Buchkritik: „Gefangen & Wohnungslos“ von Klaus Jünschke

Der Interview-Band „Gefangen und wohnungslos. Gespräche mit Obdachlosen in Haft“ ist dieses Jahr erschienen. Herausgeber und Organisator des Interview-Sammelbands ist Klaus Jünschke, ein Ex-RAF-Mitglied, welches sich später von der RAF distanzierte, und Sachbuchautor wurde. Seit 1993 leitet er Gesprächsgruppen in der JVA in Köln.
Jünschkes analytisches Vorwort ist besonders lesenswert. Darin geht er auch auf die lange Tradition der Verfolgung und Kriminalisierung von Wohnungslosen ein und „obwohl diese Gesetze abgeschafft wurden, sind die Wohnungslosen die am meisten kriminalisierte soziale Gruppe in Deutschland.“
(Seite 33)
Er definiert noch einmal, was überhaupt Wohnungslosigkeit ist: „Als wohnungslos gilt, wer über keinen mietvertraglich abgesicherten oder eigenen Wohnraum verfügt und bei Verwandten oder Bekannten oder in Einrichtungen der Gemeinden oder Freier Wohlfahrtsverbände untergekommen ist.“
(Seite 7)
Obdachlose sind dagegen eine Teilgruppe von Wohnungslosen, nämlich die Menschen, die direkt auf der Straße leben und in öffentlichen Räumen übernachten.
Insgesamt gab es laut dem im Dezember 2022 vorgestellten Wohnungslosenbericht der Bundesregierung 262.000 Wohnungslose und darunter noch einmal 38.500 Obdachlose.
Obwohl Wohnungslose gesamtgesellschaftlich also eine verhältnismäßig kleine Gruppe darstellen (0,3%), sind sie unter Gefangenen stark überrepräsentiert. So waren 14% aller Strafgefangenen und Sicherheitsverwahrten in der Bundesrepublik bei Haftantritt wohnungslos. Die allermeisten davon waren Männer, die vor allem eine marginalisierte Männlichkeit vertreten. Unter den 5.296 wohnungslosen Gefangenen im März 2022, waren nur 234 Frauen, also 4%. Aber ein Buch zur Erfahrung obdachloser Frauen komme noch, verspricht Jünschke.
Die im Buch wiedergegebenen Interviews entstammen einer Erzählwerkstatt in der JVA Köln und in der JVA Siegen. Die Gespräche dabei wurden in Kleingruppen von vier Männern vom Oktober 2022 bis Ende März 2023 geführt.
Insgesamt waren es 20 wohnungslose Männer. Alle davon waren suchtkrank und 18 waren deutsche Staatsbürger, davon wiederum zwei mit Migrationshintergrund. Alle saßen wegen Kleinkriminalität ein. Von den 20 Männern verbüßten acht eine Ersatzfreiheitsstrafe, d.h. sie saßen nur deswegen im Gefängnis, weil sie eine Strafe nicht zahlen konnten. Einer der Strafgefangenen erzählt z.B. dass er wegen seiner Notübernachtung in einer Sparkasse, um sich vor dem Erfrierungs-Tod zu schützen, beim zweiten Antreffen zu einer Geldstrafe verurteilt wurde.
Der Autor lässt klar durchblicken dass er das Hilfssystem der „Sozialbürokraten“, wie er sie nennt, für unzureichend hält und dem ‚Housing First‘-Ansatz den Vorzug gibt.

Interviews mit wohnungslosen und obdachlosen Strafgefangenen
Jünschke weist in seinem Vorwort auch darauf hin dass Gefängnis-Erfahrungen der Mehrheit der Gesellschaft unbekannt sind: „In unserer Gesellschaft gibt es keinen Begriff vom Leben in einer normalen Gefängniszelle, von der Existenz auf acht Quadratmetern in einem Raum, der innen keine Klinke an der Tür hat und der folglich nur verlassen werden kann, wenn von außen aufgeschlossen wird. Die Debatte um die Käfighaltung von Hühnern in den Legebatterien ist größer und öffentlicher als die Tatsache, dass Menschen in Zellen festgehalten werden.“
(Seite 16)
Im Prinzip werden also zwei in der bürgerlichen Mitte unbekannte Welten im Buch wiedergegeben: Wohnungslosigkeit und Gefängnis.
Es sind krasse Erfahrungsberichte mit dabei. Etwa von einem ehemaligen Heim-Kind, welches erzählt dass es im Heim in Flaschen gepinkelt hätte, weil man nach 20 Uhr sein Zimmer nicht mehr verlassen durfte.
Mehrere Teilnehmer an den Gesprächen berichten von Misshandlungen als Kinder. Die Heim-Kindheit war eine der Ausgangspunkte von Obdach- und Wohnungslosigkeit, andere waren eine Suchtkrankung, der Verlust eines geliebten Menschen oder eine Depression. Diese einzelnen Schicksal werden im Sozialdarwinismus gegen Obdachlose nicht gesehen, der nur die angebliche Verweigerung wahr nimmt. So berichtet ein Gerhard: „Du hörst aber auch oft, „warum gehst Du nicht arbeiten oder bist Du krank?“ Die fragen nicht, warum ist der denn da, irgendwas ist doch passiert. Die denken alle, der ist freiwillig ein versoffenes Schwein. Und jeder Obdachlose hat sein Schicksal, ich hab mit so vielen gesprochen. Da ist immer was Gravierendes gewesen.
(Seite 206)
Im Gespräch verraten die ehemaligen Wohnungslosen ihre Überlebenstechniken, etwa durch Kleinkriminalität oder (angebliche) Leistungserschleichung. Dabei sind sie auch selber oft Opfer von Diebstählen.
Das schwierige Leben auf der Straße führt schnell zu Gefängnis-Verurteilungen. Der Wohnunglose Gerhard fasst es gut zusammen: „Man steht als Obdachloser mit einem Bein im Gefängnis. Allein schon durch die Obdachlosigkeit. Du bist eine Randgruppe. Du bist nicht gerne gesehen, Du wirst gemieden, Du wirst auch beschimpft und bespuckt, alles. Du gerätst schnell in Schlägereien.“
(Seite 257)
Wegen dieser Randgruppen-Kriminalität sitzen die meisten ein. Meist sind es Vergehen ohne Geschädigte bzw. Not-Diebstähle. Ihre Verurteilung ist das, was man klassischerweise als ‚Klassen-Justiz‘ bezeichnen würde. Alles wird ihnen zu ihren Ungunsten ausgelegt, weil sie nicht als normale Bürger angesehen werden. So wirkt ein Diebstahl mit Taschenmesser wegen der Auslegung als Waffe strafverschärfend. Dabei ist ein Messer ein notwendiges Arbeitsgerät und oft auch ein Verteidigungsmittel auf der Straße. So erzählt ein Mike: „Ich hab einen Bekannten, der hat mal einen Obdachlosen einfach so angezündet. Aus Spaß. Der bereut das auch zutiefst, dass er das gemacht hat, aber es ist doch klar, dass sich ein Obdachloser ein Messer in die Tasche steckt, wenn sowas passiert.“
(Seite 147)
Gewalt spielt beim (Über-)Leben auf der Straße eine große Rolle. Auch die Erfahrung von Übergriffen durch die Polizei wird geschildert: „Gerhard: Als ich das erste Mal im PG [Polizeigewahrsam] war, haben sie mich noch im PG zusammengeschlagen. Ein Telefonbuch auf die Brust gelegt und mit dem Schlagstock draufgehauen. Mit zwei Mann.
Klaus: Mit dem Telefonbuch?
Gerhard: Das haben sie mir auf die Brust gelegt und dann mit dem Schlagstock.
Jimmy: Damit keine blauen Flecken kommen.“

(Seite 294)

Weiter berichten die Ex-Wohnunglosen von negativen Erfahrungen mit Notübernachtungen. Etwa von einer Übernachtungsstätte mit ausgehängter Tür.
Auch durch die Berichte wird noch einmal klar, dass Gefängnisse nicht der Resozialisierung dienen. So werden die ehemaligen Wohnungslosen häufig in die Obdachlosigkeit entlassen und damit werden sie fast schon zwangsweise wieder kriminell, besonders wenn Drogenkranke und psychisch Kranke aus der U-Haft entlassen werden, denn in der U-Haft gibt es kaum eine soziale Betreuung und Vorsorge.
Nicht ohne Grund ist das Leben auf der Straße kurz. Gewalt, Krankheit und die allgemeinen Lebensbedingungen sorgen dafür dass die Lebenserwartung von Obdachlosen bei 49 Jahren und damit 20 Jahre unter dem Durchschnitt liegt.

Jünschke fragt klug nach und kitzelt mit seinen Fragen oft einiges heraus, er gibt gute Tipps, ist aber manchmal etwas arg pädagogisch, auch wenn es vielleicht viele so brauchen.
Das Buch hat manchmal seine Längen, ist aber absolut lesenswert. Besonders das Vorwort lohnt sich.

Klaus Jünschke: Gefangen und wohnungslos. Gespräche mit Obdachlosen in Haft, 2023.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.