Buchkritik: „bis wir Wald werden“ von Birgit Mattausch

Der dieses Jahr erschienene Roman „Bis wir Wald werden“ von Birgit Mattausch ist ein Familien-Roman, der von einer Großfamilie aus Verwandten und Nicht-Verwandten erzählt, die alle im selben Hochhaus am Rande einer unbenannten Stadt in Deutschland wohnen. Das Hochhaus stammt aus den 1960er Jahren, hat 16 Stockwerke und wird vor allem von Spätaussiedler*innen bewohnt.
Erzählerin ist Nanusha, die an der Kasse bei Real sitzt, obwohl sie gute Noten hatte. Sie kam mit ihrer Urgroßmutter Babulya als Kind aus Sibirien hierher, während ihre Großmutter verschollen ist und ihre Mutter („Mome“) nicht mit gekommen ist.
Babulya spricht nur ein altertümliches Deutsch und trotzdem eben ein Deutsch. So verstand sie bei der Übersiedlung nach Deutschland nur die neuen Wörter nicht: „Na, die elektrisierten Wörter. Und die grauen Wörter. Die auf den Formularen. Ein-bürger-ungs-nach-weis. Familien-nach-zug.“
(Seite 22-23)
Elsa, die Oma von allen im Haus, hat sich sogar in Sibirien geweigert Russisch zu lernen. Das altertümliche Deutsch der Alten wird im Buch auch so wiedergegeben.
In Deutschland treffen sie auf eine Moderne und Überfülle. Hier muss niemand mehr persönlich schlachten: „Noch viele Hühner würde sie so schlachten, später auch Gänse und Hasen.
Am Tisch Tisch unter Kristallleuchter und Plastikstuck zeigt sie mir die Handbewegung. Sie kann es noch. Auch in dieser Welt, in der wir fertig abgepackte, eingeschweißte Hühnerbrüste bei Real kaufen oder gleich Chickennuggets bei McDonalds holen.“

(Seite 70)

Der Roman ist auch eine Geschichte dieser Bevölkerungs-Gruppe, die der Spielball der Mächtigen war: „Sie haben uns angesiedelt, umgesiedelt, ausgesiedelt, spätausgesiedelt. Nein, das Letztere haben wir selbst getan. Nachdem wir Anträge und Anträge zu Anträgen stellten. […] Spätausgesiedelt haben wir uns. Nachdem wir sehr leise waren. Immer leise. Nachdem wir uns nur auf uns verließen.“
(Seite 52)
Doch die Ankunft in Deutschland ist schwer. Es gibt viele Unterschiede zwischen den „Unseren“ und den „Hiesigen“. Manches sind kleine Dinge, wie die Begeisterung für die russlanddeutsche Sängerin Helene Fischer: „Ja, wir lieben Helene, und wir scheren uns nicht darum, dass die Hiesigen sie verachten. Dass sie ihnen zu glatt ist, zu glänzend, zu verschlossen. Unmerklich (aber ich merke es doch) pressen sie die Lippen zusammen und atmen durch die Nase aus, wenn vor ihnen jemand eine CD von ihr auf das Kassenband legt.“
(Seite 116)
In Deutschland gilt die Gruppe als ‚die Russen‘, während sie in der Sowjetunion als Deutsche diskriminiert wurden: „Die Hiesigen denken, wir seien nur hier, weil wir einen deutschen Schäferhund gehabt haben. Hahahahaha. Ich bin zu müde, ihnen zu erklären, dass wir hier sind, weil Deutschland an uns etwas gut zu machen hatte. Zu müde, vom fünften Punkt im sowjetischen Pass zu erzählen und davon, was es bedeutete, wenn dort deutsch stand.“
(Seite 79-80)
Immer wieder brechen die Narben im Familien- und Gruppen-Gedächtnis auf. Neben der Deportation und der kollektiven Anfeindung als „Fascisti“ war das die Zwangsarbeit in der so genannten „Trudarmee“. Das war eine Arbeitsarmee, in der Minderheiten, darunter sehr viele Russlanddeutsche, 1942 bis 1946 erzwungene Arbeit leisten mussten, darunter auch viele Frauen.

Doch die Gruppe besteht aus Individuen wie etwa Vitali, der auf die Ausgrenzung mit Muskeln-Aufbau und einem Kampfhund reagiert hat, vor dem sich Nanusha fürchtet.
Sie entdeckt auch Gemeinsamkeiten mit der Kurdin Felek, der in ihrer türkischen Heimat auch verboten wurde ihre Muttersprache zu sprechen, und die auch in dem Hochhaus lebt.
Viele Russlanddeutsche in dem Buch sind religiös. Manche sind glaubensstrenge Baptisten. Andere haben seltsame, vermutlich heidnische Rituale aus Sibirien mitgebracht. Denn ein Teil der Spätaussiedler*innen scheint in Sibirien zu einem Waldvolk geworden zu sein. Der nahe Wald beim Hochhaus scheint ihnen vertrauter als die nahe gelegene Stadt.

Das Buch ist eine zarte Annäherung an eine große Bevölkerungsgruppe in Deutschland, die mit ihrer Geschichte häufig unsichtbar bleibt. Immer wieder werden auch Gedichte eingeschoben. Es werden auch Probleme wie Suchtkrankheiten, AfD- und Putin-Nähe oder autoritäre Erziehungsstile erwähnt.
Das Buch mit seinen knapp 180 Seiten lohnt sich sehr, ist aber mit 20 Euro verhältnismäßig teuer.

Birgit Mattausch: Bis wir Wald werden, Stuttgart 2023.

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