lesezirkeln über das Land ohnehin zu wissen glauben: „Die Touristen fuhren zurück in ihre Mietwohnungen und Reihenhäusern, und ihr hübsches Bild vom Landleben hatte nicht eine Schramme abgekriegt. Ein Leben in Kalenderbildern, und alles so gesund, sie kamen immer wieder.“ (Seite 153-54) Als neuzugezogener Landromantiker tritt im Roman der Journalist Burkhard Weißwerth auf. Weißwerth ist jemand, der die Einheimischen im ‚Alten Land‘ für die Landromantik seiner Leser*innen instrumentalisiert. Irgendwann realisiert auch Weißwerth, dass das Landleben kein lebendig gewordener Manufactum-Katalog ist, und er plant seinen Rückzug nach Hamburg.
Die Retro-Nostalgie-Welle kommt von außen, denn die alten Marsch-Familien haben viele Modernisierungen angenommen, bis hin zur plattdeutschen Sprache, was manche bedauern: „Und sie vermissten ihre alte Sprache, die sie mit ihren Kindern nicht gesprochen hatten, weil sie zu sehr nach Stall und Land geklungen hatte und nach Dummheit.
Manche versuchten es jetzt wiedergutzumachen, sie brachten ihren Enkelkindern ein paar Brocken Plattdeutsch bei. Als könnten sie die Sprache, die sie sterben lassen wollten, jetzt noch retten mit ein paar Wörtern, ein paar Liedern, als wäre es nicht längst zu spät.“
(Seite 236)
Das Buch beinhaltet übrigens auch ein paar Sätze in Platt.
Währenddessen hadert Marlene mit der Beziehung zu ihrer Mutter Hildegard Jacobi, die ihr immer unbekannter erscheint: „Eine Mutter wie ein unbekannter Kontinent, die Tochter ohne Kompass ausgesetzt, ohne Karten, in einem Land mit tiefen Schluchten, in dem die Erde bebte und wilde Tiere lauerten.“ (Seite 177)

Der Roman ist gut geschrieben. Hansen kann einfach gut formulieren, etwa wenn sie schreibt: „Anfang September wurden die Tage blank, der Himmel trug ein ernstes Blau, es schien ein Räuspern in der Luft zu liegen, als plante jemand seine Abschiedsrede.“ (Seite 284)

Der Roman ist humorvoll und sanft zugleich. Es geht um alte Ungerechtigkeiten und neue Heilungen. Heimlicher Protagonist ist auch das Haus im ‚Alten Land‘, in dem Vera und ihre Nichte sowie deren Sohn wohnen. In dem Buch bekommt das Haus teilweise eine Art eigenständigen Charakter – ohne dass der Roman dabei ins magisch-fiktive abgleitet.

Die Lektüre lohnt sich auf jeden Fall!

Dörte Hansen: Altes Land, München 28. Auflage 2015.

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