Mit einiger Verspätung habe ich jetzt endlich mal das hochgelobte Buch „Kinder von Hoy“ von Grit Lemke gelesen, was 2021 erschienen ist.
In dem Buch, was eine Mischung aus Autobiografie und Geschichtsbuch ist, zeichnet die Autorin die Geschichte der sächsischen Stadt Hoyerswerda nach.
Ursprünglich war Hoyerswerda eine deutsch-sorbische Kleinstadt, doch in der frühen DDR wird hier eine sozialistische Wohnstadt bzw. Arbeiterstadt aus dem Lausitzer Heideboden gestampft.
Die DDR, zeitweise die zehntgrößte Industrienation der Welt, ist hungrig nach Strom. Dieser soll im Werk „schwarze Pumpe“, umgangssprachlich nur „Pumpe“ genannt, erzeugt werden.
Zeitweise soll es sich bei „Pumpe“ um den größten Kohle-verarbeitenden Industriekomplex der Welt gehandelt haben. Auf dem Höhepunkt, im Juli 1990, malochten hier 14.439 Arbeiter*innen. Um den „Kohlekumpels“ eine Unterkunft zu geben, wird Hoyerswerda-Neustadt, eine Ensemble von Plattenbauten in den 1960er Jahren gebaut und beständig erweitert. Hier wird der Lebens-Rhythmus wird durch die Schichtarbeit dominiert: „4.50 Uhr rollt die erste Welle nach Pumpe aus der Stadt. Der Rhythmus der Schichtbusse ist ihr Puls.“ (Seite 53)
Die neuen Bewohner*innen kommen aus der ganzen DDR, besonders aber aus den Dörfern der Lausitz. Sie holen ihre Kinder nach oder kriegen sie erst und Hoyerswerda wird zur kinderreichsten Stadt der DDR.
Grit Lemke ist eines dieser Kinder und beschreibt sehr anschaulich das Aufwachsen in dieser realsozialistischen Planstadt, in der aber vieles dann doch nicht so ganz nach Plan verläuft. Irgendwie ist Hoyerswerda auch ein frühes Beispiel für eine 15-Minuten-Stadt, weil in der Neustadt alles in unmittelbarer Nähe ist: Einkaufsmöglichkeit, Freizeitstätten und Schulen.
Lemke beschreibt eine Gleichzeitigkeit von fehlender und kollektiver Kontrolle. Kinder und Jugendliche mit zumeist zwei arbeitenden Elternteilen stromern unbeaufsichtigt durch die Stadt. Gleichzeitig haben alle gemeinsam einen Blick auf die Jüngeren.
Obwohl die DDR-Führung der Jugend gerne verordnete, wie sie agieren soll, entsteht ab den 1970er Jahren eine alternative Jugendkulturen. Dabei spielt Musik eine große Rolle. Natürlich sind damit auch der Liedermacher Gundermann und seine „Brigade Feuerstein“ gemeint. Verschiedene Stile halten Einzug: Folk („Arbeiterfolk“), Blues, Metal etc.
Neben der Musik entwickelt sich in Hoyerswerda auch eine ausgeprägte Lesekultur. In allen Außenstellen existieren stark genutzte Betriebsbibliotheken.
„Jeder hat jede Woche bestimmt drei bis vier Bücher gelesen. Und alle die gleichen! Das war das Schöne, jeder konnte sich mit jedem darüber unterhalten.“ (Seite 86)
Dann kommt auch noch Kunst auf, die nicht den realsozialistischen Vorstellungen („sozialistischer Realismus“) entspricht, z.B. Dadaismus („Hoyerswerdada“). Dabei eckt man bei den Behörden an, aber es verläuft meist glimpflicher als an anderen Orten.
Lemke idealisiert aber nicht zu sehr, wenn auch die Nostalgie deutlich spürbar ist. Sie erzählt in ihrem Buch auch von ständigen Schlägereien und Banden bzw. regelrechten Gangs wie die „Elsterbande“.
Das Buch ist stark angereichert mit O-Tönen, zum Teil in Sächsisch, von Zeitgenoss*innen, die unkommentiert platziert werden. Die Neustadt scheint eine eigene Welt gewesen zu sein, die mit der Altstadt von Hoyerswerda oder den umliegenden Dörfern nur lockeren Kontakt hatte. Auch wenig Kontakt hatte man mit den Vertragsarbeiter*innen aus Ungarn, Jugoslawien, Polen, Algerien und später aus Mosambik. Diese sind räumlich in eigenen Wohnblöcken separiert. Man begegnet vor allem ihnen auf Arbeit. Zwar sucht man auch gemeinsame Freizeitstätten auf, aber den ‚Fremden‘ schlägt hier schon zu DDR-Zeiten immer wieder verhohlener und unverhohlener Rassismus entgegen. Diesen Hoyerschen mit Migrationsgeschichte gibt Lemke mit den O-Tönen des ehemaligen Vertragsarbeiters David aus Mosambik eine Stimme, der von seinen rassistischen Ausgrenzungs- und Gewalterfahrungen erzählt.
Seit den 1970er Jahren gibt es eine lebendige Jugendklub-Szene in der Stadt: Krabat-Klub, Utopia-Klub etc. Offiziell unter FDJ-Regie, aber mit so manchen Freiheiten.
Auch in Hoyerswerda entwickelt sich in den 1980er Jahren eine kleine Opposition. Die Öko-Bewegung trifft sich im King-Haus und gibt das Blatt „Grubenkante“ heraus, was über die Umwelt-Probleme in der DDR berichtet.
Unangepasste Jugendliche treffen sich im „Faxenhaus“, ab 1984 im „Laden“ oder andernorts. Die Fläche ist oft klein, so dass an einer Bar Bus-Halteschlaufen an der Decke hängen und es keine Hocker gibt, offenbar um Platz zu sparen.
Gleichzeitig hält ein nihilistischer Geist Einzug. Die Jugend des Arbeiter- und Bauernstaates zeigt Ermüdungs-Erscheinungen. Alles scheint schon so vorgezeichnet zu sein.
Dann schlägt die Wende ein wie ein Komet, allerdings in Hoyerswerda mit etwas Verspätung. Die linke Alternativkultur, der Grit Lemke angehörte, ist mit dem SED-Regime unzufrieden, schaut aber auch skeptisch auf den Anschluss an die Bundesrepublik. Sie veranstaltet dagegen sogar eigene, kleine Demonstrationen. Vergebens. Die Mehrheit will die DMark und aus der DDR-Opposition wird eine Massenbewegung für Wohlstandsanschluss. Die Linksalternativen rufen stattdessen die „Autonome Republik Ladanien“ aus. Der Zeitzeuge Rottl beschreibt es kurz so: „1990 war ja eh das große Andersrum.“ (Seite 149)
Die Wende führt zur Massenarbeitsloigkeit – 20.000 Mensche werden in Hoyersweda arbeitslos – und in der Folge schnell zur Massenabwanderung. Die Altstadt gewinnt wieder an Gewicht und die Neustadt wird bis heute stark rückgebaut, d.h. es werden Wohnblöcke abgerissen. Hoyerswerda verliert, wenn man die Eingemeindungen nicht gegen rechnet, 60% seiner Bewohner*innen. Gleichzeitig folgt im September 1991 das mehrtägige Pogrom gegen ausländische Arbeiter*innen. Der rassistische Mob siegt und die Angegriffenen werden aus der Stadt eskortiert. Lemke beschreibt wie Linke paralysiert sind in Anblick des Mobs von bis zu 1.500 Personen. Nach der Vertreibung der Migrant*innen sind die Linksalternativen das neue Ziel. Die ‚Baseballschlägerjahre‘ haben begonnen.
„Vor allem muss man wissen, woran man sie auseinanderhalten kann – denn scheinen jetzt Springerstiefel zu tragen. Und wir werden vergessen, wann wir angefangen haben, auf die Schuhe statt in die Gesichter zu sehen. Die Farbe der Schnürsenkel ist jetzt das Einzige, was zählt.“ (Seite 157)
Schließlich muss der alternative Treffpunkt „Laden“ schließen:
„Wenig später verkündet ein Flyer:
»BIM BIM BIM – DER LADEN macht zu!!!«
Im »großen Schlußverkauf mit Supermegasonderangeboten« wird neben einem »Bach zum Runtergehen incl. schöner Felle zum Davonschwimmen« auch ein »schnittiger Schaufelradbagger im Wert von DM 1,00 (unverbindliche Preisempfehlung der Treuhandanstalt)« angeboten.“ (Seite 213)
Trotz der Probleme erkennen auch die Linksalternativen sich nicht in dem wieder, was das westdeutsche Spiegel-Magazin in Reportagen über Hoyerswerda und seine Leute schreibt. Die Häme über die DDR-Architektur und alle Bewohner*innen wird als arrogant und falsch empfunden.
Nach dem Pogrom kommt es auch zu bundesweiten Antifa-Mobilisierungen nach Hoyerswerda, die aber eher den Charakter einer Strafexpedition hatten und von den Linksalternativen vor Ort als nicht sonderlich hilfreich empfunden werden.
Heute ist die Stadt geschrumpft, überaltert und eine AfD-Hochburg wie so viele Klein- und Mittelstädte in der Lausitz. Anderseits gibt es weiter eine linksalternative Subkultur. Der „Laden“ war die Keimzelle der heutigen „KulturFabrik“. Eine neue Generation von Punker-Jugendlichen erinnert die Stadt an das Pogrom von 1991 und hält es ihr vor, auch der älteren Generation von Linksalternativen, sofern sie in Hoyerswerda geblieben sind.
Als Leser*in hätte man gerne noch etwas über die negativen Folgen der engen sozialen Kontrolle in den Wohnblöcken erfahren. Wie wurden Personen behandelt, die irgendwie aus den normalen Rastern fielen? Zum Beispiel weil sie schwul oder lesbisch waren.
Die Doppelbelastung für Frauen im Realsozialismus, durch Lohn-Arbeit und care-Arbeit, klingt zwar immer wieder an, aber da hätte man sich auch ein wenig mehr gewünscht. Die Frauenrollen scheinen auch im realsozialistischen Hoyerswerda recht vorgezeichnet gewesen zu sein.
Ein Glossar für Wessis und Nachgeborene, welches bestimmte DDR-spezifischen Begriffe erklärt, wäre hilfreich gewesen. Manches erklärt sich aber auch aus dem Kontext, etwa warum der Zug aus der Lausitz nach Berlin im Volksmund „Sorbenschleuder“ hieß.
Das Buch ist klasse, auch durch die vielen Zitate. In ihm wird DDR-Alltagsleben beschrieben und allgemeine DDR-Alltagsgeschichte an einem spezifischen Beispiel nachgezeichnet. Hoyerswerda war einerseits als proletarische Planstadt etwas besonders und andererseits war vieles auch irgendwo typisch.
„Wenn jemand schon unbedingt in die DDR wollte: Mehr davon als bei uns gibt es woanders nicht …“ (Seite 51)
Die positiven Stimmen zu dem Buch von Grit Lemke sind auf jeden Fall gerechtfertigt. Unbedingt lesen!
Grit Lemke: Kinder von Hoy, Berlin, 4. Auflage 2022.