Die 2021 erschienene Autobiografie „Unter Palmen aus Stahl“ von Dominic Bloh ist das Selbstzeugnis eines ehemaligen Obdachlosen. Davon gibt es inzwischen einige, so dass man nicht mehr nur auf investigative Journalist*innen angewiesen ist, die Obdachlosigkeit simulieren, um darüber schreiben zu können.
schwierige Jugend
Bloh wächst in einer Familie auf, die den „Zeugen Jehovas“ angehört. Die haben ohnehin sehr einengende Regeln und gleichzeitig erfährt er auch Gewalt durch einen Partner seiner Mutter. Die Mutter trennt sich von dem Partner und Bloh lebt mit einer psychisch kranken Mutter in Hamburg. Dann zieht er mit seiner Mutter 2003 von Hamburg nach Vöhringen. Hier muss er sich als Großstadt-Junge erst integrieren. Über Sport findet er Zugang. Seine Vorlieben sind Hiphop und Basketball („Basketball ist schon immer mehr als ein Sport für mich.“, Seite 50).
In Vöhringen leben seine Großeltern, doch im Oktober 2004 stirbt seine Oma:
„Sie ist die einzige, die mich in den Arm nimmt.“ (Seite 54), schreibt er. Offenbar gab es nicht viel Zärtlichkeit in seiner Jugend.
Seine Mutter ist arm, was ihm aber erst relativ spät so richtig bewusst wird. Diese Armut macht ihn in der Schule zum Außenseiter, genauso wie seine Locken, seine Neurodermitis und seine Schuppenflechte. Die Cortison-Tabletten gegen die Neurodermitis lassen ihn auch noch aufdünsen. Später lässt er die schlimmsten rote Flecken auf seiner Haut mit Tattoos überstechen: „Die schlimmsten Stellen sind mit schwarzer Tinte übermalt.“ (Seite 39)
Er versucht sich anzupassen gerät gleichzeitig in eine Clique von gleichaltrigen Kleinkriminellen. Die Gruppe verübt kleinere Diebstähle und Einbrüche in Gartenlauben und man betätigt sich ab der achten Klasse als Gras-Dealer. Das erste Gras klaut er seinem Stiefvater, der ebenfalls dealt. Einerseits wird er dadurch plötzlich beliebt, andererseits kommt es zu Verteilungskämpfen mit älteren Dealern und er gerät in den Fokus der Polizei. Erstmals richtig festgenommen wird er mit 15.
auf der Straße gelandet
Auf die Straße gerät er mit 16 Jahren, weil seine Mutter ihn im Februar 2005 mitleidslos hinaus wirft. Mit kleinen ‚Pausen‘ ist Bloh dann von 16 bis 28 obdach- und wohnungslos. Manchmal ist er irgendwo Kurzzeit-Untermieter, was aber nie länger hält. Zwischendurch hat er eine kurze Kiez-Karriere als eine Art Geldeintreiber für einen Luden. Doch das stellt keine Zukunft für ihn dar und er quittiert den Job.
Eigentlich wäre damals ein Amt für den minderjährigen Obdachlosen zuständig. Doch sein Fall wird hin und her geschoben und so richtig fühlt sich niemand verantwortlich. Die Ämter-Bürokratie ist gnaden- und empathielos. Er schildert die Demütigung durch Gutscheine infolge einer Sperre: „Die Sanktionen vom Amt sind schwer zu ertragen. Sie sind demütigend und erniedrigend. Ich bekomme wieder Lebensmittelgutscheine. […] Ich versuche immer zu warten, bis eine Kasse frei ist, doch man kann auch nicht überall den Gutschein einlösen, meistens geht das nur in großen Supermärkten. Also steht hinter mir doch oft eine Schlange und beobachtet das Schauspiel. Dieses Papier kennen nur wenige Kassierer, und die Umstehenden haben es wahrscheinlich auch noch nie gesehen. Die Kassierer nehmen mir den Zettel ab und legen ihn vor sich. Zum Abgleich , dass ich auch wirklich die Person bin, die über den Gutschein verfügen darf, muss ich meinen Ausweis zeigen. Der Kassierer alleine ist nicht befugt, den Gutschein als Zahlungsmittel einzulösen, er muss den Filialleiter dazuholen. Der Filialleiter prüft erneut und mit einem deutlich Strengeren Blick das Papier und den Ausweis, dann tippt er etwas in die Kasse, und der Kassierer behält den Gutschein ein. Das Ganze dauert fünf Minuten. Die Zeit geht nicht rum, und jede einzelne Sekunde möchte ich nicht ich sein.“ (Seite 84-85)
Auf dem Amt wird er nicht mehr als Individuum wahr genommen, sondern ist nur noch eine Nummer: „Hier ist es zum ersten Mal passiert. Ein Mensch unterhält sich mit mir, ohne mit mir zu reden. Sein Blick ist immer nur auf die Papiere vor ihm gerichtet. Mit mir spricht er nicht, als Mensch nimmt er mich nicht wahr. Ich bin eine Akte.“ (Seite 69)
Einmal verschafft ihm das Amt auch eine ‚Wohnung‘, die aber seiner Beschreibung nach eher eine bessere Baustelle ist. Die Wohnung ist ohne Strom und Boden. Er ist auch hilflos, weil ihm niemand die notwendigen Amts-Besorgungen etc. erklärt hat und landet schließlich wieder auf der Straße.
Trotz der mehr als widrigen Umstände geht Bloh als Obdachloser ein Jahr lang weiter zur Schule und sogar im Alter von 23 sein Abitur. Was ihn neben der Motivation sein Abitur zu machen, um es einem ignoranten Lehrer zu zeigen, auch psychisch am Leben erhält, ist sein Schreiben: „Die Wörter helfen mir dennoch weiter durch die Nacht zu kommen.“ (Seite 113)
Auch von Rapsong-Zeilen. Einige Zitate sind im Buch eingestreut.
Vor Freund*innen kaschiert er seine Obdachlosigkeit, auch aus falschen Stolz. Er ernährt sich u.a. von McDonalds-Ein-Euro-Burgern und entwickelt wie jeder Obdachlose Überlebens-Techniken.
Bloh schreibt über seine Straßen-Zeit: „Überleben ist kein Leben.“ An anderer Stelle schreibt er: „Abgekapselt von der Außenwelt. Gleichzeitig permanent meiner Außenwelt ausgesetzt. Ich überlebe in ihr.“ (Seite 111)
Er überlebt auch als Pfandflaschensammler. Er beschreibt sehr authentisch wie dieses Mülleimer-Durchforsten sich anfühlt:
„In Mülleimer fassen, das ist demütigend, niemand sollte das tun müssen. Es sind nicht nur Obdachlose, die in Abfällen auf der Suche nach Pfand oder Verwertbarem sind. Ich sehe Altersarmut. […] In der heißen Jahreszeit fühlt es sich an, als würde man in einen Sumpf greifen. Fast-Food-Reste und klebrige Softdrinks mischen sich, die Hitze wärmt den Brei auf und verbreitet seinen Gestank. Es ist nicht schön, mit der Hand da reinzugehen, vor allem klebt es an einem.“ (Seite 92-93)
Zu Recht kritisiert er das System der Freiheitsersatzstrafe für arme Menschen: „Ich habe nie verstanden, wieso Menschen, die nichts haben, Geldstrafen bekommen, ich werde es nie verstehen.“ (Seite 85-86)
Er ist Gewalt, Hitze und Kälte ausgesetzt und schildert seine Erlebnisse. Die Umstände machen ihn dauerkrank. Der ständige Überlebenskampf auf der Straße verhindert es Pläne und Perspektiven zu entwickeln:
„Es bleibt immer die Frage: Wohin als Nächstes? Überlegungen verlaufen ins Leere wie die Wege, die ich gehe.“ (Seite 112)
An anderer Stelle schreibt er traurig: „Alle Wege auf der Straße führen in die Einsamkeit.“ (Seite 132)
Eine Grund-Hygiene auf der Straße einzuhalten ist natürlich sehr schwierig: „Körper und Geist gehen Hand in Hand. Das äußerliche Erscheinungsbild schlägt sich auf mein inneres Befinden aus. Ich hatte kein Selbstbewusstsein mehr, keine Selbstsicherheit, kein Selbstwertgefühl. Ich war immer dreckig und irgendwann habe ich mich selber nur noch für Dreck gehalten.“ (Seite 120-121)
Dazu kommen die sozialdarwinistischen Anfeindungen durch Teile der Bevölkerung: „Ich kriege Sprüche an den Kopf geknallt, häufiger als nette Worte oder mal ein freundliches Lachen. „Such dir einen Job, du Penner!“, das ist mir Sicherheit der Satz, den ich am meisten anhöre.“ (Seite 122)
„Ich glaube, dass es nicht viele Menschen gibt, die sich an einem Tag so viele Beleidigungen anhören müssen wie Obdachlose.“ (Seite 134)
Ebenso kommt es zu Übergriffen: „Ich werde in viele Schlägereien verwickelt, die immer von derselben Art Menschen ausgehen. Typen, die keinen Wert in uns sehen und denken, sie könnten tun, was sie wollen.“ (Seite 137)
Im Jahr 2015 engagiert er sich in der Flüchtlingshilfe, bekommt Anerkennung und zieht in eine Studi-WG ein. Von hier aus organisiert er sich eine Wohnung und entkommt der Straße.
Die Lektüre geht des Buchs an die Nieren und soll es auch. Es wird das harte Leben eines ‚Bürgersteigkindes‘ geschildert. Immerhin mit Happy End.
Der Kauf lohnt sich!
Dominic Bloh: Unter Palmen aus Stahl, Weinheim 2021.