Buchkritik: „Der Abtrünnige“ von Erol Ünal

Die Literatur von Aussteiger*innen aus der extrem rechten Szene dürfte inzwischen einige Regalmeter füllen. Aber das 2021 erschienene Buch „Der Abtrünnige“ von Erol Ünal ist etwas anders. Darin schaut der 22-jährige Autor zwar auch kritisch auf das Aufwachsen in einer extrem rechten Szene in Deutschland zurück, aber es ist nicht eine deutschnationale, sondern eine türkischnationale. Im Untertitel heiß das Buch nämlich „15 Jahre in Moscheegemeinden. Meine Einblicke in eine Welt von Fundamentalisten und Rechtsextremen über Radikale bis Sufis“.

Als Junge bei den „Grauen Wölfen“
Ünal ist in der Stadt Esslingen in einer Familie aufgewachsen, die zu der türkisch-ultranationalistischen Bewegung der „Grauen Wölfe“ („Bokurtlar“) gehört, die sich auch „Idealisten“ („Ülkülcer“) nennen. Deswegen besuchte er schon als kleines Kind einen Verein bzw. die zugehörige Moschee der Bewegung.
Er berichtet wie die „Grauen Wölfe“ Jugendliche aus der türkischen community in Deutschland rekrutieren:
„Die Jugendarbeit ist keinesfalls zu unterschätzen. Mit den bereits genannten Ausflügen, der Fußballmannschaft und weiteren Aktivitäten werden Kinder und Jugendliche in den Idealistenverein hineingezogen.“ (Seite 43)
Eine wichtige Basis ist dabei ein Minderwertigkeitsgefühl, welches auch durch den Rassismus der Mehrheitsgesellschaft verursacht wird:
„Ob in der Türkei oder in Deutschland, das Minderwertigkeitsgefühl bildet das Fundament der Grauen Wölfe und der Erdoğan-Anhänger.“ (Seite 21)
Als Reaktion darauf kommt es zu einer nationalistischen oder Selbstüberhöhung bzw. „religiöse[n] Selbstbeweihräucherung“.
Die deutsche Mehrheitsgesellschaft weiß allgemein recht wenig über die „Grauen Wölfe“, z.B. über die Größe ihrer wichtigsten Organisation, der „Türk Federasyon“:
„Der „Türk Federasyon“ unterstehen heute cirka 160 Moscheevereine mit 7000 Mitgliedern. Für den Vergleich: Das sind ungefähr so viele Mitgleder wie die NPD sie Stand 2019 hat.“ (Seite 41)

Als Jugendlicher bei islamistischen Sekten
Später wurden Ünal und sein junger Bruder für Korankurse zu einer islamistischen Sekte geschickt. Dabei sind türkische Ultranationalisten und Islamisten trotz Gemeinsamkeiten konkurrierende Bewegungen:
„Die Islamisten und türkischen Nationalisten haben viele Gemeinsamkeiten, die gegen den gemeinsamen Feind oftmals kooperierten. Dennoch existiert ein Spalt zwischen beiden Lagern; während die Islamisten die Nationalisten beschuldigen, Papiermuslime zu sein, werfen die Nationalisten den Islamisten die Leugnung der türkischen Identität vor und behaupten, sie seien arabischer als die Araber.“ (Seite 56)
Ünal verinnerlichte das islamistische Identitäts-Angebot und wird ein ultrakonservativer Muslim. Dreh- und Angelpunkt ist dabei die Moschee:
„Eine Hinterhofmoschee in Deutschland ist daher nicht einfach nur eine Moschee, in der gebetet wird. Sie ist eine eigene Welt. Hat man sich einmal an die Welt der Hinterhofmoschee angepasst, geht man zum Haareschneiden, zum Essen, zum Einkaufen und auch zur Unterhaltung in die Moschee. Eine Parallelgesellschaft, die das Notwendige eines Zusammenlebens abdeckt.“ (Seite 43)
Die Hinwendung zum Islamismus stört nachhaltig sein Frauenbild, wie Ünal rückblickend fest stellt:
„Die jahrelangen Eintrichterungen bringen streng konservative Menschen zu der Auffassung, dass ein Mann eine Frau letztendlich nur als Sexobjekt betrachten könne und umgekehrt. Die Individualität hat in dieser frommen Welt keinen Platz.“ (Seite 86)
Die Angst vor Frauen führt auch zu einer rigiden Geschlechtertrennung, nur bei DITIB und den „Grauen Wölfe“ gibt es keine Geschlechtertrennung.

Im Grunde handelt es sich bei den im Buch beschriebenen islamistischen Gruppen um autoritäre Sekten.
Ünal ‚durchwandert‘ mehrere Gruppen. Diese sind dem deutschen Leser / der Leserin ohne Sprach- und Kulturkenntnisse zum Teil unbekannt, genauso wie die zugehörigen Netzwerke. Einige gehen auf alte Sufi-Orden zurück, wie auf den im 14. Jahrhundert gegründeten Sufi-Orden der Nakschibandi. Zum Teil tarnten sich diese Orden in Reaktion auf Atatürks Zwangssäkularisation Anfang der 1920er Jahre. Dem Nakschibandi-Orden entstammt zum Beispiel die Gruppe der Süleymanci, die auch im Buch beschrieben wird, genauso wie die Menzilci, die eng mit der autoritären Regierungspartei AKP verwoben sind. Auch die Kaplanis bzw. die Gruppe „Kalifatsstaat“ und die „Islamische Gemeinschaft Millî Görüş“ (IGMG) werden im Buch kritisch beschrieben, ebenso wie die Gülen-Bewegung bzw. Gülenci. Zu der Gülen-Bewegung schreibt der Autor:
„Nach meinen Einschätzungen ist die Gülen-Gemeinde eine gefährliche Sekte, die in der Öffentlichkeit ein friedliches Bild präsentiert, insgeheim jedoch eine Agenda vorantreibt, die weder etwas mit freiheitlichen noch demokratischen Werten gemein hat.“ (Seite 195)
In der Türkei unterwanderten AnhängerInnen der Gülen-Bewegung die Polizei und verbündeten sich mit der AKP gegen die KemalistInnen. Zeitweise stellten Gülencis 1/5 aller AKP-Abgeordneten. Nach dem Putschversuch von 2016 kam es jedoch zum Bruch zwischen AKP und Gülen-Bewegung.
Ünal beschreibt auch die 1924 gegründete Religions-Behörde Diyanet bzw. deren Ableger DITIB in Deutschland. Dieser vertritt 900 türkisch-muslimischen Gemeinden in Deutschland.
Unter Erdogan wurde die ursprünglich kemalistisch kontrollierte Institution immer mehr islamisiert.

Fazit: eine unbekannte Welt wird geschildert
Gerade die Darstellung der islamistischen Sekten ist die Darstellung einer unbekannten Welt. Ünal erläutert z.B. wie er die Gruppen auch an Hand äußerer Merkmale der Männer identifizieren kann. So liegt der Unterschied manchmal sogar im Schnauzer. Die Männer der einen Gruppe tragen einen mondsichelförmigen Schnurrbart und die anderen einen mandelförmigen Schnauzer.
Das alle Gruppen unterschiedliche Halal-Lebensmittelmarken haben, ist für Uneingeweihte ebenso wenig nicht bekannt.

Doch wie wird aus dem jungen Islamisten aus einer Bozkurtlar-Familie eigentlich ein linker Agnostiker? Die Gezi-Proteste 2013 in Istanbul brachten ihn zum Zweifeln ebenso wie die Schwierigkeiten als pubertierender junger Mann die sexualfeindlichen Regeln ein- bzw. durchzuhalten. Sein schlechtes Gewissen darüber quälte den Autoren.
Manche spirituellen Lehrer bzw. Lehren hatten ihn auch bereits in seiner ultra-religiösen Phase nicht überzeugt. Außerdem berichtet er auch von Misshandlungen durch die Lehrer.

Das Buch ist sehr spannend, weil es eine Parallelgesellschaft schildert, über die man ohne kulturellen und Sprach-Zugang kaum etwas erfährt. Der Begriff der Parallelgesellschaft scheint einem nach der Buch-Lektüre treffend zu sein, auch wenn der Begriff gerne rassistisch instrumentalisiert wird. Dabei geht es im Buch aber gar nicht um „die Türken“, sondern um bestimmte Bereiche der deutsch-türkischen community, außerdem wird der Rassismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft durchaus erwähnt.
Etwas irritierend ist, dass das Thema Queerfeindlichkeit fehlt, möglicherweise weil es komplett tabuisiert ist.
Das Buch sollte unbedingt von vielen Nicht-Informierten zu dem Thema gelesen werde.

Erol Ünal: Der Abtrünnige. 15 Jahre in Moscheegemeinden. Meine Einblicke in eine Welt von Fundamentalisten und Rechtsextremen über Radikale bis Sufis“, Frankfurt/Main 2. Auflage 2021.

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