Buchkritik: „Radio Sarajevo“ von Tijan Sila

Ich mag die Bücher von Tijan Sila, deswegen habe ich mich gefreut als ein guter Freund mir dessen neues Buch „Radio Sarajevo“ geschenkt hat.
Gerade die oft nach dem 24. Februar 2022 getätigten falsche Aussagen dass mit dem Ukraine-Krieg erstmals seit 1945 in Europa wieder Krieg herrsche, zeigen das der bosnische Bürgerkrieg bei vielen Menschen wieder in Vergessenheit geraten zu sein scheint. Von anderen, kleineren Kriegen und Konflikten in Europa (Nordirland, Transnistrien, Krajina, Kosovo, Kaukasus) ganz zu schweigen.
Silas Beschreibung ist aber keine kühle Konfliktbeschreibung sondern ein autobiografischer Rückblick. Denn Sila beschreibt seine eigenen Kinder-Kriegs-Erinnerungen, inklusive Kriegskindheits-Traumata.
Es geht konkret um die Belagerung der bosnischen Hauptstadt Sarajevo ab 1992 durch serbisch-nationalistische Truppen.
Der Krieg in Bosnien bricht im April 1994 aus und hatte sich den Erwachsenen schon länger angekündigt, wie der Autor in seiner Rückschau fest stellt. Trotzdem sind alle dann doch überrascht als der Krieg tatsächlich da war und er ging auch nicht schnell vorbei, sondern er hält bis Dezember 1995 an. Sarajevo wird für drei Jahre eine belagerte Stadt, in der der Autor bis Ende 1994 mit seiner Familie lebt.
Das ehemalige sozialistisch Jugoslawien zerfällt, oder wie es der Sila beschreibt:
„Die Geschichte ist über Jugoslawien hinweggefegt, als seien die Landesgrenzen nur eine Spur im Sand gewesen und das kommunistische Ethos mit Kreide auf Asphalt geschrieben.“ (Seite 41)
Scharfschützen und Granaten-Beschuss werden zum Alltag und machen diesen zum Hindernislauf.
Kriegsgeräusche nisten sich in den Ohren der Bevölkerung Sarajevos ein:
„Das Gewehrfeuer hallte ununterbrochen von den Frontlinien, ein Lärm, als würde es Bratpfannen regnen; Wölkchen berstender Flakpatronen bedeckten den Himmel wie Leopardenflecken.“ (Seite 61)
Trotzdem wird aus dem Krieg irgendwann eine Art von Alltag: Der Kriegsalltag. Mit der Zeit passt man sich an, es bleibt einem auch nichts anderes übrig. Sein Vater arbeitet für das Rote Kreuz und eine adventistische Organisation als Übersetzer. So erfährt man am Rande im Buch dass die Caritas Hilfsgüter in Sarajevo nur gegen Taufschein herausgegeben hat, also Nicht-Christ*innen gezielt benachteiligte. Seine Eltern sind als zwei Universitäts-Dozenten sowieso im Platten-Viertel eher Außenseiter, aber der Krieg trifft seine Akademiker-Eltern noch unvorbereiteter als Andere. So haben die beiden z.B. in ihrer Speisekammer Gesamtausgaben berühmter Schriftsteller statt Lebensmittel gelagert. Trotz ihrer akademischen Bildung beschreibt Sila wie ihn seine Eltern, vor allem der Vater, schlagen und wie diese Art der schwarzen Pädagogik fast überall in seinem Viertel angewandt wird. Bis zu dessen Tod verband ihn deswegen offenbar eine Art Hassliebe mit seinem Vater. Die Belagerung verursacht Unter- und Mangelernährung. So verbreitet sich Skorbut. Für Mehl oder Feuerholz werden auf dem Schwarzmarkt obszöne Preise verlangt. In die Schule, die nach einem halben Jahr Pause wieder los geht, müssen Schüler*innen Holzscheite als ‚Schulgeld‘ mitbringen.
Der Autor beschreibt wie er sich mit einer Straßenclique aus seinem Viertel herum treibt, von denen einige durch die Belagerung verletzt oder getötet werden, andere werden zu Klebstoffschnüfflern. Eine Zeit lang führt seine Clique einen Handel mit in Ruinen gefundenen Porno-Heften mit UN-Blauhelm-Soldaten.
Er beschreibt auch wie die organisierte Kriminalität sich im belagerten Sarajevo ausbreitete und kleine warlords sich etablieren.
Wie der Titel schon andeutet spielt Musik eine wichtige Rolle für den Autoren. Ein kleines Radio und die nötigen Batterien lassen ihn dem Alltagsfrust und -grauen entfliehen. Denn trotz aller oberflächlicher Gewöhnung bedeutet der Krieg Grauen.
„Ich fühlte, dass zu leben vor allem bedeutete, Grauen auszuhalten.“ (Seite 62)
Sila sieht zerfetzte Leichen und träumt nachts davon.
Ende 1994 beschließen seine Eltern endlich nach Deutschland zu fliehen. Heute ist der bosnische Geflüchtete ein Schriftsteller und Lehrer.
Das Buch ist kurz, lohnt sich aber, auch wegen seiner Kinder-Perspektive auf den Bosnien-Krieg.

Tijan Sila: Radio Sarajevo, München 2023

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Buchkritik: „Kinder von Hoy“ von Grit Lemke

Mit einiger Verspätung habe ich jetzt endlich mal das hochgelobte Buch „Kinder von Hoy“ von Grit Lemke gelesen, was 2021 erschienen ist.

In dem Buch, was eine Mischung aus Autobiografie und Geschichtsbuch ist, zeichnet die Autorin die Geschichte der sächsischen Stadt Hoyerswerda nach.
Ursprünglich war Hoyerswerda eine deutsch-sorbische Kleinstadt, doch in der frühen DDR wird hier eine sozialistische Wohnstadt bzw. Arbeiterstadt aus dem Lausitzer Heideboden gestampft.
Die DDR, zeitweise die zehntgrößte Industrienation der Welt, ist hungrig nach Strom. Dieser soll im Werk „schwarze Pumpe“, umgangssprachlich nur „Pumpe“ genannt, erzeugt werden.
Zeitweise soll es sich bei „Pumpe“ um den größten Kohle-verarbeitenden Industriekomplex der Welt gehandelt haben. Auf dem Höhepunkt, im Juli 1990, malochten hier 14.439 Arbeiter*innen. Um den „Kohlekumpels“ eine Unterkunft zu geben, wird Hoyerswerda-Neustadt, eine Ensemble von Plattenbauten in den 1960er Jahren gebaut und beständig erweitert. Hier wird der Lebens-Rhythmus wird durch die Schichtarbeit dominiert: „4.50 Uhr rollt die erste Welle nach Pumpe aus der Stadt. Der Rhythmus der Schichtbusse ist ihr Puls.“ (Seite 53)

Die neuen Bewohner*innen kommen aus der ganzen DDR, besonders aber aus den Dörfern der Lausitz. Sie holen ihre Kinder nach oder kriegen sie erst und Hoyerswerda wird zur kinderreichsten Stadt der DDR.
Grit Lemke ist eines dieser Kinder und beschreibt sehr anschaulich das Aufwachsen in dieser realsozialistischen Planstadt, in der aber vieles dann doch nicht so ganz nach Plan verläuft. Irgendwie ist Hoyerswerda auch ein frühes Beispiel für eine 15-Minuten-Stadt, weil in der Neustadt alles in unmittelbarer Nähe ist: Einkaufsmöglichkeit, Freizeitstätten und Schulen.
Lemke beschreibt eine Gleichzeitigkeit von fehlender und kollektiver Kontrolle. Kinder und Jugendliche mit zumeist zwei arbeitenden Elternteilen stromern unbeaufsichtigt durch die Stadt. Gleichzeitig haben alle gemeinsam einen Blick auf die Jüngeren.

Obwohl die DDR-Führung der Jugend gerne verordnete, wie sie agieren soll, entsteht ab den 1970er Jahren eine alternative Jugendkulturen. Dabei spielt Musik eine große Rolle. Natürlich sind damit auch der Liedermacher Gundermann und seine „Brigade Feuerstein“ gemeint. Verschiedene Stile halten Einzug: Folk („Arbeiterfolk“), Blues, Metal etc.
Neben der Musik entwickelt sich in Hoyerswerda auch eine ausgeprägte Lesekultur. In allen Außenstellen existieren stark genutzte Betriebsbibliotheken.
„Jeder hat jede Woche bestimmt drei bis vier Bücher gelesen. Und alle die gleichen! Das war das Schöne, jeder konnte sich mit jedem darüber unterhalten.“ (Seite 86)
Dann kommt auch noch Kunst auf, die nicht den realsozialistischen Vorstellungen („sozialistischer Realismus“) entspricht, z.B. Dadaismus („Hoyerswerdada“). Dabei eckt man bei den Behörden an, aber es verläuft meist glimpflicher als an anderen Orten.

Lemke idealisiert aber nicht zu sehr, wenn auch die Nostalgie deutlich spürbar ist. Sie erzählt in ihrem Buch auch von ständigen Schlägereien und Banden bzw. regelrechten Gangs wie die „Elsterbande“.
Das Buch ist stark angereichert mit O-Tönen, zum Teil in Sächsisch, von Zeitgenoss*innen, die unkommentiert platziert werden. Die Neustadt scheint eine eigene Welt gewesen zu sein, die mit der Altstadt von Hoyerswerda oder den umliegenden Dörfern nur lockeren Kontakt hatte. Auch wenig Kontakt hatte man mit den Vertragsarbeiter*innen aus Ungarn, Jugoslawien, Polen, Algerien und später aus Mosambik. Diese sind räumlich in eigenen Wohnblöcken separiert. Man begegnet vor allem ihnen auf Arbeit. Zwar sucht man auch gemeinsame Freizeitstätten auf, aber den ‚Fremden‘ schlägt hier schon zu DDR-Zeiten immer wieder verhohlener und unverhohlener Rassismus entgegen. Diesen Hoyerschen mit Migrationsgeschichte gibt Lemke mit den O-Tönen des ehemaligen Vertragsarbeiters David aus Mosambik eine Stimme, der von seinen rassistischen Ausgrenzungs- und Gewalterfahrungen erzählt.

Seit den 1970er Jahren gibt es eine lebendige Jugendklub-Szene in der Stadt: Krabat-Klub, Utopia-Klub etc. Offiziell unter FDJ-Regie, aber mit so manchen Freiheiten.
Auch in Hoyerswerda entwickelt sich in den 1980er Jahren eine kleine Opposition. Die Öko-Bewegung trifft sich im King-Haus und gibt das Blatt „Grubenkante“ heraus, was über die Umwelt-Probleme in der DDR berichtet.
Unangepasste Jugendliche treffen sich im „Faxenhaus“, ab 1984 im „Laden“ oder andernorts. Die Fläche ist oft klein, so dass an einer Bar Bus-Halteschlaufen an der Decke hängen und es keine Hocker gibt, offenbar um Platz zu sparen.
Gleichzeitig hält ein nihilistischer Geist Einzug. Die Jugend des Arbeiter- und Bauernstaates zeigt Ermüdungs-Erscheinungen. Alles scheint schon so vorgezeichnet zu sein.

Dann schlägt die Wende ein wie ein Komet, allerdings in Hoyerswerda mit etwas Verspätung. Die linke Alternativkultur, der Grit Lemke angehörte, ist mit dem SED-Regime unzufrieden, schaut aber auch skeptisch auf den Anschluss an die Bundesrepublik. Sie veranstaltet dagegen sogar eigene, kleine Demonstrationen. Vergebens. Die Mehrheit will die DMark und aus der DDR-Opposition wird eine Massenbewegung für Wohlstandsanschluss. Die Linksalternativen rufen stattdessen die „Autonome Republik Ladanien“ aus. Der Zeitzeuge Rottl beschreibt es kurz so: „1990 war ja eh das große Andersrum.“ (Seite 149)
Die Wende führt zur Massenarbeitsloigkeit – 20.000 Mensche werden in Hoyersweda arbeitslos – und in der Folge schnell zur Massenabwanderung. Die Altstadt gewinnt wieder an Gewicht und die Neustadt wird bis heute stark rückgebaut, d.h. es werden Wohnblöcke abgerissen. Hoyerswerda verliert, wenn man die Eingemeindungen nicht gegen rechnet, 60% seiner Bewohner*innen. Gleichzeitig folgt im September 1991 das mehrtägige Pogrom gegen ausländische Arbeiter*innen. Der rassistische Mob siegt und die Angegriffenen werden aus der Stadt eskortiert. Lemke beschreibt wie Linke paralysiert sind in Anblick des Mobs von bis zu 1.500 Personen. Nach der Vertreibung der Migrant*innen sind die Linksalternativen das neue Ziel. Die ‚Baseballschlägerjahre‘ haben begonnen.
„Vor allem muss man wissen, woran man sie auseinanderhalten kann – denn scheinen jetzt Springerstiefel zu tragen. Und wir werden vergessen, wann wir angefangen haben, auf die Schuhe statt in die Gesichter zu sehen. Die Farbe der Schnürsenkel ist jetzt das Einzige, was zählt.“ (Seite 157)
Schließlich muss der alternative Treffpunkt „Laden“ schließen:
„Wenig später verkündet ein Flyer:
»BIM BIM BIM – DER LADEN macht zu!!!«
Im »großen Schlußverkauf mit Supermegasonderangeboten« wird neben einem »Bach zum Runtergehen incl. schöner Felle zum Davonschwimmen« auch ein »schnittiger Schaufelradbagger im Wert von DM 1,00 (unverbindliche Preisempfehlung der Treuhandanstalt)« angeboten.“
(Seite 213)

Trotz der Probleme erkennen auch die Linksalternativen sich nicht in dem wieder, was das westdeutsche Spiegel-Magazin in Reportagen über Hoyerswerda und seine Leute schreibt. Die Häme über die DDR-Architektur und alle Bewohner*innen wird als arrogant und falsch empfunden.
Nach dem Pogrom kommt es auch zu bundesweiten Antifa-Mobilisierungen nach Hoyerswerda, die aber eher den Charakter einer Strafexpedition hatten und von den Linksalternativen vor Ort als nicht sonderlich hilfreich empfunden werden.

Heute ist die Stadt geschrumpft, überaltert und eine AfD-Hochburg wie so viele Klein- und Mittelstädte in der Lausitz. Anderseits gibt es weiter eine linksalternative Subkultur. Der „Laden“ war die Keimzelle der heutigen „KulturFabrik“. Eine neue Generation von Punker-Jugendlichen erinnert die Stadt an das Pogrom von 1991 und hält es ihr vor, auch der älteren Generation von Linksalternativen, sofern sie in Hoyerswerda geblieben sind.

Als Leser*in hätte man gerne noch etwas über die negativen Folgen der engen sozialen Kontrolle in den Wohnblöcken erfahren. Wie wurden Personen behandelt, die irgendwie aus den normalen Rastern fielen? Zum Beispiel weil sie schwul oder lesbisch waren.
Die Doppelbelastung für Frauen im Realsozialismus, durch Lohn-Arbeit und care-Arbeit, klingt zwar immer wieder an, aber da hätte man sich auch ein wenig mehr gewünscht. Die Frauenrollen scheinen auch im realsozialistischen Hoyerswerda recht vorgezeichnet gewesen zu sein.
Ein Glossar für Wessis und Nachgeborene, welches bestimmte DDR-spezifischen Begriffe erklärt, wäre hilfreich gewesen. Manches erklärt sich aber auch aus dem Kontext, etwa warum der Zug aus der Lausitz nach Berlin im Volksmund „Sorbenschleuder“ hieß.

Das Buch ist klasse, auch durch die vielen Zitate. In ihm wird DDR-Alltagsleben beschrieben und allgemeine DDR-Alltagsgeschichte an einem spezifischen Beispiel nachgezeichnet. Hoyerswerda war einerseits als proletarische Planstadt etwas besonders und andererseits war vieles auch irgendwo typisch.
„Wenn jemand schon unbedingt in die DDR wollte: Mehr davon als bei uns gibt es woanders nicht …“ (Seite 51)
Die positiven Stimmen zu dem Buch von Grit Lemke sind auf jeden Fall gerechtfertigt. Unbedingt lesen!

Grit Lemke: Kinder von Hoy, Berlin, 4. Auflage 2022.

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Buchkritik: „Rechter Terror“ von Martin Steinhagen

Der Journalist Martin Steinhagen hat 2021 das Buch „Rechter Terror. Der Mord an Walter Lübcke und die Strategie der Gewalt“ veröffentlicht. In diesem berichtet er über den Prozess gegen Stephan Ernst und Markus H. wegen des Mords an dem Regierungspräsidenten und CDU-Mitglied Walther Lübcke in der Nacht vom 1. auf den 2. Juni 2019. H. galt lange als möglicher Komplize von Ernst bei der Tat – einige Beobachter*innen halten das auch weiter für wahrscheinlich.
Der Prozess umfasste 45 Verhandlungstage zwischen dem 16. Juni 2020 und dem 28. Januar 2021 und das Beweis-Material wurde in 260 Ordnern abgeheftet.

Sowohl den Haupttäter als auch das Opfer porträtiert der Autor. Stephan Ernst, Jahrgang 1973, blickt auf eine lange ‚Karriere‘ rechter Gewalt zurück. Bereits im April 1989 beging er als 15-Jähriger aus rassistischen Motiven einen Brandstiftungs-Versuch. Es folgte u.a. der Messerangriff auf einen Kurden auf einer Bahnhofstoilette im November 1992, bei dem das Opfer schwer verletzt wurde, und im Dezember 1993 ein Rohrbombenanschlags-Versuch auf das Auto eines migrantischen Arbeiters. Selbst in der folgenden Untersuchungshaft verletzt er einen türkischen Mithäftling schwer.

Neben dem Fall Lübcke gibt Steinhagen in seinem Buch die Geschichte des Rechtsterrorismus in Westdeutschland bis 1990 und im wiedervereinigten Deutschland danach wieder und er zeichnet die extrem rechten Strukturen in Nordhessen nach, in denen sich Ernst und H. bewegten.
Vor 1990 gab es laut Forschungen der Historikerin Barbara Manthe in Westdeutschland mehr als 40 Gruppen und Alleintäter im Bereich Rechtsterrorismus, auf deren Konto mindestens 24 Todesopfer gehen.
Man erfährt im Buch z.B. dass der Rechtsterrorist Manfred Roder vom iranischen Mullah-Führer Khomeini inspiriert wurde und dessen Strategie, Reden von sich auf Kassetten zu verbreiten, kopierte.
Als grundsätzliches Ziel von Rechtsterrorismus macht Steinhagen den Kampf gegen Liberalisierung aus: „Meist geht es im weitesten Sinne um den Versuch, gesellschaftliche Prozesse der Liberalisierung mit Gewalt aufzuhalten. Erfolg haben die Täter damit im Großen und Ganzen nicht.“ (Seite 96)
Doch Rechtsterrorismus verändert sich im Laufe der Zeit: „Wenn für die 1970er Jahre eher die Befehl-und-Gehorsam-Wehrsportgruppen prägend sind, zeichnet sich schon in seit den 1980ern eine Tendenz zu teils spontanen Zusammenschlüssen, kleineren Einheiten oder Zellen ab. Trotz des in den 1990ern verstärkt zirkulierenden Konzepts vom »führerlosen Widerstand« gibt es zugleich weiter Versuche, hierarchische militante Organisationen aufzubauen, und viele der alten langlebigen Strukturen überdauern den Trend.“ (Seite 130)

Selbst wenn Ernst bei dem Mord ein Alleintäter gewesen sein sollte, so bewegte er sich doch jahrzehntelang in einer Neonazi-Szene und danach online in einer entsprechenden Filterblase. Ernst ist ein Beispiel für die „Generation Hoyerswerda“, benannt nach dem rassistischen Pogrom von Hoyerswerda, die zur „Generation NSU“ wurde.
Beim Inlandsgeheimdienst („Verfassungsschutz“) galt Ernst als „abgekühlt“. Dabei ist es gut möglich dass Ernst am 6. Januar 2016 Ahmed I. mit einem Messer verletzt hat. Der Fall wurde im Lübcke-Prozess auch aufgerollt, aber das Gericht war von den Indizien nicht überzeugt.
Steinhagen stellt fest, altgewordene Neonazis „passen ihre Aktivitäten ihren Lebensphasen an“ (Seite 158). Dabei war Ernst politisch nicht inaktiv. Er besuchte 2016 AfD-Demos in Erfurt und in Eisenach und nahm am 1. September 2018 mit H. an einer extrem rechten Demo in Chemnitz teil. Zudem spendete er an die AfD (2016, 2017), an den extrem rechten Musiker Chris Ares (August 2018), an die „Identitäre Bewegung“ (bis 2019 insgesamt 300 Euro) und an das extrem rechte Netzwerk „Ein Prozent“ (September 2016). Außerdem kaufte er bei dem neurechten Verlag Antaios ein. Hier wird exemplarisch vom Autor aufgezeigt dass sich Neue Rechte und alte neonazistische Rechte nicht so fern sind. Ernst ist ein klassischer Neonazis, aber seine Sympathien galten auch nicht-neonazistischen Gruppen der extremen Rechten wie etwa der „Identitären Bewegung“.
Offline hatte er neben H. Auch noch einen rechten Resonanz-Raum bei seinen Arbeits-Kollegen, die offenbar auch rechts und rassistisch eingestellt waren.

Martin Steinhagen zeichnet in seinem Buch auch die Internet-Karriere eines Video-Clips nach. Markus H. filmte den Auftritt von Lübcke am 14. Oktober 2015 in Lohfelden bei einer Diskussion um die Unterbringung von Geflüchteten. Er schneidet den Clip manipulativ zusammen, so dass der Eindruck entsteht der Saal sei gegen Lübcke und Lübcke würde die Neuankömmlinge den Autochthonen vorziehen. In Wahrheit legte Lübcke nur den Pöbler*innen nahe dass sie den Wohnort wechseln könnten, wenn ihnen eine parlamentarische Demokratie nicht gefalle. Außerdem positioniert sich Lübcke gegen „Armutsflüchtlinge“ vom Balkan.
Doch der von H. zusammengeschnittene Clip erweckt einen anderen Eindruck und geht viral. Allein das Original-Video sammelt bis zum Urteil gegen Ernst und H. im Januar 2021 über 400.000 Klicks. In den Jahren 2017 und 2019 wird der Clip nochmal von der AfD-Freundin und Ex-CDU-Parteifreundin Lübckes Erika Steinbach verbreitet. Selbst bei bei PEGIDA in Dresden vor 15.000 Menschen wird Lübcke von Akif Pirrinci in einer Rede erwähnt.
Steinhagen nennt den Clip „Erregungsfutter“. Lübcke erhielt zeitweise Polizeischutz wegen der Hass-Wellen.
Offenbar erliegen Ernst und H. ihren eigenen Manipulationen. Der Erfolg des Clips bestärkt Ernst: „Er sieht sich offenbar als Teil einer Bewegung: »… wir sind nicht mehr allein und wir werden mehr.«“ (Seite 198)
Ernst schreitet zur Tat, er ist nicht der einzige alte Neonazis, der wieder aktiv wird. Auch der Angriff auf die Kölner OB-Kandidatin Henriette Reker am 17. Oktober 2015 wurde z.B. durch einen ‚wiederaufgetauten‘ Alt-Neonazi begangen.

Die seit 2015 verstärkt einsetzende rassistische Welle ist eine gemeinsame inhaltliche Klammer: „Vom Volkstod-Wahn der Neonazi-Szene bis zum »Deutschland schafft sich ab«-Raunen in Bestsellern ist die Vorstellung einer existenziellen Bedrohung des völkisch verstandenen »deutschen Volkes« weit verbreitet.“ (Seite 192)
Rechte Untergangsszenarien führen zu scheinbar notwendigen Vorbereitungen und diese wiederum verleiten schlimmstenfalls zu Taten: „Von den angesammelten Waffen – angeblich ja bloß für den Fall der Selbstverteidigung beschafft – kann eine Art Handlungsdruck ausgehen. Wie lange noch zusehen, wenn man doch vorbereitet ist?“ (Seite 254)

Das Buch ist sowohl für Thema-Einsteiger*innen etwas als auch für ‚Fortgeschrittene‘ im Thema. Es liest sich schlüssig und schnell.
Der journalistische Stil Szenen so zu beschreiben als wäre man dabei gewesen, etwa den Mord an Walter Lübcke, ist eindrucksvoll, kann aber manchmal zu sehr den Eindruck erwecken der Autor hätte die Szene selbst erlebt. Das ist aber eine Geschmackssache.
Die Lektüre des Buches sei jeder/jedem am Thema Interessierten ans Herz gelegt.

Martin Steinhagen: Rechter Terror. Der Mord an Walter Lübcke und die Strategie der Gewalt, Hamburg Mai 2021.

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Buchkritik: „22 Bahnen“ von Caroline Wahl

In ihrem Roman „22 Bahnen“ erzählt Caroline Wahl die Geschichte von Tilda Schmitt. Tilda lebt in einer unbenannten Kleinstadt mit ihrer kleinen Schwester Ida und ihrer Mutter im traurigsten Haus in der Fröhlichstraße. Ihre Mutter ist Alkoholikerin und phasenweise gewalttätig. Ihr Vater hat sich schon vor langer Zeit davon gemacht. Trotz dieser erschwerten Bedingungen schlägt sich Tilda durch. Sie arbeitet an der Supermarktkasse, sie studiert Mathe in einer Stadt, die einen Fahrtstunde entfernt liegt, und sie geht schwimmen. Immer 22 Bahnen. Wenn es regnet, kommt manchmal Ida mit. Im Schwimmbad begegnet Ihr Viktor Wolkow, der große Bruder von Ivan. Ivan war der Freund von ihrer besten Freundin Marlene. Er ist mit seiner Familie vor fünf Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen als sie sich gerade annäherten. Letztendlich kommen sich Tilda und Viktor näher, beide haben mehr auf ihren Schultern als viele andere Menschen in ihrem Alter. Deswegen betrachtet Tilda das unbeschwerte Studi-Leben der Anderen oft mit Neid. Denn sie muss sich um ihre kleine Schwester kümmern und Geld verdienen.
Das unbeschwerte Leben ihrer Freundin Marlene in Berlin stellt einen Kontrast zu ihrem Leben dar: „Während Marlene ein Gap-Year gemacht hatte, um sich selbst zu finden, jobbte ich inzwischen Vollzeit im Supermarkt, um mein im Herbst beginnendes Mathematikstudium zu finanzieren.“ (Seite 55)
Schon vorher hatte die Zahnarzt-Tochter Marlene mit ihrer Bilderbuch-Familie ein Leben, was Tilda beneidete. Denn ihre Familie ist keine „Abendbrot-Familie“, wie sie es nennt.
Das Mathe-Studium ist ihre Rettungsinsel vor dem Chaos in ihrem Leben, genauso wie das Schwimmen.

Die Autorin schreibt gut und authentisch, etwa wenn sie über den Prüfungsstress an der Universität schreibt: „Wie immer riecht es in den Unigebäuden in den letzten 2 Wochen vor den Semesterferien nach Stressschweiß, Kaffee und Tränen, und ich verbiete mir, mich von dieser Massenhysterie mitreißen zu lassen. Keine Kapazitäten. Wenn sich die Studenten in dieser Zeit wie von einem verrückten Virus infiziert, mit Augenringen unter den Augen, in Jogginghosen und mit riesengroßen Taschen volle Tupperdosen und Energydrinks in die Unis schleppen, als würden sie in den Krieg ziehen, und ihre Zelte an allen verfügbaren Tischen auf dem Gelände aufschlagen, finde ich das ein bisschen lustig, aber in erster Linie ärgere ich mich, dass mein Platz in der Unibib direkt am Fenster besetzt ist und auch alle anderen.“ (Seite 48)

Das Buch ist auch eine Liebesgeschichte, aber am anrührendsten ist die Liebe zwischen den beiden Geschwistern Tilda und Ida.
Obwohl das Buch nur knapp über 200 Seiten hat, ist es nicht zu kurz, sondern hat genau die richtige Länge.
Lest unbedingt mal rein!

Caroline Wahl: 22 Bahnen, Köln 2023.

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Buchkritik „Herkunft“ von Saša Stanišić

BILD Buch.Herkunft.by.Stanisic, Sasa

Das Buch „Herkunft“ hat Saša Stanišić 2018 verfasst. Es handelt sich um eine autobiografisch geprägte Splittersammlung von Anekdoten, Episoden und fiktiven Erzählungen, die grob chronologisch ist.
Der aus Bosnien-Herzegowina stammende Autor beschäftigt sich in seinem Buch mit dem Thema „Herkunftskitsch“, wie er selbst schreibt.
Eine besonders große Rolle nehmen seine jugoslawischen Großeltern ein.
„Großmutter entstammte einer Familie und einer Zeit, in der die Männer Schafe schoren und Frauen Pullunder strickten. Manieren blieben anwendungsbezogen, Fantasien unausgesprochen, die Sprache war präzise und grob. Dann kam der Sozialismus und diskutierte die Rolle der Frau, und die Frau ging aus der Diskussion nach Hause und hängte die Wäsche auf.“ (Seite 22)
Immer wieder taucht das titelgebende Thema Herkunft auf, oft in Frageform:
„Provenienz der Eltern? Gene, Ahnen, Dialekt? Wie man es dreht, Herkunft bleibt doch ein Konstrukt! Eine Art Kostüm, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestülpt worden ist. Als solches ein Fluch! Oder, mit etwas Glück, ein Vermögen, das keinem Talent sich verdankt, aber Vorteile und Privilegien schafft.“ (Seite 33)

Im Buch spielt auch der bosnische Bürgerkrieg und seine Nachbeben eine Rolle. Vor diesem flüchtete seine Eltern 1992 mit dem damals noch jungen Autor nach Deutschland. Eine Großmutter bleibt dagegen zurück. Die Ankunft in Deutschland ist ein Neuanfang in Armut. Die Eltern arbeiten sich kaputt, die Mutter in einer Wäscherei und der Vater auf dem Bau.
Immer wieder wird der Autor mit Rassismus konfrontiert:
„Wir tragen Häkchen im Namen. Jemand, der mich gern hatte, nannte meine mal »Schmuck«. Ich empfand sie in Deutschland oft eher als Hindernis. Sie stimmten Beamte und Vermieter skeptisch, und an den Grenzen dauerte die Passkontrolle länger als bei Petra vor und Ingo hinter dir.“ (Seite 61)
Nach ein paar Monaten in Deutschland wird die Familie im Emmertsgrund ansässig. Hier konzentrieren sich migrantische Bewohner*innen:
„Im Emmertsgrund wohnen besonders viele Migranten. Das ist in Deutschland überall gleich: Migranten wohnen meistens im Besondersviel. Touristen fahren tendenziell erst zum Brandenburger Tor, andere Touristen gucken, dann nach Neukölln, Kaffee trinken und Araber gucken, und das wird sich nicht so schnell ändern, da können wir interkulturelle Dialoge fürs Theater bis übermorgen schreiben.“ (Seite 126)
Im Jahr 1998 wandern seine Eltern nach Florida aus, um nicht nach Bosnien abgeschoben zu werden. Nur der Autor kann bleiben, um Schriftsteller zu werden. Er zieht für sein Studium ins Heidelberger Zentrum:
„Nach den Emmertsgrund, dem Ungeschliffenen, durfte ich bald die Altstadt [von Heidelberg], den Schmuckkasten, mein nennen. Die besten Hanglagen bewohnten hier nicht Migranten, sondern Burschenschaftler. Die Altstadt war stolz auf sich. Dass sie älter wurde, aber nicht älter aussah. Der Verfall wurde aufgehalten oder kaschiert. Man war stolz auf das Abschneiden der Universität in den Rankings, auf das Verschontgebliebensein von amerikanischen Bombern. Auf die Ausländer im Emmertsgrund war man sowieso stolz. Solange wir keinen Scheiß bauen.“ (Seite 128-29)
Der Autor stellt fest dass im Gegensatz zu den Kindern des deutschen Bürgertums das kulturelle Kapital fehlt.
Doch der Autor wird ein erfolgreicher Schriftsteller und hat selber ein Kind.
Währenddessen leidet seine bosnische Großmutter unter Demenz:
„Über ihr Jetzt hat sich ein Schleier aus Damals gelegt. Fiktionen sind hineingewoben.“ (Seite 47)
Stanišić tritt eine Reise nach Bosnien an, vermutlich um seine Großmutter ein letztes Mal zu treffen.

Das Buch liest sich schön und am Ende gibt es sogar eine Variante eines Pen&Paper-Spiels.
Allerdings ist die Komposition des Buchs möglicherweise nicht jedermanns Sache.
Vielleicht erstmal rein lesen und dann entscheiden, ob es zusagt.

Saša Stanišić: Herkunft, München 2019.

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Buchkritik „Solidarität“ von Natascha Strobl

Auf der Buchmesse in Leipzig habe ich mir das 2023 erschienene Büchlein „Solidarität“von Natascha Strobl gekauft und gleich signieren lassen. Es ist in einer Buchreihe mit dem schönen Namen „übermorgen Reihe“ erschienen.
Wie die Autorin selbst schreibt, ist es ein „Plädoyer für Mut und Zuversicht“ und ein „Antidot gegen Fatalismus, Zynismus und Defätismus“. In ihrem Buch plädiert Strobl für eine solidarische Krisenbearbeitung jenseits von einer liberalen oder einer autoritären.
Die liberale Krisenbearbeitung versucht die ‚gute alte Zeit‘ zu bewahren bzw. zu ihr zurückzufinden. Gegen diese 1990er-Jahre-Nostalgie wendet sich Strobl vehement: „Mittlerweile haben wir aber eine gänzlich andere Situation. Die Krise ist zur Normalität geworden und keine nervende Episode mehr, die vorübergeht. Die alte Normalität kommt nicht wieder. Sie ist unwiederbringlich weg. Diejenigen, die in der Asche dieser Normalität wühlen und glauben, dass sich daraus wieder Realität basteln ließe, haben den Blick auf die Gegenwart verloren.“ (Seite 29)
Ein Zurück gebe es nicht mehr: „Es gibt kein Zurück mehr in die Nachkriegsdemokratie mit all ihren Fehlern. Es gibt nur ein Vorwärts in der Geschichte. Das bedeutet, dass sich die Art, wie wir leben, wirtschaften, produzieren, wie wir wohnen, mobil sind, essen und arbeiten, grundsätzlich verändern wird.“ (Seite 41)
Diese konservative und sozialdemokratische Nostalgie ist stark verbunden mit dem von den 1980ern bis 2008 führenden Neoliberalismus. Doch die tonangebende Kapitalfraktion des Finanzkapitals wird nach Strobl von der jüngeren Fraktion des Tech-Kapitals herausgefordert. Das Tech-Kapital wird dabei verkörpert durch Personen wie Jeff Bezos, Elon Musk, Marc Zuckerberg oder Peter Thiel. Diese unterstützen zum Teil autoritäre Varianten der Krisenbearbeitung: „Hier sind vor allem die Milliardäre des Tech-Kapitals federführend, etwa Peter Thiel und Elon Musk, die offen für Trump eintreten und/oder antidemokratische Visionen ventilieren. Die Verbindung von ultraliberalem Wirtschaftsdenken und rechtem Kulturkampf eröffnet noch einmal ein ganz eigenes Einfallstor für autoritäre Lösungen, die zugleich technikaffin und demokratiefeindlich sind.“ (Seite 36)
Für Strobl ist die Wahl Trumps 2016 aber ein „Symptom der Krisen“ und nicht deren Ursache

Wie in ihrem gleichnamigen Buch warnt Strobl vor einem „radikalisierter Konservatismus“ als einer Art ‚Faschisierung‘. Es fragt sich aber, ob es sich nicht zum Teil um einen re-radikalisierten Konservatismus handelt, wenn man sich z.B. die Vertreter des (west-)deutschen Nachkriegs-Konservatismus wie Adenauer oder Strauß anschaut, die stark autoritäre Züge aufweisen. Zudem scheinen sich manche Konservative nur auf ökonomischer Ebene zu radikalisieren. Friedrich Merz hat die in ihn gesetzten rechtskonservativen Hoffnungen aus Sicht der Rechtskonservativen größtenteils enttäuscht. Er poltert zwar hin und wieder, aber ein wirklich rechtskonservatives Programm scheint er nicht zu haben.
Der politische Feind ist dabei oft nicht gut greifbar, denn es kam zu einer Art von Dezentralisierung der extremen Rechten: „Herkömmliche Formen der Organisierung sind in Zeiten von Social Media immer seltener. Vielmehr ist ein großes transnationales, diffuses Netzwerk an extrem rechten, konservativen und faschistischen Influencer:innen, Medienprojekten und Verlagen entstanden, das den globalen Kulturkampf vorantreibt.“ (Seite 33)
„Es gibt kein einzelnes hegemoniales Zentrum, das Vorgaben macht oder die Agenda setzt. Vielmehr passiert eine pausenlose gegenseitige Radikalisierung durch überzeichnete Anekdoten, Halbwahrheiten, Verzerrungen und Lügen.“ (Seite 34)

Strobl empfiehlt Linken sich von den bewahrenden autoritären Kräfte abzugrenzen und eben eine dritte Variante der Krisenbearbeitung anzubieten, jenseits einer autoritärer Krisenbearbeitung oder eines grünen Kapitalismus. Denn: „Konkrete und praktische Hoffnung auf eine radikale Änderung der Verhältnisse war immer die stärkste Waffe linker Politik.“ (Seite 68)
Das ist sicherlich richtig, aber manchmal bildete sich ein Bündnis von Linken mit bewahrenden Kräften, um eine rechte Machtübernahme zu verhindern. Da ist dann Biden besser als Trump und Macron besser als LePen.
Strobl jedenfalls plädiert für einen „solidarischen Antikapitalismus“ und dafür, die solidarische Klammer möglichst breit anzusetzen, um Mehrheiten zu gewinnen.
Ein grüner Kapitalismus, wie ihn die bewahrende Krisenbearbeitung, offeriert, würde eine Individualisierung der Krisen-Lasten bedeuten. Um der Gerechtigkeit willen dürfen die Krisen-Lasten aber nicht gleichmäßig verteilt werden, da sie gar nicht gleichmäßig verursacht wurden. In diesem Zusammenhang wendet sich Strobl auch gegen eine individuelle Verzichtsethik. Der Verzicht des Individuums sei nicht entscheidend, wenn 70% des globalen CO2-Ausstoß von nur 100 Firmen stammt.

Am Ende des Buchs finden sich „Beispiele für praktische Solidarität in der Gegenwart“ verkörpert durch die O-Töne von NGOs.

Drei kleine Kritikpunkte:

  • Die Zeitdiagnose, dass die Krise zur Normalität geworden sei, stimmt zwar für den Westen, aber damit ist die Krise vor allem in den Metropolen angekommen. Es sollte nicht ignoriert werden dass sie schon vor 2008 die Katastrophe in anderen Weltteilen für große Teile der Bevölkerung bittere Realität war.
  • Irgendwie hat sie das Thema Artensterben etwas vergessen. Sie erwähnt nur den Klimawandel.
  • Die hindunationalistische Partei BJP von Narendra Modi in Indien war nie „nur konservativ“, sie hatte immer einen hindunationalistische Charakter und in Teilen faschistoide Züge.

Die Lektüre des Buch lohnt sich. Der Preis ist aber mit 20 Euro ein wenig viel in Anbetracht der Seitenzahl.

Natascha Strobl: Solidarität, Wien 2023.

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Buchkritik „Unter Palmen aus Stahl“ von Dominik Bloh

Die 2021 erschienene Autobiografie „Unter Palmen aus Stahl“ von Dominic Bloh ist das Selbstzeugnis eines ehemaligen Obdachlosen. Davon gibt es inzwischen einige, so dass man nicht mehr nur auf investigative Journalist*innen angewiesen ist, die Obdachlosigkeit simulieren, um darüber schreiben zu können.

schwierige Jugend
Bloh wächst in einer Familie auf, die den „Zeugen Jehovas“ angehört. Die haben ohnehin sehr einengende Regeln und gleichzeitig erfährt er auch Gewalt durch einen Partner seiner Mutter. Die Mutter trennt sich von dem Partner und Bloh lebt mit einer psychisch kranken Mutter in Hamburg. Dann zieht er mit seiner Mutter 2003 von Hamburg nach Vöhringen. Hier muss er sich als Großstadt-Junge erst integrieren. Über Sport findet er Zugang. Seine Vorlieben sind Hiphop und Basketball („Basketball ist schon immer mehr als ein Sport für mich.“, Seite 50).
In Vöhringen leben seine Großeltern, doch im Oktober 2004 stirbt seine Oma:
„Sie ist die einzige, die mich in den Arm nimmt.“ (Seite 54), schreibt er. Offenbar gab es nicht viel Zärtlichkeit in seiner Jugend.
Seine Mutter ist arm, was ihm aber erst relativ spät so richtig bewusst wird. Diese Armut macht ihn in der Schule zum Außenseiter, genauso wie seine Locken, seine Neurodermitis und seine Schuppenflechte. Die Cortison-Tabletten gegen die Neurodermitis lassen ihn auch noch aufdünsen. Später lässt er die schlimmsten rote Flecken auf seiner Haut mit Tattoos überstechen: „Die schlimmsten Stellen sind mit schwarzer Tinte übermalt.“ (Seite 39)
Er versucht sich anzupassen gerät gleichzeitig in eine Clique von gleichaltrigen Kleinkriminellen. Die Gruppe verübt kleinere Diebstähle und Einbrüche in Gartenlauben und man betätigt sich ab der achten Klasse als Gras-Dealer. Das erste Gras klaut er seinem Stiefvater, der ebenfalls dealt. Einerseits wird er dadurch plötzlich beliebt, andererseits kommt es zu Verteilungskämpfen mit älteren Dealern und er gerät in den Fokus der Polizei. Erstmals richtig festgenommen wird er mit 15.

auf der Straße gelandet
Auf die Straße gerät er mit 16 Jahren, weil seine Mutter ihn im Februar 2005 mitleidslos hinaus wirft. Mit kleinen ‚Pausen‘ ist Bloh dann von 16 bis 28 obdach- und wohnungslos. Manchmal ist er irgendwo Kurzzeit-Untermieter, was aber nie länger hält. Zwischendurch hat er eine kurze Kiez-Karriere als eine Art Geldeintreiber für einen Luden. Doch das stellt keine Zukunft für ihn dar und er quittiert den Job.

Eigentlich wäre damals ein Amt für den minderjährigen Obdachlosen zuständig. Doch sein Fall wird hin und her geschoben und so richtig fühlt sich niemand verantwortlich. Die Ämter-Bürokratie ist gnaden- und empathielos. Er schildert die Demütigung durch Gutscheine infolge einer Sperre: „Die Sanktionen vom Amt sind schwer zu ertragen. Sie sind demütigend und erniedrigend. Ich bekomme wieder Lebensmittelgutscheine. […] Ich versuche immer zu warten, bis eine Kasse frei ist, doch man kann auch nicht überall den Gutschein einlösen, meistens geht das nur in großen Supermärkten. Also steht hinter mir doch oft eine Schlange und beobachtet das Schauspiel. Dieses Papier kennen nur wenige Kassierer, und die Umstehenden haben es wahrscheinlich auch noch nie gesehen. Die Kassierer nehmen mir den Zettel ab und legen ihn vor sich. Zum Abgleich , dass ich auch wirklich die Person bin, die über den Gutschein verfügen darf, muss ich meinen Ausweis zeigen. Der Kassierer alleine ist nicht befugt, den Gutschein als Zahlungsmittel einzulösen, er muss den Filialleiter dazuholen. Der Filialleiter prüft erneut und mit einem deutlich Strengeren Blick das Papier und den Ausweis, dann tippt er etwas in die Kasse, und der Kassierer behält den Gutschein ein. Das Ganze dauert fünf Minuten. Die Zeit geht nicht rum, und jede einzelne Sekunde möchte ich nicht ich sein.“ (Seite 84-85)
Auf dem Amt wird er nicht mehr als Individuum wahr genommen, sondern ist nur noch eine Nummer: „Hier ist es zum ersten Mal passiert. Ein Mensch unterhält sich mit mir, ohne mit mir zu reden. Sein Blick ist immer nur auf die Papiere vor ihm gerichtet. Mit mir spricht er nicht, als Mensch nimmt er mich nicht wahr. Ich bin eine Akte.“ (Seite 69)

Einmal verschafft ihm das Amt auch eine ‚Wohnung‘, die aber seiner Beschreibung nach eher eine bessere Baustelle ist. Die Wohnung ist ohne Strom und Boden. Er ist auch hilflos, weil ihm niemand die notwendigen Amts-Besorgungen etc. erklärt hat und landet schließlich wieder auf der Straße.
Trotz der mehr als widrigen Umstände geht Bloh als Obdachloser ein Jahr lang weiter zur Schule und sogar im Alter von 23 sein Abitur. Was ihn neben der Motivation sein Abitur zu machen, um es einem ignoranten Lehrer zu zeigen, auch psychisch am Leben erhält, ist sein Schreiben: „Die Wörter helfen mir dennoch weiter durch die Nacht zu kommen.“ (Seite 113)
Auch von Rapsong-Zeilen. Einige Zitate sind im Buch eingestreut.
Vor Freund*innen kaschiert er seine Obdachlosigkeit, auch aus falschen Stolz. Er ernährt sich u.a. von McDonalds-Ein-Euro-Burgern und entwickelt wie jeder Obdachlose Überlebens-Techniken.
Bloh schreibt über seine Straßen-Zeit: „Überleben ist kein Leben.“ An anderer Stelle schreibt er: „Abgekapselt von der Außenwelt. Gleichzeitig permanent meiner Außenwelt ausgesetzt. Ich überlebe in ihr.“ (Seite 111)

Er überlebt auch als Pfandflaschensammler. Er beschreibt sehr authentisch wie dieses Mülleimer-Durchforsten sich anfühlt:
„In Mülleimer fassen, das ist demütigend, niemand sollte das tun müssen. Es sind nicht nur Obdachlose, die in Abfällen auf der Suche nach Pfand oder Verwertbarem sind. Ich sehe Altersarmut. […] In der heißen Jahreszeit fühlt es sich an, als würde man in einen Sumpf greifen. Fast-Food-Reste und klebrige Softdrinks mischen sich, die Hitze wärmt den Brei auf und verbreitet seinen Gestank. Es ist nicht schön, mit der Hand da reinzugehen, vor allem klebt es an einem.“ (Seite 92-93)
Zu Recht kritisiert er das System der Freiheitsersatzstrafe für arme Menschen: „Ich habe nie verstanden, wieso Menschen, die nichts haben, Geldstrafen bekommen, ich werde es nie verstehen.“ (Seite 85-86)

Er ist Gewalt, Hitze und Kälte ausgesetzt und schildert seine Erlebnisse. Die Umstände machen ihn dauerkrank. Der ständige Überlebenskampf auf der Straße verhindert es Pläne und Perspektiven zu entwickeln:
„Es bleibt immer die Frage: Wohin als Nächstes? Überlegungen verlaufen ins Leere wie die Wege, die ich gehe.“ (Seite 112)
An anderer Stelle schreibt er traurig: „Alle Wege auf der Straße führen in die Einsamkeit.“ (Seite 132)
Eine Grund-Hygiene auf der Straße einzuhalten ist natürlich sehr schwierig: „Körper und Geist gehen Hand in Hand. Das äußerliche Erscheinungsbild schlägt sich auf mein inneres Befinden aus. Ich hatte kein Selbstbewusstsein mehr, keine Selbstsicherheit, kein Selbstwertgefühl. Ich war immer dreckig und irgendwann habe ich mich selber nur noch für Dreck gehalten.“ (Seite 120-121)

Dazu kommen die sozialdarwinistischen Anfeindungen durch Teile der Bevölkerung: „Ich kriege Sprüche an den Kopf geknallt, häufiger als nette Worte oder mal ein freundliches Lachen. „Such dir einen Job, du Penner!“, das ist mir Sicherheit der Satz, den ich am meisten anhöre.“ (Seite 122)
„Ich glaube, dass es nicht viele Menschen gibt, die sich an einem Tag so viele Beleidigungen anhören müssen wie Obdachlose.“ (Seite 134)
Ebenso kommt es zu Übergriffen: „Ich werde in viele Schlägereien verwickelt, die immer von derselben Art Menschen ausgehen. Typen, die keinen Wert in uns sehen und denken, sie könnten tun, was sie wollen.“ (Seite 137)

Im Jahr 2015 engagiert er sich in der Flüchtlingshilfe, bekommt Anerkennung und zieht in eine Studi-WG ein. Von hier aus organisiert er sich eine Wohnung und entkommt der Straße.

Die Lektüre geht des Buchs an die Nieren und soll es auch. Es wird das harte Leben eines ‚Bürgersteigkindes‘ geschildert. Immerhin mit Happy End.
Der Kauf lohnt sich!

Dominic Bloh: Unter Palmen aus Stahl, Weinheim 2021.

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Buchkritik „The Making of an Englishman“ von Fred Uhlman

Auf einer Führung durch die Gedenkstätte „Hotel Silber“, dem ehemaligen Gestapo-Quartier in Stuttgart, empfahl die Führerin Janka Kluge die Autobiografie „The Making of an Englishman“ von Fred Uhlman (1901-1985). Ich habe mir das Buch bestellt und mit Wissensgewinn und mit viel Vergnügen gelesen.
Das Buch erschien bereits 1960 auf Englisch und 1998 in Deutsch. Fred Uhlman beschreibt darin sein Leben bis 1933 in Deutschland und ab 1933 im Exil.

Kindheit und Jugend
Uhlman kam aus einer jüdisch-säkularen wohlhabenden Familie. Doch Geld allein macht nicht glücklich, seine Eltern waren unglücklich in einer arrangierten Ehe gefangen.
Das Judentum spielte für Uhlman in seiner Kindheit und Jugend kaum eine Rolle. Doch Erfahrungen mit Antisemitismus machte er immer wieder. Laut ihm machte machte der christliche Religionsunterricht an seiner schule sogar aus ihm selbst „einen kleinen Antisemiten“.
Er schrieb über den Charakter von Antisemitismus: „Antisemitismus ist eine seltsame Krankheit, die sich an den unwahrscheinlichsten Stellen ausbreitet. Er ist bei vielen, die davon nichts ahnen, unterschwellig vorhanden. Sie sind dann bestürzt und beschämt, wenn er bei ihnen hervortritt. Der eine kann unser Freund sein und uns in sein Haus einladen, aber er würde eher sterben, als uns in seinen Club mitzunehmen. […] Meine eigenen Erfahrungen haben in mir eine gewisse Empfindlichkeit hinterlassen, die Angst, verletzt zu werden. Wie ein Seismograph fühle ich die kleinste Erschütterung und neuen Bekannten gegenüber bin ich instinktiv vorsichtig.“ (Seite 41)
In der Novemberrevolution 1918 wird er Mitglied einer reaktionären Einwohnerwehr, die sich vor allem aus Schülern seines Gymnasiums zusammen setzt.

Studium und Arbeit als Rechtsanwalt
Dann beginnt Uhlman ein Jura-Studium in Freiburg, München und Tübingen. In Freiburg wurde er Mitglied der schlagenden jüdischen Studentenverbindung Ghibellinia im KC. Eine nicht-jüdische Verbindung war ihm als Juden nicht zugänglich: „Alle Verbindungen hatten etwas gemeinsam: Sie nahmen keine Juden auf, verachteten die »Spießbürger« (das heißt, die Einwohner der Stadt) und hatten keinerlei Kontakt mit der Arbeiterklasse.“ (Seite 75)
Alle Bemühungen halfen nichts. So schrieb er über einen jüdisch-stämmigen, konvertierten Kommilitonen in Tübingen: „Einer von ihnen war Jordan, der aus einer vornehmen, aber getauften jüdischen Familie stammte. […] Er biederte sich den unbedeutendsten, nichtjüdischen Studenten an, um in ihrer Gesellschaft gesehen zu werden. Aber trotz aller Bemühungen war er meistens alleine. Jede Verbindung, in die er eintreten wollte, hatte ihn abgelehnt.“ (Seite 112)
Uhlman schreibt auch über das unter ’schlagenden‘ Verbindungen praktizierte Mensur-Fechten: „Wer Glück hatte, erhielt einen schönen Durchzieher – einen geraden Schlag, der die Wange spaltete und gelegentlich ein paar Zähne ausschlug. Wer aber Pech hatte, erhielt einen Schlag über den Mund oder die Nase, was in der Tat sehr unangenehm war. Eine »geraden« zu bekommen war der Traum eines jeden Corpsstudenten, aber überhaupt einen Schmiss zu haben war besser als keinen, da er der Öffentlichkeit bewies, daß man »etwas Besseres« war – ein Akademiker.“ (Seite 80-81)
Nach einem einjährigen Aufenthalt in München, studiert Uhlman in Tübingen zu Ende, aber er wird mit der Stadt nicht warm: […] war ich entschlossen, Tübingen so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Ich haßte die Atmosphäre von Armut und Hoffnungslosigkeit, aber noch mehr die wachsenden politischen Spannungen. Fast alle Studenten waren nationalistisch und reaktionär, und es kursierten Geschichten von geheimen Wehrübungen und versteckten Waffen. Die meisten von ihnen haßten die Novemberverbrecher, die für die Novemberrevolution von 1918 verantwortlich waren; die meisten von ihnen hatten sich eingeredet, daß Deutschland den Krieg nie verloren hätte, wenn es nicht den Dolchstoß durch Juden, Freimaurer, Bolschewiken und andere dunkle Mächte gegeben hätte.“ (Seite 112)
Nach seinem abgeschlossenen Studium 1927 begann Uhlman als Rechtsanwalt in Stuttgart zu arbeiten. Er wird aktives Mitglied der SPD und schreibt seine Kanzlei wäre „seit 1930 hauptsächlich damit betraut“ gewesen, „die Verteidiger der Weimarer Republik zu verteidigen.“ (Seite 151). Damit meint er SPD- und Reichsbanner-Mitglieder. Seine besondere Bewunderung gilt dem SPD-Politiker Kurt Schumacher.
Die SPD wurde damals auch von Parteikommunisten sabotiert und angegriffen, worüber Uhlman wütend berichtet.

Im Exil
Als Jude und SPD-Mitglied ist klar dass er nicht lange ohne Probleme im Machtbereich Hitlers bleiben kann.
Nach einem warnenden Hinweis flieht Uhlman am 23. März 1933 als 32-jähriger Rechtsanwalt von Stuttgart nach Paris.
Hier versucht er ein Auskommen zu finden. Gleichzeitig arbeitet er gegen das Hitler-Regime und ist im „Freien Deutschen Klub“ in Paris aktiv.
Nach mehreren gescheiterten Versuchen wird er als 34-Jähriger als Autodidakt Maler. Bei einem Aufenthalt in dem kleinen Ort Tossa lernt er die Engländerin Diana Croft kennen. Sie wird seine spätere Frau werden und ist die Tochter des adeligen, christlichen Tory-Abgeordneten Sir Henry Page Croft. Dieser ist nicht ‚amused‘ das seine Tochter einen Deutschen, Sozialisten, Juden und Künstler heiratet, denn dadurch wird seine Tochter unzweifelhaft deklassiert.
Er zieht nach London und wird ein ‚Englishman‘. Sein Buch ist voll des Lobes über England, was ihm zuerst so unbekannt ist wie China.
Die ersten Jahre lebt das Ehepaar in London, auch der bekannte Künstler John Heartfield lebte vier Jahre in dem Haus der Uhlmans dort.
Fred bleibt weiterhin antinazistisch aktiv, nämlich in der 1939 gegründeten „Free German League of Culture“. Diese wird aber kommunistisch unterwandert, was den antistalinistisch eingestellten Uhlman ärgert, da er mit ideologisch verhärteten Parteikommunisten schlechte Erfahrungen gemacht hat: „Ich hatte schon vor längerer Zeit beschlossen, mit einem Kommunisten nicht über Politik zu reden – es war so sinnlos, als ob man mit einem fanatischen Araber über Allah diskutierten wollte.“ (Seite 302)
Trotz seiner antinazistischen Einstellung wird Uhlman nach Kriegsbeginn 1940 für sechs Monate in ein Internierungslager auf der Insel Man gesteckt. Hier begegnete er bekannten Künstlern wie Kurt Schwitters oder Oskar Kokoschka.
Während er im Exil ist, wurden im Holocaust mehrere Familien-Mitglieder Uhlmans ermordet, sein Eltern in Theresienstadt und seine Schwester in Auschwitz.

Trotz der harten Zeiten ist das Buch stellenweise sehr amüsant. So schreibt der Autor über die Bayern: „Jahrhunderte heftigen Bierkonsums hatten weder die Schönheit noch die Intelligenz der Bayern vergrößert. Die Einwohner der höher gelegenen Gegenden in Bayern schienen mir einen sehr niedrigen Intelligenzquotienten zu haben. Ich glaube es ist leicht einzusehen, warum dieser Teil Deutschlands die Wiege des Nationalsozialismus werden sollte. Nirgends sonst in Deutschland hätte Hitler mehr Chancen gehabt, seinen Anfangserfolg zu erringen, nirgends sonst hätte er einen solchen Gipfel an Trägheit, engstirnigen Provinzialismus und Fremdenhaß vorgefunden.“ (Seite 96)
Gerade für eine Autobiografie ist das Buch sehr kurzweilig. Nicht nur an Geschichte interessierte Menschen sollten es unbedingt lesen.

Fred Uhlman: The making of an Englishman: Erinnerungen eines deutschen Juden, Zürich 1998.

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Buchkritik „Transatlantik“ von Volker Kutscher

Das Buch ist wuchtig wie ein Backstein, goldene Lettern bilden den Titel und zwischen den Hardcover-Deckeln liegen fast 600 Seiten. Pünktlich vor Weihnachten ist mit „Transatlantik“ der neue Gereon-Rath-Kriminalroman von Volker Kutscher erschienen. Die Reihe ist erfolgreich, ebenso wie sie Verfilmung in Form der Serie „Babylon Berlin“.

Nach dem Tod von Abraham Goldstein während der Olympiade in Berlin 1936 ist dessen Partner John Marlowe vor der Rache der Nazis nach New York entkommen und Gereon Rath
wurde angeblich am 13. August 1936 in einem Schusswechsel getötet. In Wahrheit ist er in Wiesbaden untergetaucht. Doch auch hier soll in seine Vergangenheit einholen.
Währenddessen sucht seine vorgebliche Witwe, Charlotte Rath, genannt „Charly“, nach ihrer besten Freundin Greta. Diese ist nach dem Tod ihres ehemaligen Geliebten, des SS-Hauptsturmführer Klaus von Rekowski, verschwunden. Sie steht unter Mordverdacht.
Gleichzeitig versucht sie ihren 16-jährigen Ziehsohn Fritz aus der Anstalt zu bekommen, der in Breslau verhaftet wurde als er seine Jugendliebe Hannah besuchte, die eine untergetauchte Jüdin ist. Charlie kehrt extra aus dem Prager Exil zurück, um ihren Ziehsohn vor Gericht zu verteidigen.

Handlungsort ist neben Berlin auch New York. Der neunte Band der Rath-Reihe spielt im Jahr 1937 und damit am Ende des ersten Drittels der zwölfjährigen Geschichte des tausendjährigen Reiches. Kutscher beschreibt anschaulich und gut recherchiert wie sich der Nationalsozialismus sich immer tiefer in den Alltag eingefressen hat: „Viel zu viele ihrer Landsleute, viel mehr, als sie das jemals für möglich gehalten hätte, hatten sich mit den neuen Machthabern arrangiert, glaubten dem Versprechen von der Volksgemeinschaft und ignorierten die Willkür und Gewalt, die hinter der blitzsauberen Fassade des neuen Deutschlands lauerte.“ (Seite 337)

Kleine Klugscheißer-Anmerkung. Der Spitzname für Himmlers SS war „Schwarzes Korps“ und nicht „Schwarzes Corps“ (Seite 287).

Für Nichtkenner*innen der Krimi-Serie ist der Band 9 etwas schwierig ohne Vorwissen einzusteigen. Es wird empfohlen mit Band 1 anzufangen. Fans der Serie kommen auf ihre Kosten. Die Rolle von Charly ist inzwischen die der Hauptprotagonistin. Irgendwie hat man das Gefühl dass Kutscher ihr von Band zu Band mehr Raum einräumt. Der Preis von 26 Euro ist den gestiegenen Papierkosten sicherlich angemessen, mag aber ärmeren Krimi-Leser*innen doch zuviel sein.

Volker Kutscher: Transatlantik, München 2022.

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Buchkritik „Rückkehr nach Reims“ von Didier Eribon

Das Buch „Rückkehr nach Reims“ von dem französischen Soziologen Didier Eribon ist bereits 2016 (im Original 2009) auf Deutsch erschienen.
Der Autor Didier Eribon stammt aus einer Arbeiter*innen-Familie in Reims. Die titelgebende ‚Rückkehr‘ ist daher eine Rückkehr zu den eigenen Wurzeln.
Eribon beschreibt seine Familie. Seine Großmutter war Analphabetin, sein Onkel lebte als Landstreicher und seine Mutter war ein uneheliches Kind. Sein Vater schuftete als Hilfsarbeiter von 14 bis 65 in der Fabrik und seine Mutter war anfangs Putz- und Waschfrau.
Der Autor geht relativ weit zurück in seiner Fabrikarbeiter-Familiengeschichte. Er beschreibt die Einschläge durch den Weltkrieg oder wie sich seine Großmutter als Dienstmädchen der Avancen der Ehemänner erwehren muss.
Er plädiert dafür Familie nicht statisch zu sehen, da das Ideal von der Vater-Mutter-Kinder-Familie schon immer von der Wirklichkeit durch Verwerfungen durcheinandergewirbelt wurde. Das zeigt er anschaulich an seiner eigenen Familie.
Eribon ist der erste Akademiker seine Familie und ihm gelingt Dank seiner Bildungs-Karriere der soziale Aufstieg. Gleichzeitig kommt es zu einer Abwendung von seinem proletarischen Herkunftsmilieu, verstärkt durch seine Homosexualität. Er flieht regelrecht aus Milieu und Familie. Mit seinem Aufstieg beginnt Eribon seine Herkunft als Arbeiterkind zu verleugnen.
Er selbst schreibt:
„Um mich selbst neu zu erfinden, musste ich mich zuallererst abgrenzen.“
(Seite 52)
Zwar wird Eribon im Zuge der linken Studierenden-Bewegung im Selbstverständnis ein Marxist bzw. Trotzkist, aber das Proletariat ist im linksakademischen Milieu nur eine sehr abstrakte Kategorie. Sie ist eher ein mythisches Objekt und wird nicht als ein handelndes Subjekt wahr genommen.
„Ich glorifizierte die Arbeiterklasse, um mich leichter von den realen Arbeitern abgrenzen zu können. Wenn ich Marx und Trotzki las, glaubte ich, Teil der Avantgarde zu sein; viel eher markierten meine Lektüren aber den Eintritt in die Welt der Privilegierten […].“
(Seite 81)
Eribon dagegen kennt die Arbeiter*innen persönlich, was ihn in einen Zwiespalt führt :
„Politisch stand ich auf der Seite der Arbeiter, verfluchte aber gleichzeitig meine Herkunft aus ihrer Welt. Dass ich mich auf der Seite des »Volkes« verortete, hätte sicher weit weniger heftige Gewissensbisse und Zweifel in mir ausgelöst, wenn dieses »Volk« nicht meine eigene Familie, das heißt meine Vergangenheit und damit auch meine Gegenwart, gewesen wäre.“
(Seite 65)
Als Soziologie kehrt er nach Reims zurück, um sich mit seiner Herkunft und dem proletarischen Milieu auseinanderzusetzen.

Eribon weist darauf hin dass im Bürgertum die Abgrenzung von der Arbeiterklasse, er schreibt stellenweise auch von „populären Klassen“, und das Herabschauen auf sie der Distinktion dienen. Dies geschieht auch über die so genannte Hochkultur:
„Wie oft konnte ich in meinem späteren Leben als »kultivierte Person« die Selbstzufriedenheit besichtigen, die Ausstellungen, Konzerte und Opern vielen ihren Besuchern bereiten. Dieses Überlegenheitsgefühl, das aus ihrem ewigen diskreten Lächeln ebenso spricht wie aus ihrer Körperhaltung, dem kennerhaften Jargon, dem ostentativen Wohlgefühl … In all diesen Dingen kommt die soziale Freude darüber zum Ausdruck, den kulturellen Konventionen zu entsprechen und zum privilegierten Kreis derer gehören, die sich darin gefallen, dass sie mit »Hochkultur« etwas anfangen können.“
(Seite 98)
Dieser Klassismus muss dem Bürgertum und der Elite gar nicht bewusst sein:
„Die Herrschenden merken nicht, dass ihre Welt nur einer partikularen, situierten Wahrheit entspricht (so wie ein Weißer sich nicht seines Weißseins und ein Heterosexueller sich nicht seiner Heterosexualität bewusst ist).“
(Seite 92)

Das Buch hat auch insofern eine starke politische Dimension, da die autochthone Arbeiter*innen-Klasse in Frankreich immer mehr rechts wählt.
Zuvor hatten Arbeiter*innen die früher starke „Kommunistische Partei Frankreichs“ gewählt, allerdings weniger aus einem Glauben an die Weltrevolution, sondern eher als eine Art ‚Vernunftkommunisten‘.
„Für Arbeiter und Leute aus armen Verhältnissen bestand das Linkssein vor allem darin, ganz pragmatisch das abzulehnen, worunter man im Alltag litt. Es ging um Protest, nicht um ein von globalen Perspektiven inspiriertes politisches Projekt.“
(Seite 38)
Doch die Wähler*innen der französischen Kommunist*innen wechseln zum extrem rechte „Front National“ (FN). Sie sind aber nicht offene, sondern eher verdeckte FN-Sympathisant*innen.
„Man könnte sagen, dass die Stimme für die Kommunisten eine positive Selbstaffirmation darstellt, die für den Front National eine negative. Der Bezug zu parteilichen Strukturen und Wortführern, zu einem kohärenten Parteiprogramm und zu dessen Übereinstimmung mit der eigenen Klassenidentität ist im ersten Fall sehr stark und sogar maßgeblich, im zweiten zweitrangig oder inexistent.“
(Seite 125)
Eribon erklärt sich die Hinwendung zum Nationalismus und Rassismus als Selbstaufwertung durch Abwertung „der Anderen“ und als eine „Art politischer Notwehr der unteren Schichten“

Gleichzeitig kritisiert er den „neokonservativen Diskurs der Linken“. Die linken Eliten hätten die Arbeiter*innen-Klasse verraten. Für sie und den Rest der Gesellschaft ist die Arbeiter*innen-Klasse zum Teil keine eigenständige Kategorie mehr.
Dabei ist die Arbeiterklasse nicht verschwunden. Sie ist nur zeitweise aus dem Diskurs verschwunden. Das Leugnen von Klassenkonflikten lässt diese jedoch noch lange nicht verschwinden.

Das Buch ist eine Mischung aus Autobiografie und soziologischen Essay. Manchmal ist es schade dass die Empirie fehlt. Dafür ist es gerade durch die persönlichen Bezüge des Autors spannend geschrieben und zeigt dass Wissenschaft erzählend und ganz und gar nicht trocken sein muss.

Didier Eribon: Rückkehr nach Reims, 2017.

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